Wir wissen, dass wir bei den europäischen Themen einen Hessenbezug finden müssen. Insofern war die Überschrift vielleicht gar nicht unklug gewählt.
Letzte Woche hatten wir eigentlich darauf gewettet, dass die Landesregierung, die sonst jede passende und unpassende Gelegenheit zu einer Regierungserklärung nutzt,
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon zum Anlass nimmt, uns in einer Regierungserklärung ihre Sicht der Dinge darzulegen.
Wir hätten die Wette verloren. Aber wenigstens im Rahmen einer Aktuellen Stunde kann der Vertrag von Lissabon politisch bewertet werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war schon eine seltsame Interessengemeinschaft, die vor das Bundesverfassungsgericht gezogen ist,
um den Vertrag von Lissabon zu kippen: auf der einen Seite Herr Gauweiler von der CSU, auf der anderen Seite die Bundestagsfraktion der LINKEN.
Es einte sie die Absicht, den Vertrag von Lissabon durch das Bundesverfassungsgericht zu Fall zu bringen. Dies ist zum Glück nicht erfolgt.
So haben das sogenannte Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und auch das das Grundgesetz ändernde Gesetz der Bewertung durch das oberste Verfassungsgericht standgehalten. Deshalb begrüßt unsere Fraktion diese Gerichtsentscheidung. Was nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist das sogenannte Begleitgesetz, soweit dem Bundesrat und dem Bundestag keine ausreichenden Beteiligungsrechte im europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren eingeräumt werden. Das ist noch zu heilen. Dass der Bundestag bis kurz vor Ende seiner Wahlzeit noch einmal die vom Verfassungsgericht monierten Defizite beseitigen, also nachsitzen muss, ist vielleicht für den einen oder anderen ärgerlich, aber nicht zu vermeiden, wenn man den Zeitplan, bis Ende des Jahres mit der Ratifizierung in allen Staaten durch zu sein, nicht gefährden will.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für uns in Hessen ist aber zweierlei wichtig. Erstens hat das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit definiert. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz die Option herleitet, dass Deutschland sich in eine internationale, insbesondere in eine europäische Friedensordnung einfügen kann.
Zweitens. Das ist für uns Parlamentarier von großer Bedeutung: Das Bundesverfassungsgericht hat in wesentlichen Politikbereichen, die Herr Kollege Krüger alle aufgeführt hat, einen Vorbehalt der parlamentarischen Entscheidung festgeschrieben. Es hat in der Tat ein Drehbuch hierfür definiert. „Parlament sticht Regierung in diesen Bereichen“, könnte man es, wie bei einem Kartenspiel verkürzt ausdrücken.
Daraus ergeben sich zwei Fragen. Muss nicht unter dem Eindruck dieser Bundesverfassungsgerichtsentscheidung das Gewichtsverhältnis zwischen Parlament und Regierung neu austariert werden, wenn es um europarelevante Themen geht?
Bezogen auf Hessen schließt sich eine zweite Frage an, wenn man die erste Frage positiv beantwortet: Wäre es unter dem Eindruck der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung nicht ratsam, noch einmal darüber nachzudenken, inwieweit der Hessische Landtag in einem noch größeren Maße in die europaspezifischen Dinge eingebunden wird,die sich zwischen Brüssel,Berlin und Wiesbaden abspielen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten in der nächsten Zeit sehr genau hinhören, was die Fachdiskussion uns hierzu an neuen Erkenntnissen bringt, damit wir sie in den Hessischen Landtag einfließen lassen können.
Ich gebe Herrn Krüger recht:Der 30.Juni dieses Jahres,an dem das Bundesverfassungsgericht zu dem Vertrag von Lissabon Stellung bezogen hat, war ein guter Tag für Europa, aber auch ein guter Tag für die parlamentarische Demokratie.Eigentlich wäre dieser Anlass vielleicht doch eine Regierungserklärung wert gewesen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Erst vor wenigen Wochen,kurz vor der Europawahl,haben wir hier in diesem Parlament nach einer kompetenten Regierungserklärung des Europaministers über das Thema Europa diskutiert. Fast alle Fraktionen waren von der Wichtigkeit und dem Vorteil der Europäischen Union für unser Land und vor allem auch für Hessen überzeugt.
Besonders deshalb haben wir uns über das europafreundliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 gefreut, mit dem das Verfassungsgericht die Möglichkeit eröffnet hat, den Vertrag von Lissabon zu ratifizieren. Das Urteil ist europafreundlich, weil das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass der Vertrag von Lissabon mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist, aber gleichzeitig verlangt hat, dass die deutschen und hessischen Interessen für die Zukunft gestärkt werden.
Eine europäische Integration auf der Grundlage des Vertrages ist also möglich, und wir streben politisch eine Ratifizierung und ein Inkrafttreten in allen europäischen Mitgliedstaaten an. Die Europäische Union braucht den Vertrag von Lissabon, um auch in Zukunft ein handlungsfähiger Akteur zu bleiben. Eine handlungsunfähige Europäische Union kann und will sich in Deutschland und in Hessen niemand vorstellen.
Mit dem Urteilsspruch werden darüber hinaus deutsche Interessen gestärkt. Das Verfassungsgericht stellt klar, dass das Begleitgesetz zum Zustimmungsgesetz überarbeitet werden muss. Dem nationalen Gesetzgebungsorgan müssen weitere, hinreichende Beteiligungsrechte eingeräumt werden. Die Bundesrepublik Deutschland bleibt also auch bei Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon eindeutig ein souveräner Staat. Die deutsche Staatsgewalt bleibt in ihrer Substanz besonders geschützt.
Mit dem Urteil ist sichergestellt, dass die Gemeinschaftsoder Unionsgewalt mit ihren Hoheitsakten nicht die Verfassungsidentität verletzt und nicht ersichtlich die eingeräumten Kompetenzen überschreitet. Das heißt im Klartext, die europäische Integration kann weiter nach dem Prinzip begrenzter Einzelermächtigungen erfolgen, aber die europäischen Instanzen haben keine Kompetenzkompetenz. Die Europäische Union kann also nicht selbstständig Aufgaben an sich ziehen.
Meine Damen und Herren, dies entspricht eindeutig unserer Vorstellung von Subsidiarität. Nur was wir hier vor Ort in Hessen und Deutschland nicht besser regeln kön
nen, das wollen wir auf die Europäische Union übertragen. Es ist sichergestellt, dass die Bundesrepublik die Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verliert. Dies stärkt die Politik in Deutschland und in Hessen, nimmt aber die Politiker und die Parteien auch in eine besondere Verantwortung.
Wir als CDU-Fraktion im Hessischen Landtag wollen gemeinsam mit der Landesregierung diese Verantwortung übernehmen und ihr nachkommen. Wir treten daher nachhaltig dafür ein, dass der Bundesrat und der Bundestag gegenüber der Bundesregierung in den Angelegenheiten der Europäischen Union gestärkt werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss vollumfänglich ausgeschöpft werden.
Wir treten daneben dafür ein, dass Bundesrat und Bundestag bei den Mitwirkungsrechten so weit wie möglich gleichgestellt werden. Dies stärkt die Bundesländer und fördert den Föderalismus in Deutschland und Europa. Am besten ist, die Neuregelungen stehen in Einklang mit den Mitwirkungsrechten der Länder bei der Bundesgesetzgebung. Für die Stärkung hessischer Interessen steht für die CDU-Fraktion fest, Bundesrat und Bundestag müssen bei der Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union weitaus enger zusammenarbeiten.
Wir fordern daher im Einklang mit unseren Kollegen im Bund ein zügiges Gesetzgebungsverfahren, das noch vor der Bundestagswahl abgeschlossen sein muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe ganz am Anfang davon gesprochen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch für die Zukunft wegweisend sein wird. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Stärkung deutscher und hessischer Interessen in Europa, sondern auch, weil das Verfassungsgericht festgestellt hat, dass das Europäische Parlament weder in seiner Zusammensetzung noch im jetzigen europäischen Kompetenzgefüge hinreichend gerüstet ist, repräsentative, also zurechenbare Mehrheitsentscheidungen zu treffen. Noch immer ist das Europäische Parlament nicht so organisiert, dass nach einem Regierungs- und Oppositionsschema Richtungsentscheidungen getroffen werden, die vom europäischen Wähler in einem politischen Wahlprozess entscheidend beeinflusst werden können.
Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat einmal mehr festgestellt, dass es auf europäischer Ebene ein deutliches Demokratiedefizit gibt. Hier sind alle politisch Verantwortlichen bei der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen gefragt.Wir brauchen mehr Demokratie in Europa als Grundlage für eine stärkere europäische Integration.Wir als CDU-Fraktion wollen mehr Demokratie in Europa.Wir wollen mehr Demokratie, um die Erfolgsgeschichte Europas als Ort des Friedens,der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit weiter fortschreiben zu können. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Osterburg. – Das Wort hat Herr Kollege van Ooyen von der Fraktion DIE LINKE.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Osterburg, wenn Sie die Demokratiedefizite vorher erkannt hätten, hätten wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht gebraucht.
Das Urteil von Karlsruhe war in jedem Fall zu erwarten. Zu Recht wird darin der Kerngehalt des Art. 23 des Grundgesetzes als Norm herangezogen, wonach die Bundesrepublik Souveränitätsrechte auf einen übergeordneten Staatenverbund übertragen kann – das finden wir gut –, ohne selbst auf staatliche Souveränität verzichten zu müssen.
Welche Implikationen die vom Bundesverfassungsgericht erlassenen Bedingungen für das Subsidiaritätsprinzip sowie die Gesetzgebung und Rechtsprechung des Bundes haben werden, bleibt dahingestellt. Die Friedensbewegung und DIE LINKE haben sich in ihrer Kritik am EUVerfassungsvertrag bzw. am Lissabon-Vertrag nie von juristischen Gesichtspunkten leiten lassen.Vielmehr lehnen wir den sogenannten Reformvertrag aus politischen Gründen ab. Dabei bleibt es auch.
Wenn FDP-, Unions-, SPD- und GRÜNEN-Politiker das Urteil bejubeln und meinen, damit sei jede Kritik am Lissabon-Vertrag hinfällig, lügen sie sich selbst in die Tasche und anderen die Hucke voll.
Man kann den Vertrag sehr wohl ablehnen, und zwar aus folgenden friedens- und demokratiepolitischen Gründen. Erstens ist der Lissabon-Vertrag zu 95 % identisch mit dem bei zwei Referenden gescheiterten EU-Verfassungsvertrag. Es ist demokratiepolitisch mehr als bedenklich, einen abgelehnten Vertrag unter einem neuen Label noch einmal ratifizieren zu lassen.