Protokoll der Sitzung vom 25.03.2010

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist offensichtlich eine der aufklärungsbedürftigen Fragen, wer nun eigentlich nach Hamburg fährt.Außerdem dachte ich, der Ausschuss fährt in die Emilia-Romagna. Aber wie dem auch immer sei, die andere aufklärungsbedürftige Frage, Herr Kollege Rock, ist, warum dieser Antrag heute auf der Tagesordnung stehen muss und warum – das finde ich jetzt echt überraschend – die mögliche Verabschiedung dieses Antrags ein guter Tag für die FDP sein soll.

(Beifall der Abg. Nancy Faeser (SPD) und Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die hat nicht mehr viel, Herr Kollege!)

Der Antrag besagt, dass die Koalition die Landesregierung bittet, eine Konzeption vorzulegen. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Die Koalitionsfraktionen bitten die Landesregierung, den Koalitionsvertrag umzusetzen. Das finde ich einen bemerkenswerten Vorgang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

Dass das ein guter Tag für die FDP ist, kann man so bewerten. Es würde aber ein bezeichnendes Licht auf die in

neren Zustände in der Koalition werfen und ein weiteres bezeichnendes Licht auf die Kindergartendebatte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Noch viel rätselhafter wird die ganze Geschichte, denn warum muss das heute sein, nachdem der Minister doch im Januar auf meine mündliche Frage, wo denn das Konzept bleibe, erklärt hat, dass es im Sommer komme. Offensichtlich ist der Minister dabei, dieses Konzept zu erarbeiten. Er war, was die Erfolgsaussichten angeht, in der Beantwortung meiner Frage sehr reserviert. Herr Minister, ich weiß, Sie legen sich nicht fest, was hypothetische Fragen angeht. Da haben Sie auch ganz recht, insbesondere haben Sie auch in dieser Frage recht, denn ich würde mich auch nicht darauf festlegen, dass das so eine dicke Erfolgsnummer wird.

Also, Herr Kollege Rock, warum Sie diesen Antrag heute in dieser Form vorgelegt haben, hat sich mir auch nach Ihrem Beitrag nicht erschlossen, es sei denn, es ist tatsächlich als Sedativum gemeint, nach der in der Tat etwas aufregenden Debatte vorhin in der Aktuellen Stunde.

(Beifall der Abg. Nancy Faeser (SPD) und Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Leif Blum (FDP): Mehr habt ihr auch nicht drauf!)

Meine Damen und Herren, ich will trotz alledem, damit könnte es eigentlich sein Bewenden haben,

(Leif Blum (FDP): Das ist ganz richtig!)

weil wir noch zweimal die Gelegenheit haben werden, darüber zu reden – –

(Anhaltende Zurufe des Abg. Leif Blum (FDP))

Ah, der Herr Blum, immer schneidig

(Leif Blum (FDP): Das ist ganz richtig!)

wie ein preußischer Ulanenoffizier und mindestens genauso intelligent. Das muss man Ihnen hier auch einmal sagen. – Nachdem hier wie in vorangegangenen Debatten wieder die „Weltmeisterschaft im Am-Thema-vorbeireden“ ausgerufen worden ist, gibt es jetzt ein paar Gründe, auch noch einmal etwas zur Sache selbst zu sagen,nämlich zu den Betreuungsgutscheinen. Dazu haben Sie nicht wirklich viel gesagt, Herr Kollege Rock, außer dass es da beim Besuch von Kindern in Betriebskindergärten vielleicht eine Erleichterung gäbe. – Das kann sein, das werden wir sehen. Ich finde, Sie hätten wie auch der Minister in der Tat Grund, zögerlich zu sein, was die Umsetzung dieses Projekts angeht, und zwar sowohl aus grundsätzlichen als auch praktischen Erwägungen.

Ich habe gestern in eine Studie des Bundesfamilienministeriums hineingeschaut. Was das angeht, ist es nicht unfreundlich, kommt aber in der Endabwägung bei der Betrachtung dessen, was es in diesem Sektor in Deutschland und weltweit gibt, zu einem eher reservierten Urteil. Das, was es in Deutschland an praktischen Erfahrungen gibt, gibt es eigentlich nur in Stadtstaaten. Es gibt praktisch keine Erfahrungen in einem Flächenland. Das hat natürlich auch Gründe, auf die ich später zu sprechen kommen werde.

(Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie viel Zeit hat der?)

Wir haben zehn Minuten Zeit.– Meine Damen und Herren, die Grundannahme ist, dass Kinderbetreuung im Grunde ein Markt wie jeder andere ist,wie vor allem auch eigentlich alle anderen öffentlichen Güter wie Gesundheit, Wohnen usw. Das ist sozusagen die harte theoretische Grundannahme dieses Antrags. Ich sage ausdrücklich, dass wir dies weder in der Theorie noch in der Praxis teilen. Dies ist ein Teil des neoliberalen Credos, von dem übrigens kein Mensch weiß, was daran eigentlich „neo“ ist.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Ich finde, dass das eigentlich aus dem liberalen Paläolithikum stammt, aber das ist noch einmal eine andere Frage. Erstens teilen wir diese Grundannahme also nicht. Zweitens glauben wir, dass ein Systemwechsel von der Objektauf die Subjektförderung in Kindertagesstätten nicht angezeigt ist.Es wäre,wenn man sich die familienpolitischen Leistungen in der Bundesrepublik einmal im Gesamtzusammenhang betrachtet und sie mit dem vergleicht,was in anderen Ländern der Fall ist, eher der umgekehrte Weg wünschenswert. Wir haben entschieden zu viel Objekt-/ Subjektförderung und entschieden zu wenig, was tatsächlich in die Institution der Kinderbetreuung und auch in die Institution des Kinderschutzes geht, über den wir gestern gesprochen haben.

Es wäre Zeit, dass hier eine Umlenkung in reale Institutionen stattfindet, in denen reale Betreuung, Förderung und Bildung von Kindern ankommen. Das kann man bei den Kindertagesstätten sicher machen,und es ist eine Formulierung, die Sie in Ihrem Antrag wählen, dass Sie sicherstellen wollen, dass die Förderung auch tatsächlich bei den Kindern ankommt.Natürlich kommt sie an – auch weil die Betriebskostenzuschüsse, die die Kommunen geben, und weil das Bisschen, das das Land gibt, doch über die Kindertagesstätten bei realen Kindern ankommen –, in realen Erziehungs-, Bildungs- und Förderungsprozessen. Es kann gar keine Rede davon sein, dass es an dieser Stelle einer Umstellung bedürfte. Ob es mit den Gutscheinen so viel besser würde, das ist eben die entscheidende Frage.

Wir glauben, dass das eben nicht der Fall sein würde. Wir glauben, dass die Förderung von Kindern, der Ausbau der Kinderbetreuungslandschaft und auch der Erhalt mancher Teile der Kinderbetreuungslandschaft viel stärker davon abhängen,dass es gelingt,für die Träger eine stabile und verlässliche Förderung zu signalisieren, damit diese vernünftig planen und auch sicher sein können, dass sie ihre Einrichtungen auch noch im nächsten und übernächsten und vielleicht auch noch in zehn Jahren aufrechterhalten können, und zwar auch in den Regionen, in denen es zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon schwierig wird, nämlich in den ländlichen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Herr Kollege Rock, das Beispiel, von dem Sie gesprochen haben: Ich verstehe die Sorgen von Müttern und Vätern sehr gut, die über weite Strecken pendeln müssen und die es lieber hätten, wenn ihr Kind in einem betriebsnahen Kindergarten oder einer betrieblichen Einrichtung wäre. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass das gerade in den ländlichen Räumen Probleme für die Aufrechterhaltung eines Betreuungsangebots machen kann. Also Vorsicht auch mit diesem Argument. Das hat eine Kehrseite, und das kann ziemlich nach hinten losgehen.

Wir bleiben dabei, dass der Kern für eine leistungsfähige Kinderbetreuungslandschaft eine verlässliche Betriebskostenbezuschussung für Träger und für Einrichtungen ist. Wenn Sie in dieser Beziehung etwas tun wollen, dann wäre es z. B. ein Beitrag, wenn Sie sich endlich einmal zu einer Klärung der Frage des Konnexitätsgebots im Zusammenhang mit den Mindestvoraussetzungen durchringen könnten. Das wäre ein praktischer Beitrag.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, es wird auch argumentiert, dass damit die Wahlmöglichkeiten der Eltern erhöht würden. Schauen wir uns die reale Situation an. Nehmen wir eine Stadt wie Gießen. Dort haben Sie im Moment zwischen 50 und 60 Einrichtungen. Da sind kommunale Einrichtungen dabei, da sind die Kirchengemeinden dabei, die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, das Diakonische Werk. Es sind jede Menge Elternvereine dabei. Es gibt Montessori-Ansätze, es gibt einen Walldorf-Kindergarten. Sie haben eine breite Vielfalt von Angeboten, und die konkurrieren schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt miteinander.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden das noch viel mehr unter der Bedingung tun, dass die Zahl der Kinder abnehmen wird. In Gießen wird das nicht der Fall sein, weil wir uns halten oder wachsen werden. Aber woanders wird es so sein, weil die Zahl der Kinder abnimmt.Der Effekt,den Sie jetzt verstärken wollen, den gibt es schon. Es gibt schon die Konkurrenz, es gibt auch das Streben nach möglichst hohen Qualitätsstandards,das man unterstützen kann.Da ist die MVO ein Weg.Aber durch die Betreuungsgutscheine wird an dieser Stelle nichts besser werden.

Ich sage Ihnen,es wird auch in den ländlichen Kommunen nichts besser werden, wo Sie vielleicht gerade einmal einen Kindergarten haben, wenn Sie noch einen haben. In den Flächengemeinden, in denen man heute schon in vielen Ortsteilen keine Kinderbetreuungseinrichtung mehr aufrechterhalten kann, wird Ihnen der Betreuungsgutschein nicht helfen. Da wird es schon gar nicht dazu kommen, dass mit den paar Betreuungsgutscheinen, die dann noch zusammenkommen, wenn die anderen schon in den betrieblichen Kindergärten sind, noch ein zweiter oder dritter Kindergarten aufmacht und damit eine reale Wahlmöglichkeit hergestellt wird. Da können Sie froh sein, wenn es überhaupt noch etwas gibt, wo man sein Kind hinschicken kann.An dieser Stelle wird nichts besser werden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Zum Schluss. Es gibt eine Reihe von praktischen Umsetzungsproblemen. Ich bin sehr gespannt, was der Minister nachher sagen wird. Noch viel gespannter bin ich darauf, wenn er im Sommer, wie angekündigt, tatsächlich ein Konzept vorlegen wird, wie er die rechtlichen und die tatsächlichen Fragen löst. Ich bin gespannt, welchen Jugendhilfeträger er findet, der mit ihm diesen Modellversuch macht; denn er selbst kann ihn gar nicht machen. Ich bin gespannt,welche Kommune sich auf solch ein Experiment mit solch ungewissem Eingang einlässt, noch dazu, wenn das Land weder eine rechtliche Handhabe hat noch eine finanzielle Karte in diesem Teil des Spiels hat.Ich bin ganz gespannt.

Herr Kollege, dann werden wir sehen, ob es ein freudiger Tag für die FDP gewesen ist. Viel schöner wäre es im Übrigen, es wäre ein freudiger Tag für die Kinder und Eltern.Aber daran sind leider Zweifel angebracht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Zu einer Kurzintervention hat Herr Abg. Blum das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Vortrag des Kollegen Merz wissen wir zumindest, dass die SPD überhaupt keine Freude mehr an der politischen Arbeit hat. Die Wahrheit ist doch – Herr Kollege Merz, das haben Sie in Ihrer doch sehr langatmigen Rede kein einziges Mal ausgeführt –, dass dieser Antrag einfach nicht in Ihr etatistisch geprägtes Weltbild passt.

(Beifall bei der FDP – Dr.Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): So ist es!)

Die Wahrheit ist, dass Sie es nicht verstehen können, dass irgendjemand mehr Vertrauen in die Menschen als in die Institutionen setzt.Das ist das größte Problem,das Sie mit diesem Antrag haben.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Sie haben Angst davor, dass, wenn ein solches Modell der Wahlfreiheit für Eltern kommt, die Kinder nicht mehr zur AWO gehen,sondern vielleicht anderswo betreut werden. Das ist Ihr großes Problem.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Wir setzen auf die Menschen.Wir vertrauen auf die Wahlmöglichkeiten und die Wahlfreiheit der Menschen und stellen nicht die Institutionen und die institutionelle Förderung in den Vordergrund. Deswegen ist es ein guter Tag nicht nur für die FDP, sondern auch für Familien und für Kinder in Hessen.

(Beifall bei der FDP und der CDU – Marcus Bock- let (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie machen doch nur einen Modellversuch! – Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war wieder eine sehr blumige Rede! – Petra Fuhrmann (SPD): Ohne Inhalt!)

Zur Erwiderung hat Herr Abg. Merz das Wort.

Herr Präsident,meine Damen und Herren! Das war keine blumige Rede, sondern es war einfach falsch. Herr Kollege Blum, ich weiß nicht, ob Sie Ihre eigenen Anträge nicht lesen. Die Wahrheit ist, dass dieser Antrag inhaltlich gar nichts sagt.

(Leif Blum (FDP):Wie Ihre Rede!)

Die Wahrheit ist, dass dieser Antrag sagt, die Landesregierung möge ein Konzept vorlegen. Die Wahrheit ist, dass von einem Konzept bisher noch nicht ein Schatten auf dem Tisch liegt. Ich bin, wie gesagt, sehr gespannt, ob, wenn es im Sommer vorliegen wird, dabei mehr als ein

Schatten herausgekommen sein wird. Herr Kollege, die Wahrheit ist, dass ich z. B. als Jugenddezernent die Verantwortung für über 50 Einrichtungen hatte. In dieser Zeit ist eine Reihe neuer Einrichtungen entstanden, und durchaus nicht nur bei der Arbeiterwohlfahrt. Die Wahrheit ist, dass wir in der Stadt Gießen den Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz eingeführt haben, bevor er im Gesetz stand.

(Leif Blum (FDP): Das hat nichts damit zu tun!)