Protokoll der Sitzung vom 21.06.2018

Ich rufe Tagesordnungspunkt 70 auf:

Antrag der Fraktion der SPD betreffend eine Aktuelle Stunde (Maßnahmenpaket gegen Landarztmangel statt schwarz-grüner Untätigkeit in Hessen) – Drucks. 19/ 6559 –

Das Wort hat Frau Kollegin Dr. Sommer.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich frage Sie: Wie alt ist Ihr Hausarzt? Mussten Sie sich in letzter Zeit einen neuen Hausarzt suchen? Wollten Sie einmal zum Quartalsende zu Ihrem Arzt? Waren Sie schon einmal darauf angewiesen, dass Ihr Hausarzt zu Ihnen nach Hause kommt?

Sie wissen, dass das durchschnittliche Alter der Ärzte in Hessen bei 54 Jahren liegt? Die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte geht in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Viele suchen schon jetzt einen Nachfolger. Doch es ist kein Nachfolger in Sicht – so beispielsweise in Rüsselsheim, im Odenwald, in Offenbach, in Limburg, in Usingen und in der Wetterau, um nur einige Standorte zu nennen. 70 Land- und Hausärzte könnten dort zurzeit nicht ersetzt werden, so die „Frankfurter Neue Presse“ in einem Artikel aus dem letzten Monat.

Sie wollen sich einen neuen Hausarzt suchen? – Keine Chance. Kaum eine Praxis nimmt noch neue Patienten auf. Am Quartalsende schließen viele Praxen, da das Budget aufgebraucht ist. Wohin mit der Erkrankung? Nach Hause kann der Arzt nicht kommen, weil ihm bei zu vielen Hausbesuchen Regressansprüche drohen – so z. B. in Gilserberg und in Lichtenfels geschehen. Wartelisten, Engpässe und Nachfolgeprobleme: In Hessen ist es fünf nach zwölf.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LIN- KEN)

Das gilt umso mehr, als die Ausbildung zum Arzt zwölf bis 14 Jahre dauert. Gerade auf dem Land werden die Hausärzte knapp. Eine Unterversorgung droht.

Gründe für die fehlende Nachbesetzung der Praxen sind schlechte Rahmenbedingungen, mancherorts eine mangelnde Attraktivität der Umgebung, mancherorts unattraktive und ältere Praxen, der Work-Life-Balance-Anspruch, wenige Teilzeitangebote, fehlende Betreuungsmöglichkeiten sowie eine nicht angepasste Honorarsystematik.

Schwarz-Grün reagiert bisher nur mit Ankündigungen. Die schwarz-grüne Untätigkeit bedeutet: keine Struktur, keine Strategie, kein Plan, nur singuläre Projekte.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LIN- KEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Sie springen auf vorbildliche Projekte von Kreisen, Städten und Gemeinden auf: auf das Projekt Gemeindeschwester – die Gemeindeschwester kann aber keinen Landarzt ersetzen –, die Gesundheitszentren, die Weiterbildungsverbünde, die Landarztpartie usw. Sie haben aber keine eigenen innovativen Ansätze. Minister Grüttner will keine Landarztquote, schafft aber auch nicht die Möglichkeit, ein flächendeckendes Landarztstipendium zu absolvieren, wie es in manchen Kreisen schon erfolgreich erprobt wird.

Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Studienplätze im Fach Medizin. Wir fordern – gemeinsam mit der KV – 10 % mehr Plätze.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Der Ärztetag hat 6.250 zusätzliche Studienplätze für ganz Deutschland gefordert. In anderen Bundesländern geht man mit neuen Fakultäten oder Zweigfakultäten voran. Man möchte mehr Praxisanteile im Studium und der Allgemeinmedizin wieder mehr Bedeutung schenken.

Wir brauchen bessere Rahmen- und Arbeitsbedingungen. Die Ärztinnen und Ärzte müssen von Bürokratie entlastet werden. Studierende sagen zu mir: „Frau Sommer, wir haben doch nicht BWL studiert.“ Das heißt, wir müssen Unterstützung und entsprechende Hilfen bei der Praxis- und Betriebsführung leisten. Außerdem müssen Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten und zusätzliche Möglichkeiten der Anstellung geschaffen werden. Darüber hinaus müssen wir uns über die Vergütung unterhalten. Ein Hausarzt muss eine attraktive, lukrative Vergütung bekommen. Dazu gehört auch die Honorierung von ärztlichen Hausbesuchen und des Arbeitens im ländlichen Raum.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Und schließlich benötigen wir dringend eine Bedarfsplanung und kleinere Versorgungsbereiche, um den Versorgungsbedarf zum Zwecke der Zuweisung von Arztsitzen besser und bedarfsgerechter abbilden zu können.

Meine Damen und Herren, das sind 14 Vorschläge. Sie könnten verzahnt werden und würden den Hausarztberuf attraktiver machen. Sie entsprechen vor allen Dingen den Vorstellungen der jungen Studierenden, die in Zukunft unsere Ärzte und Ärztinnen sein werden.

Packen Sie es an. Wir brauchen ein stringentes Maßnahmenpaket gegen den Landarztmangel statt schwarz-grüner Untätigkeit. Mit uns wird es ein solches stringentes Paket gegen den Landarztmangel geben, und ich hoffe, wir haben Sie dann an unserer Seite.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Vielen Dank, Kollegin Dr. Sommer. – Das Wort hat Frau Abg. Schott, Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Kollegin Sommer hat gerade eindrücklich die Situation beschrieben, die in unserem Land leider herrscht.

Wir alle wissen, warum es so ist, wie es ist. Die Landesregierung will an bestimmten Stellen die Dinge aber gar nicht so genau wissen, will lieber nicht erkunden, wie die Situation aussieht. Das tut sie mit dem Hinweis darauf, die Verantwortung liege bei der Kassenärztlichen Vereinigung. Sie glaubt, damit sei sie die Verantwortung los. Damit macht sich die Landesregierung auf unvertretbare Art und Weise einen schlanken Fuß; denn sie trägt die Gesamtverordnung. Es ist ja nicht so, dass die Kassenärztliche Vereinigung in den letzten Jahren, Monaten und Wochen gesagt hat: Landesregierung, halte dich bitte heraus, das ist unsere Aufgabe. – Im Gegenteil, sie läuft dieser Landesregierung hinterher und sagt: Wir müssen zusammenarbeiten, wir brauchen Unterstützung, das Problem ist sonst nicht mehr zu lösen. – Aber die Landesregierung duckt sich weg.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Sie wissen aber ganz genau um die Ängste der Menschen. Mit diesen Ängsten spielt der Ministerpräsident dann auf übelste Art und Weise.

(Zurufe von der CDU)

Wenn Sie, Herr Ministerpräsident, sich auf dem Hessentag in einem vollen Zelt vor Vertreter des VdK stellen und sagen, in Hessen bekomme jeder Arzt, der sich auf dem Land ansiedle, 60.000 €, dann können Sie froh sein, dass es eine kleine Holzfigur ist, der eine lange Nase wächst, und nicht Ihnen.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Es ist doch unfassbar, dass Sie sich mit fremden Federn schmücken.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kriegen sie das Geld, oder kriegen sie es nicht?)

Es gibt eine Ansiedlungsförderung, aber nicht für jeden Arzt, der sich auf dem Land niederlässt. Die Förderung wird auch nicht von der Landesregierung gezahlt, sondern von den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung. Herr Ministerpräsident, Sie spielen ganz bewusst mit Emotionen. Das ist unseriös, um es einmal ganz milde auszudrücken.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Die entscheidende Größe, die Frau Dr. Sommer gerade genannt hat, ist das Durchschnittsalter der Ärzte. „Durchschnittsalter“ bedeutet aber: Round about 30 % der Ärzte in diesem Land sind über 60 Jahre alt; ein gerüttelt Maß ist sogar über 70 Jahre alt, und sie arbeiten immer noch. Alle diese Ärztinnen und Ärzte haben längst einen Anspruch darauf, in den Ruhestand zu gehen. Sie tun das nicht aus

eigener Verantwortung. Sie tragen die Verantwortung, die die Landesregierung nicht zu tragen bereit ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen Ärzte. Dass wir auch mehr Studienplätze brauchen, ist jedem längst klar. Dass Medizinstudienplätze teuer sind, ist kein Geheimnis. Dann muss man aber schauen, wie man das hinbekommt; denn das ist etwas ganz Elementares. Hier geht es um die Gesundheit der Menschen und nicht um irgendetwas anderes.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt sagen Sie nicht, es seien genug Studienplätze da, und die Ärzte würden weggehen, weil es woanders spannender wäre oder weil es woanders mehr Geld zu verdienen gäbe – oder was auch immer. Es gibt eine Längsschnittstudie der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen.

(Zuruf des Abg. Daniel May (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Sie sollten nur dazwischenrufen, wenn Sie etwas vom Thema verstehen.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos) – Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was soll denn das? – Zurufe von der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Das hat genauso viel Qualität wie die Zwischenrufe. Ich rede gerade.

(Zuruf von der CDU: Oh! – Unruhe – Glockenzei- chen des Präsidenten)

Es gibt eine Längsschnittstudie der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, die für diese Republik ziemlich einmalig ist und genau beschreibt, was die Bedürfnisse der Studierenden sind, wenn sie anfangen, zu studieren. Sie beschreibt, was sie für Berufspläne haben, was sie am Ende des Studiums machen wollen und ob sie in diesem Beruf auch bleiben.

Der Löwenanteil der Medizinstudierenden in unserem Land studiert, um anschießend als Arzt zu arbeiten, an ein Krankenhaus zu gehen oder sich niederzulassen. Das ist in den letzten Jahren deutlich nachgewiesen worden. Das heißt, wenn wir in Medizinstudienplätze investieren, haben wir den unmittelbaren Benefit, wenn diese Studierenden ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Wenn man sie dann noch fördert, indem man für sie Anreize schafft, aufs Land zu gehen – z. B. durch Stipendien, durch wirtschaftliche Unterstützung und durch Vereinbarungen, die man vor Ort trifft –, haben wir eine gute Chance, das Problem wenigstens anzugehen. Von Lösungen sind wir immer noch weit entfernt.

Stattdessen legt diese Landesregierung die Hände in den Schoß, schmückt sich mit Federn, die ihr nicht gehören, und verweigert die Zusammenarbeit mit der KV. Sie entwickelt nicht die notwendigen Schritte, die es brauchen würde, um eine vernünftige Lösung herbeizuführen. Das ist fahrlässig.

(Clemens Reif (CDU): Wo leben Sie eigentlich?)

Ich lebe in diesem Land. Das tun Sie auch. Versuchen Sie einmal, ohne Ihren Abgeordnetenausweis, und ohne

vorher zu sagen, wer Sie sind, eine Beratung bei einem Arzt zu bekommen. Versuchen Sie einfach, irgendwo auf dem Land einen regulären Termin zu bekommen.