Protokoll der Sitzung vom 27.02.2013

Wir sagen sehr klar: Wo Maßstäbe gesetzt werden, wo Regeln gesetzt werden, müssen sie auch kontrolliert werden. Amazon ist ein Paradebeispiel dafür, dass mit besserer Kontrolle solche Zustände verhindert werden können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt letztlich auch für Ihren Punkt 5, weil Sie dort nur den einen Teil der Entwicklung am Arbeitsmarkt beschreiben, den Beschäftigungsaufbau. Das ist schön und gut, aber das ändert nichts daran, dass wir gleichzeitig eine Reihe von Problemen am Arbeitsmarkt haben.

Zu denen will ich in meinem zweiten Teil kommen, auch in Anwesenheit einer Reihe von Betriebsräten, mit denen wir eben eine längere Runde hatten, im Übrigen nicht zum ersten Mal, weil wir mit Betriebsräten aus Hessen seit etwa zwei Jahren in regelmäßigen Abständen ins Gespräch kommen.

Das gilt beispielsweise für den Betriebsrat von Nestlé Waters, einer Firma aus dem Landkreis Limburg-Weilburg, die derzeit vor der Schließung steht, weil sich die Geschäftsleitung weigert, sich mit dem Thema Mehrwegverpackungen zu beschäftigen. Aufgrund der Lücken, die bestimmte Gesetze haben, tut sie alles dafür, dass die derzeitige Firmenstruktur kleingearbeitet wird, um die Ertragslage zu erhöhen, wobei etwa 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor dem Ende ihrer Beschäftigung stehen. Ich finde, dass das ein Thema ist, das uns angehen muss, auch wenn es eine sehr kleine Firma ist, allerdings eine ziemlich wichtige in Löhnberg.

Das gilt zweitens auch für den anwesenden Betriebsrat von Vodafone, einem Unternehmen, das im Moment uns als Landespolitik durchaus gemeinsam – das will ich ausdrücklich sagen – damit konfrontiert, dass man den Standort im Kern kleinarbeiten will. Im Übrigen ist das kein Unternehmen, das mit dem Rücken an der Wand steht. Vodafone hat im Moment einen ausgewiesenen Gewinn von 3,47 Milliarden € für das letzte Geschäftsjahr und will dennoch durch umfangreiche Personalmaßnahmen faktisch Personal abbauen.

Das gilt für den Betriebsrat von Infraserv, einem Unternehmen, das für uns in der Frage des industriellen Clusters in Frankfurt/Rhein-Main besonders wichtig ist und das im Moment damit konfrontiert ist aufgrund von unterschiedlichen Setzungen – das hat auf der einen Seite etwas mit dem Thema Energiewende zu tun, der Art und Weise, wie Sie auf dieser Seite des Hauses das Thema managen, aber auf der anderen Seite auch mit der Erwartungshaltung der Eigentümer –, dass eine erhebliche Anzahl von Beschäftigten abgebaut werden soll, einmal jenseits dieser Auseinandersetzungen um Leiharbeit und anderes mehr.

Das gilt aber auch – das sind Betriebsräte, die heute nicht da sind – für die Betriebsräte von HP, wo allen Beschäftigten in Rüsselsheim vor wenigen Tagen per E-Mail mitgeteilt wurde, dass ihr Standort vollständig aufgelöst wird.

(Wolfgang Decker (SPD): Unglaublich!)

Das betrifft auch die Commerzbank, deren Vorstände vor einem Dreivierteljahr ihre Vorstandsbezüge entdeckelt und gleichzeitig via Zeitungsinterview mehreren Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mitgeteilt haben, dass sie ihr Beschäftigungsverhältnis verlieren sollen. Letztlich betrifft es Unternehmen wie Opel, die derzeit aufgrund der europäischen Krise in erheblichen Schwierigkeiten sind.

All das sind konkrete Beispiele, und dabei habe ich noch nicht einmal über Neckermann, Schlecker, manroland, Teka und andere gesprochen, die uns jede Woche in Hessen beschäftigen.

(Minister Stefan Grüttner unterhält sich auf der Re- gierungsbank mit Abg. Hans-Christian Mick (FDP). – Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Die Regierung ist beschäftigt. Es ist gut, wenn sie auch einmal beschäftigt ist. – Ich warte auf Sie.

Ich würde bitten, sich so zu verhalten, dass man dem Redner folgen kann.

(Wortmeldung zur Geschäftsordnung des Abg. Gün- ter Rudolph (SPD) – Dr. Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Natürlich kann er sich unterhalten! – Gegenrufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Einen Moment. – Zur Geschäftsordnung hat sich Kollege Rudolph gemeldet. Bitte schön.

Herr Präsident, wir bitten, sicherzustellen, dass der Redner wie alle anderen Redner das Recht hat, zu reden, und dass man – auch die Regierung –, wenn man Gespräche führt, sie außerhalb des Plenarsaals führt und auf jeden Fall nicht in der Art, wie es Herr Sozialminister Grüttner zu tun scheint.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Er kann sich mit einem Abgeordneten unterhalten! Solange es nicht stört, kann er sich unterhalten!)

Herr Kollege Rudolph, ich habe darauf geachtet, dass dem Redner entsprechende Ruhe entgegengebracht wird. Herr Sozialminister Grüttner wird dem Redner jetzt folgen. – Das Wort haben Sie, Herr Schäfer-Gümbel.

Danke schön, Herr Präsident. Ich komme auch zum Ende.

Zunächst will ich noch einmal unterstreichen, dass es notwendig ist, die Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt endlich auch seitens der Landesregierung anzuerkennen. Dazu gehört auf der einen Seite, zu beschreiben, dass wir auf dem Arbeitsmarkt in der Tat eine erfolgreiche Entwicklung, aber gleichzeitig erhebliche Herausforderungen haben. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen, die im Moment massiv unter Druck stehen.

Deswegen bleibt es für uns so: Ordnung am Arbeitsmarkt ist das Gebot der Stunde. Dazu gehört der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ebenso wie die klare Regulierung der Leiharbeit und die Abschaffung sachgrundloser Befristungen, damit wir endlich wieder sichere und gut bezahlte Arbeit in Hessen haben, und zwar für alle Beschäftigten. – Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Schönen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel. – Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht jetzt Herr Klose. Bitte schön, Herr Klose, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Seit der Ausstrahlung der Dokumentation „Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon“ des Hessischen Rundfunks am 13. Februar kocht die Volksseele – zu Recht; denn eindrucksvoll hat der hr aufgezeigt, wie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter bei Amazon in Bad Hersfeld unter Vortäuschung falscher

Tatsachen ins Land geholt wurden, ihre Situation ausgenutzt wurde und wie sie überdies noch durch Angestellte eines Sicherheitsdienstes mit rechtsextremem Einschlag überwacht und drangsaliert wurden. Der Hessische Landtag muss deshalb heute ein deutliches Zeichen setzen, dass er solche Missstände nirgendwo in Hessen duldet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, die bei Amazon dokumentierten Vorgänge stehen leider exemplarisch für eine besorgniserregende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir GRÜNE fordern schon lange gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Mitbestimmungsrechte und vor allem effektive Kontrollen, die im vorliegenden Fall ganz offensichtlich nicht funktioniert haben.

Das allein reicht aber nicht. Immer mehr Firmen weichen auf Leiharbeit und in jüngerer Zeit auch zunehmend auf Werkverträge aus, um die Lohn- und Sozialkosten zu drücken. In den Unternehmen entsteht so eine Dreiklassengesellschaft aus Stammpersonal, Leiharbeitern und Werkvertragsbeschäftigten. Auch hier brauchen wir klare Regelungen. Vor allem aber muss der Trend zu immer mehr Befristungen gestoppt werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Amazon ist auch hierfür ein extremes Beispiel; denn beispielsweise im neuen Lager in Koblenz sind von den 3.300 Beschäftigten gerade einmal 200 unbefristet angestellt. 3.100 sind befristet angestellt. Auch das ist ein Skandal. Hier besteht dringender Handlungsbedarf des Gesetzgebers, und entsprechende Initiativen liegen dem Deutschen Bundestag vor.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, den Wettbewerb mit Billiglohnländern können wir nicht dadurch gewinnen, dass wir deren Arbeitsbedingungen hierher importieren. Dazu gehört auch, dass die Bundesagentur für Arbeit ihrer Aufsichtspflicht gegenüber den Leiharbeitsfirmen nachkommt. Die von Frau von der Leyen angeordnete Sonderprüfung war richtig, aber sie ist nur nötig geworden, weil die Kontrollmechanismen vorher nicht richtig gegriffen haben.

Dass die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter im Ausland mit dem Versprechen angeworben wurden, bei Amazon direkt angestellt zu werden, und dann, nach ihrer Ankunft, zu einem niedrigeren Stundensatz an eine Leiharbeitsfirma weitergereicht wurden, ist schlicht und einfach schäbig und darf von uns allen nicht hingenommen werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich glaube, die hr-Dokumentation hat vor allem deshalb eine so drastische Welle der Empörung ausgelöst, weil viele Menschen als frühere Kundinnen und Kunden selbst betroffen waren. Damit konfrontiert zu werden, unter welchen realen Bedingungen die praktischen Päckchen in Bad Hersfeld und anderswo gepackt werden, hat wütend gemacht, mich auch.

Denn die vermeintlich bequeme Onlinebestellerei hat eine Schattenseite, die beim örtlichen Einzelhändler unseres Vertrauens in aller Regel eben nicht verborgen bleiben kann. Genau diese persönliche Betroffenheit hat die Ver

braucherinnen und Verbraucher dann zu Konsequenzen greifen lassen. Erst dadurch ist öffentlicher Druck entstanden, der endlich auch Amazon bewegt hat. Deshalb steckt in dieser ganzen misslichen Sache auch eine positive Erfahrung: Der aufgeklärte Verbraucher ist willens und in der Lage, Veränderungen herbeizuführen. Er ist nicht ohnmächtig und ausgeliefert, und das ist gut so.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

Es genügt allerdings nicht, dass sich das Unternehmen jetzt von zweien seiner Dienstleister getrennt hat. Wir erwarten, dass Amazon Transparenz darüber herstellt, ob die Anwerbung der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer unter falschen Voraussetzungen von der Firma mitgetragen wurde, und auch aufklärt, ob die Sicherheitsfirma im Auftrag Amazons oder eigenmächtig so mit den Menschen umgesprungen ist, wie es die Dokumentation belegt.

Wir erwarten, dass Amazon erklärt, wie solche Zustände für die Zukunft, auch während der Hochsaisonphasen, ausgeschlossen werden. Amazon ist ein großer und wichtiger Arbeitgeber in Nordhessen. Hier hat er eine Vorbildfunktion, und der muss er anders als bisher nachkommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Amazon ist auch ein weiteres Beispiel dafür, dass dieses erschöpfte und verbrauchte Kabinett mit seiner Verantwortung für Hessen inzwischen völlig überfordert ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zurufe von der CDU: Ah! – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Textbausteine!)

Wirtschaftsminister Rentsch und Sozialminister Grüttner haben nach der Ausstrahlung der Sendung bekanntlich gebetsmühlenhaft erklärt, dass sie sich zur Causa Amazon nicht verhalten wollten; sie seien nämlich gar nicht zuständig.

(Minister Stefan Grüttner: Das stimmt gar nicht!)

Ausgerechnet die beiden Minister, denen sonst kein Thema zu einem Statement zu abseitig ist, wehren sich also mit Händen und Füßen dagegen, irgendeine formale Zuständigkeit zu haben. Und Ministerpräsident Bouffier, der Möchtegernkümmerer aller Hessen, ließ wissen, er wolle zwar die weitere Entwicklung beobachten, lege aber ansonsten ebenfalls allergrößten Wert auf die eigene Unzuständigkeit.

(Petra Fuhrmann (SPD): Auch der hört nicht zu!)

Meine Damen und Herren, diese Landesregierung hat leider die Rolle, die dem Staat im Wirtschaftsleben zukommt,

(Holger Bellino (CDU): Man muss nicht allem zuhören!)

nämlich auch für faire Arbeitsbedingungen zu sorgen, nie wahrgenommen – im Gegenteil. Wir erinnern uns alle mit Grauen an die verächtliche Haltung, die Minister Rentsch den ehemaligen Schlecker-Beschäftigten entgegengebracht hat. Ihre Wirtschaftspolitik kennt als Bezugsgröße nur materielle Werte.