Protokoll der Sitzung vom 28.09.2017

(Glockenzeichen des Präsidenten)

Die Frage: „Wie gehen wir mit Menschen um, die älter werden und Sorge haben, dass ihre Rente nicht sicher ist?“, stand in allen Programmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie gewollt hätten, hätten wir über all diese Themen reden können.

(Zuruf des Abg. Jan Schalauske (DIE LINKE))

Ich gebe zu, wir haben es zugelassen, dass über andere Themen geredet worden ist, bei denen ich dachte, dass wir dort schon einen sehr großen Schritt weiter sind. Wir haben es nämlich zugelassen, dass das Thema Flüchtlingspolitik wieder auf die Tagesordnung gelangt ist, obwohl wir deutliche Fortschritte erzielt haben. Der Ministerpräsident hat es eben zu Recht angesprochen. Herr Kollege SchäferGümbel, wir machen Ihnen doch nicht streitig, dass Sie dabei waren, als wir in diesem Land beide Aspekte in ein Programm und in Haushaltszahlen gegossen haben. Wir haben gesagt, wir wollen uns um deren Integration und das Lebensnotwendige kümmern, aber wir wollen und müssen auch all die Dinge tun, die notwendig sind, um den Spalt, den viele als Sorge gesehen haben, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das setzen wir gemeinsam um.

Angesichts dieses Hintergrundes stehen wir vor spannenden Zeiten. Ja, es wird spannend sein, wie wir mit einer möglichen Konstellation aus CDU/CSU, GRÜNEN und FDP umgehen. Da bin ich mit Blick auf die Debattenkultur auch hier im Hessischen Landtag schon sehr gespannt. Ich nehme mich selbst übrigens nicht aus der Kritik aus. Wir müssen seit Sonntag lernen, dass wir uns offen über die Form der politischen Auseinandersetzung unterhalten müssen. Wir, die CDU, gehen mit einem Wahlprogramm auf Bundes- oder Landesebene in eine Wahlkampfauseinandersetzung. Außer in Bayern gelingt es uns – mit einer erfreulichen Ausnahme 2003 in Hessen – nicht allzu häufig, die absolute Mehrheit zu holen und nach der Wahl sagen zu können: „Jetzt ist unser Wahlprogramm 1 : 1 das Regierungsprogramm“, wie wir es nach der Wahl 2003 gemacht haben.

In der Regel gehen Wahlen anders aus. Sie gehen nämlich so aus, dass wir Partner brauchen. Das wiederum bedeutet, dass Partner mit unterschiedlichen Programmen zusammenfinden müssen. Kollege Wagner hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Demokratie nicht heißt, dass man von vorneherein eine Konsensgesellschaft ist. Man ist eine Gesellschaft, die im Diskurs, im Dialog und auch im Streit miteinander um die beste Lösung ringt und sich in Kompromissen finden muss.

Das bedeutet aber auch, dass man Vorwürfe bekommt – da blicke ich in meine eigenen Reihen und in die Reihen der bürgerlichen Lager – wie beispielsweise den, CDU und CSU seien sozialdemokratisiert. Die FDP kam damit jede Woche um die Ecke. Das kann man ja machen.

(René Rock (FDP): Das stimmt ja auch!)

Es war seinerzeit, 2005, etwas schwierig, die SPD davon zu überzeugen, unser Wahlprogramm 1 : 1 zu übernehmen. Dafür sollten Sie als Koalitionäre an anderer Stelle eigentlich Verständnis haben. Das bedeutet dann auch, dass sozialdemokratische Inhalte in einer Großen Koalition ihren Platz haben.

Es wird unsere Mühe sein und aller Anstrengungen wert sein, dass wir, wenn wir gemeinsam regieren – wie hier in Hessen die CDU und die GRÜNEN –, den Menschen erklären, dass dieser Koalitionsvertrag ein Kompromiss ist, bei dem alle Beteiligten wesentliche Punkte ihrer Agenda umgesetzt haben, ohne dass die anderen Partner mit ihren Grundsätzen ein Problem bekommen. Am Ende müssen wir Politik machen, weil wir mit Wahlergebnissen verantwortlich umgehen müssen. Das haben wir in Hessen im Jahr 2013 getan. Viele sind bis heute überrascht, dass man auch so miteinander Politik machen kann.

Dafür benötigt man einen glasklaren Koalitionsvertrag. Mit dem Kompromiss muss man verantwortungsvoll umgehen und darf dabei trotzdem nicht vergessen, woher man politisch kommt. Es ist schwierig, nicht hin und wieder darauf hinzuweisen, dass man es anders machen würde, wenn man alleine regierte. Es ist aber notwendig, wenn man die Akzeptanz dieser Politik und dieser Form der Demokratie weiterhin aufrechterhalten will.

Ich will ein Letztes sagen. Was mich ein bisschen stört – Frau Kollegin Faeser ist gerade nicht da –

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Besuchergruppe!)

ist okay, Sie können es ihr ja weitersagen –, war die Aussage in der Pressekonferenz der SPD am Montag: Wir haben verstanden. – Jetzt, wo Sie sich für die Oppositionsrolle entschieden haben, können Sie leicht sagen: Wir haben verstanden, wir gehen in die Opposition. – Dieses Schicksal wäre Ihnen möglicherweise ohnedies zuteilgeworden.

Wir haben gesagt, dass wir wieder regieren und Verantwortung übernehmen wollen. Daraus darf man aber nicht schließen, dass CDU/CSU keine Verantwortung für dieses Wahlergebnis übernehmen, dieses Wählervotum ignorieren und sagen: Weiter so. – Das stimmt nicht.

Das sagt übrigens auch die Bundeskanzlerin nicht. Die Bundeskanzlerin sagt zu Recht – das war in meinem ersten Beitrag mein Vorwurf an Sie und an Ihren Spitzenkandidaten –: Wir haben im Prinzip das Wesentliche in unserem Land richtig gemacht. – Ja, logisch. Was denn sonst, wieso haben wir denn ein solches Ergebnis, dass es den meisten

Menschen in unserem Land gut geht? Das erkennen auch Sie an.

Daraus zu schließen, wir seien ignorant und verstünden das Votum derjenigen nicht, die extreme populistische Parteien gewählt haben, ist ein bisschen zu kurz gesprungen und auch ungerecht. Herr Schäfer-Gümbel, auf die Spitze treibt es Ihr Vizekollege, Herr Stegner, der sagt: Jetzt soll Frau Merkel die Suppe auslöffeln, die sie uns eingebrockt hat. – Das ist offensichtlich eine tolle Art von Partnerschaft in den letzten vier Jahren gewesen. Beide Parteien haben die Suppe gemeinsam angerührt. Wenn es am Ende nicht so war, wie es sich manche erhofft hatten, weist man dem anderen die ausschließliche Verantwortlichkeit zu. Das finde ich nicht in Ordnung.

Ich will ein Letztes sagen, da bin ich bei uns allen persönlich. Ich höre in den letzten Tagen ganz viele, die sagen, wir müssten jetzt endlich den Menschen einmal zuhören, wir müssten auf die Menschen hören und auf sie zugehen. Ich sage das für mich selbstbewusst, und ich glaube, die meisten würden das auch für sich reklamieren: Ich bin nicht bereit, mir den Vorwurf gefallen zu lassen, als hätten wir das bis zum Sonntag nicht gemacht.

(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich bin nicht bereit, den Vorwurf anzunehmen, wir gehörten zum Establishment. Meine sehr geehrten Damen und Herren, schauen Sie sich im Hessischen Landtag um. Hier sitzen Menschen, die aus der Kommunalpolitik kommen. Hier sitzen Menschen, die aus dem Ehrenamt kommen. Hier sitzen Menschen, dazu gehöre ich, die eigentlich auch etwas anderes machen könnten. Als selbstständiger Unternehmer haben mir manche Freunde die Frage gestellt, warum ich neben meinem Job als Unternehmer noch ein solches Mandat annehme. – Ich will dafür nicht gefeiert werden, ich habe mich dafür entschieden und mache das sogar gern. Was ich aber nicht akzeptiere, ist, dass ich seit dem Tag, seit dem ich dem Hessischen Landtag angehöre, zur Persona non grata erklärt worden bin. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das lasse ich mir nicht gefallen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Kollege Boddenberg, Sie müssen zum Schluss kommen.

Wir sollten diesem Vorwurf mit Selbstbewusstsein begegnen. Das ist auch ein Signal dieser Tage. Das soll nicht heißen, dass wir nicht verstanden haben, was der Wähler wollte. Darüber haben wir gesprochen, und darüber werden wir noch viel reden. Ein paar grundsätzliche Dinge müssen wir aber hin und wieder auch geradebiegen. – Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Kollege Boddenberg. – Bevor wir in der Debatte fortfahren, begrüße ich auf der Tribüne unseren lang

jährigen Kollegen Volker Hoff. Er ist in der letzten Woche 60 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch, alles Gute, Glück auf.

(Allgemeiner Beifall)

Jetzt geht es weiter. Das Wort hat Herr Kollege René Rock, Fraktionsvorsitzender der FDP, aus Seligenstadt.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Aus dem Fortlauf der Debatte, wie wir ihn jetzt erlebt haben, sehe ich mich aufgerufen, noch ein bisschen Konsens hereinzubringen.

Ich wollte nicht einzelne Fraktionen oder Parteien in die Verantwortung nehmen. Das ist vielleicht etwas zu zugespitzt gewesen. Jede Partei, jede Fraktion hat jetzt ihre Aufgaben. Alle werden jetzt in den Gremien und in den Runden, in denen sie zusammenkommen, überlegen, wie mit der Situation umzugehen ist. Dabei wird man das Land im Blick haben, ein bisschen wird man dabei auch seine Partei im Blick haben, und ich hoffe, dass man auch den Blick auf die Gesellschaft finden wird.

Dieser Blick ist deshalb wichtig, weil es schon Gräben in unserer Gesellschaft gibt – das habe ich aus dem Wahlkampf mitgenommen. Die Gräben kann man nicht ignorieren. Wenn man für viele Jahre für eine Politik in unserem Land stand und ein solches Ergebnis bekommt, wie Angela Merkel und ihre Regierung das jetzt nach einer freien und geheimen Wahl als Botschaft bekommen haben, ist es gerade für die, die besondere Verantwortung tragen, in besonderer Weise angesagt, sich zu hinterfragen.

(Beifall bei der FDP)

Man sollte seinen Politikstil und seine Kommunikation hinterfragen. Das sollte jede Partei tun, insbesondere gilt es aber für diejenigen, die in der Verantwortung standen und das Land regiert haben.

Kollege Thorsten Schäfer-Gümbel, den wir aus dem Hessischen Landtag kennen, der stellvertretender Bundesvorsitzender seiner Partei ist, oder Volker Bouffier, der stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU ist, oder Nicola Beer, die wir als Generalsekretärin der FDP nach Berlin geschickt haben – das sind alles Menschen, die jetzt in Berlin große Verantwortung tragen. Sie werden dort ein Stück weit die Dinge mitentscheiden und mitlenken.

Deswegen ist es wichtig, dass wir in dem Ton, mit dem wir uns auseinandersetzen, gemäßigt bleiben. Herr SchäferGümbel, da sind Sie jemand, der Maßstäbe setzt, in der Art, wie Sie auftreten. Es ist auch wichtig, zu überlegen, wie man in Berlin auftritt und intoniert. Vielleicht sollten wir uns eine Pause von den roten Linien und Gefechten nehmen.

Wir haben einen beschlossenen Bundeshaushalt. Wir kennen diese Zeit selbst aus dem Ypsilanti-Jahr. Wir haben die Zeit. Vielleicht brauchen wir Parteien diese Zeit und sollten die Dinge nicht übers Knie brechen. Vielleicht sollten wir uns auch etwas zurücknehmen. Wir werden eine geschäftsführende Bundesregierung haben und haben einen gewählten Bundestag. Dieses Land wird regiert werden. Dieses Land kann im Bundestag Gesetze beschließen.

Es wird im Deutschen Bundestag eine muntere Debatte geben, eine kontroverse und inhaltliche Debatte. Es wird

nicht im Kanzleramt beschlossen werden, was der Bundestag abwinken muss. Wir werden eine lebendige Demokratie in der Auseinandersetzung in Berlin haben.

Ich will einmal die positiven Dinge hervorkehren.

(Beifall bei der FDP)

Wenn diese lebendige Demokratie, die sich Zeit nehmen kann, dann vielleicht auch mit anderem Führungspersonal und vielleicht auch mit neuen Köpfen und neuen Ideen mit Respekt miteinander umgeht und dann zueinanderfindet, wird das vielleicht auch eine stabile Basis für eine Regierung für die weiteren Jahre geben.

Aber man sollte jetzt die Parteien, die dort in der Debatte stehen und die sich jetzt vielleicht in die Verantwortung gezwungen fühlen, auch nicht überfordern. Darum: In der Ruhe liegt die Kraft. Das ist normalerweise nicht meine These. Ich habe sie hier auch nicht oft vertreten. Aber in dieser schwierigen Situation wäre es, so glaube ich, gut, ein bisschen Druck herauszunehmen, sich zu besinnen, sich zu finden und dann, wenn man das gemacht hat, gestärkt voranzugehen.

Darum müssen wir auch überlegen – und das ist in dem einen oder anderen Redebeitrag hier auch herausgekommen –: Ein bisschen den Medien die Verantwortung zuzuschieben und ein bisschen die Themen verantwortlich zu machen ist nicht das Richtige. Ich glaube, wir müssen einfach aus diesem Wahlkampf lernen: Wir als Politik bestimmen die Themen nicht.

Die Themen, die die Bürger interessieren, bestimmen die Bürger. Wenn wir den Bürgern für die Themen, die sie interessieren, keine politische Plattform geben, auf der wir die kontroversen Einstellungen diskutieren, dann werden sie emotional wählen und werden vielleicht irgendwelchen Versprechungen hinterherlaufen oder einfach dagegen sein, wie es momentan läuft. Darum ist es ganz wichtig, dass wir auch überlegen, ob wir strukturell einen Weg finden, wie das nicht mehr passieren kann. Wenn die Bürger ein Thema haben, sollte dies auch automatisch hier im Hessischen Landtag oder im Deutschen Bundestag zu einem Thema werden.

Herr Boddenberg, Ihre Lebensleistung und Ihre persönliche Situation respektiere ich absolut. Aber ich glaube schon, dass es bei vielen Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl gab, dass die Politik nicht mehr an ihren wirklichen Befürchtungen und Interessen entlang diskutiert. Ob das stimmt, kann jeder für sich bewerten. Aber das Gefühl bei den Bürgerinnen und Bürgern ist das, was ich aus dem Wahlkampf auch ein Stück weit mitgenommen habe.

Wir müssen das auch hinterfragen. Wir haben ja eine Verfassungsdiskussion im Hessischen Landtag, bzw. wir werden eine bekommen. Wir haben eine interessante Debatte in einer Enquetekommission, die zu dem Thema schon einmal unterwegs war. Vielleicht muss man auch noch einmal überlegen, welche Möglichkeiten und Überlegungen wir für eine moderne Verfassung im 21. Jahrhundert brauchen, um solchen Entwicklungen, die jetzt nicht zum ersten Mal in Deutschland stattgefunden haben, zu begegnen.

Wir haben Helmut Kohl erlebt – eine sehr verdiente Persönlichkeit, die viel für unser Land getan hat. Dessen letzte vier Regierungsjahre waren aber vielleicht nicht seine stärksten. Vielleicht sollte man – unser Vorschlag liegt ja auf dem Tisch – die Amtszeiten bei solchen ganz herausragenden Positionen begrenzen, damit Parteien lebendig blei

ben. Das geht jetzt nicht persönlich gegen irgendwelche Anwesenden.

Das ist einfach eine strukturelle Frage. Wie können wir unsere Demokratie aus den Erfahrungen der 70 Jahre Parlamentarismus, für den ich stehe und den ich auch für richtig halte, verbessern? – Ich möchte keine Direktwahl. Ich möchte nicht, dass wir in Deutschland uns einen Erdogan, einen Putin oder einen Trump einfangen können, indem eben aus einer Stimmung heraus Menschen vielleicht in Positionen kommen, in der sie einer Demokratie nachhaltigen Schaden bringen. Darum ist es gut, dass wir eine repräsentative Demokratie haben.

(Beifall bei der FDP)