Herr Rentsch, es wäre doch viel sinnvoller, wenn wir hier nicht über Anträge reden würden, die beschreiben, was die Landesregierung hier und dort tut, und in denen man sie bittet oder lobt oder sonst etwas, sondern Sie hätten das Thema Neckermann zum Thema eines Antrags hier im Landtag machen müssen. Ich glaube, die Menschen in diesem Land brauchen keine Regierung, die sich selbst lobt, sondern sie brauchen eine Regierung, die sieht, wo die Probleme liegen, und die sich um die Sorgen der Menschen kümmert.
Wir müssen auch über die Qualität der Arbeitsplätze in der Industrie sprechen. Auch in der Industrie werden die Arbeitsverhältnisse schlechter. Das sogenannte Normal
arbeitsverhältnis wird zurückgedrängt, insbesondere durch die Leiharbeit. Auch hier nimmt die Prekarisierung beängstigende Ausmaße an. Das merken nicht nur die Betroffenen, das merken vor allem auch die Sozialversicherungssysteme.
Wenn man Ihren Antrag liest, dann bekommt man den Eindruck, dass Sie den Arbeitsmarkt durch eine rosarote Brille oder nur aus der Sicht der Unternehmerverbände betrachten, dass Sie eben nicht mit den jungen Menschen reden, die gerade versuchen, einen Einstieg in das Berufsleben zu finden, aber nur Angebote von Leiharbeitsfirmen erhalten.
Herr Pentz, denen muss Ihre Initiative, jetzt verstärkt qualifizierte Arbeitskräfte aus den südeuropäischen Krisenstaaten anzuwerben, wie ein Schlag ins Gesicht erscheinen.
In Spanien wird gerade die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten vorangetrieben, und das mündet in eine Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %. Und dann laden Sie diese jungen, verzweifelten Menschen nach Deutschland ein: mit dem einzigen Ziel, dass die hier weiter die Löhne drücken.
Gleichzeitig ächzt in Deutschland das duale Ausbildungssystem, und die Hochschulen platzen aus allen Nähten. Statt aber das zu ändern, öffnen Sie der Wirtschaft das Tor zu den Bildungseinrichtungen, damit sie die Lehrpläne ausschließlich nach ihrem Bedarf gestalten kann. Genau darauf läuft doch Ihr ganzes „House of“-Konzept hinaus. Da werden Wissenschaftsdisziplinen passgenau für die Wirtschaft aus dem Boden gestampft. Das hat doch mit ganzheitlicher Bildung überhaupt nichts mehr zu tun.
Jetzt komme ich zur sozialen Marktwirtschaft. In Ihrem Antrag bemühen Sie einmal mehr Ludwig Erhard und die Konzepte der sozialen Marktwirtschaft. Schon heute Morgen haben wir mit unserem Antrag zum Ausdruck gebracht, dass wir der Losung Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ einiges abgewinnen können. Wenn Sie aber die Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft immer wieder als Kronzeugen für Ihre Politik heranziehen, dann sollten Sie sich auch ein bisschen mehr mit deren Ideen auseinandersetzen. Denn deren Ideen haben herzlich wenig mit dem zu tun, was Sie hier politisch voranbringen.
Alfred Müller-Armack, den die „Wirtschaftswoche“ als „geistigen Vater unserer Wirtschaftsordnung“ bezeichnet hat, schrieb beispielsweise im Rückblick auf die Erfahrung mit marktwirtschaftlicher Politik, die sich nicht um Gerechtigkeit schere, dass es ein folgenschwerer Fehler des wirtschaftlichen Liberalismus gewesen sei, die marktwirtschaftliche Verteilung schon schlechthin als sozial und politisch befriedigend anzusehen. Von ihm stammt auch das Zitat – jetzt erschrecken Sie nicht, liebe Kollegen von der FDP –:
Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt und die einlaufenden Beträge, etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen, Wohnungsbauzuschüssen, weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktwirtschaftlichen Eingriffs vor.
Die soziale Marktwirtschaft im Sinne Müller-Armacks kennt kein wie auch immer geartetes Primat der Ökonomie; Letzteres war für ihn Instrument und nicht Selbstzweck.
Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass sich MüllerArmack jegliche Hochstilisierung der Marktwirtschaft zum gesellschaftlichen Kult – wie Sie das gerne tun – verbittet. Ich darf ihn noch ein letztes Mal zitieren.
(Manfred Pentz (CDU): Das ist alles Ihr Wirtschaftssystem! – Gegenruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Ich verteidige doch gerade die soziale Marktwirtschaft gegen Sie. Ich weiß nicht, warum das in diesem Haus eigentlich ich tun muss. Ich würde das eher von Ihnen erwarten. Das ist traurig genug.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Ju- dith Lannert (CDU))
Sie ist nur ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel, aber auch nicht mehr. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zuzumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen.
Ich finde, das ist doch genau das Problem an Ihren Anträgen: dass Sie zwar die soziale Marktwirtschaft immer wie eine Monstranz vor sich hertragen, sie aber mit dem Inhalt Ihrer Politik überhaupt nichts zu tun hat. Wo ist denn die soziale Verantwortung in Ihrer Wirtschaftspolitik?
Im Übrigen war Müller-Armack auch der Überzeugung, eine konstruktive Wettbewerbspolitik habe dafür zu sorgen, dass Machtballungen und risikolose Gewinne unterbunden werden; wenn sie trotzdem anfallen, dann sollten sie von Staat abgeschöpft werden.
Herr Rentsch, Sie sagen jetzt: „Na klar“. – Dann frage ich Sie: Was unternimmt denn die FDP dazu, dass man vielleicht die Energiekonzerne zerschlägt? Wenn das keine Machtzusammenballung ist, dann weiß ich gar nicht, was eine Machtzusammenballung sein soll.
Bei risikolosen Gewinnen ist es genau das Gleiche: Ich glaube, es war Walter Eucken, der den Satz gesagt hat: „Wer den Nutzen hat, der muss auch den Schaden tragen.“ Da geht es genau um die Frage des Risikos. Welches Risiko trägt denn die Deutsche Bank? Welches Risiko tragen denn die Kreditinstitute – wenn sie im Zweifelsfall immer gerettet werden? Sie können die Gewinne einstreichen, aber am Ende wird der Steuerzahler für die Verluste herangezogen.
Ich will Sie auch daran erinnern: Ludwig Erhards Regierungszeit war eine Zeit, in der der Sozialstaat ganz massiv ausgebaut wurde – das Gegenteil von dem, was Sie hier in den letzten Jahren und Jahrzehnten machen.
(Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Hermann Schaus (DIE LINKE): Da gab es ganz andere Wachstumsraten!)
Da gab es andere Wachstumsraten, und vor allem gab es da andere Schulden. Auch das will ich einmal sagen. Den ganzen Staatsschulden, über die wir heute reden, dem Höchststand der Verschuldung ist doch nicht der Ausbau des Sozialstaats vorangegangen,
sondern ganz im Gegenteil der Abbau des Sozialstaats. Kein wirtschaftspolitisches Konzept hat so viele Schulden verursacht wie der Neoliberalismus, der Rückzug des Staates. In dieser Zeit sind diese großen Schulden entstanden, nicht aber zur Zeit des Ausbaus des Sozialstaats unter Ludwig Erhard.
aber ich habe schon den Eindruck, dass man Ludwig Erhard und seine Gefährten aus der ordoliberalen Schule ein Stück weit verteidigen muss, damit die nicht von Ihnen völlig verunglimpft werden.
Ich bin der Meinung: Wenn Sie auch nur in Ansätzen das umsetzen würden, was die Väter der sozialen Marktwirtschaft wollten, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Wissler. Das war eine Punktlandung. – Vonseiten der Landesregierung hat sich Herr Staatsminister Rentsch gemeldet. Bitte schön, Herr Minister Rentsch, Sie haben das Wort.
(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Problem ist, dass die FDP Karl-Hermann Flach und die CDU Müller-Armack noch nie gelesen hat!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Frau Präsidentin! Das ist eine interessante Debatte. Aber unsere Debatte hat sich heute mit dem Thema Industriepolitik zu beschäftigen. Es wäre schön gewesen, wenn sich vor allem Sozialdemokraten – von den GRÜNEN habe ich es wenig erwartet, auch von den LINKEN nicht – einmal mit der Frage beschäftigt hätten, was denn unsere Industrie eigentlich braucht, um in Deutschland zu bleiben und nicht abzuwandern.
Wissen Sie, das ist eine so wichtige Frage für den Standort in Hessen, für viele Arbeitsplätze und für viele Wirtschaftszweige. Ich denke an Kalle usw., an wirklich wichtige Unternehmen. Man muss darauf eine Antwort finden. Stattdessen haben Sie sich im Klein-Klein und in Allgemeinplätzen verloren. Da hätte ich von den Sozialdemokraten in Hessen auch wirklich mehr erwartet.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Auf sozialdemokratischer Seite gibt es in einigen Ländern in Deutschland die Idee, mit einer modernen Industriepolitik zu versuchen, den Problemen der nächsten Jahre entgegenzutreten.
Ja, Herr Kollege, hätten Sie doch heute etwas dazu gesagt. Dann hätten wir etwas von Ihnen lernen können.