Protokoll der Sitzung vom 19.05.2016

Ich würde gerne enden mit dem Zitat des Armutsforschers Christoph Butterwegge:

Entweder sind Staat und Gesellschaft bereit, erheblich mehr Geld auszugeben, oder die Kluft zwischen Arm und Reich wird sich drastisch vertiefen. Betreibt die Bundesregierung

hier können wir die Hessische Landesregierung durchaus mitnehmen –

weiterhin Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung, gefährdet sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Frau Schott. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Rock das Wort.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Frau Schott, es macht mich immer wieder fassungslos, wenn ich Sie am Mikrofon erlebe und höre, was Sie erzählen. Das macht mich fassungslos.

(Beifall bei der FDP, der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Beschreibung unseres Landes, die Sie hier vortragen, ist einfach nicht deckungsgleich mit der Realität, Frau Schott. Wir sind hier nicht in einer sterbenden DDR, und wir sind auch nicht in Venezuela. Wir sind in der Bundesrepublik Deutschland, die einen seit 70 Jahren gewachsenen Sozialstaat hat.

(Beifall bei der FDP, der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Seit 70 Jahren betreiben in diesem Parlament, aber auch in anderen deutschen Parlamenten, Fraktionen verantwortungsvoll Politik, um einen Sozialstaat zu entwickeln. Natürlich gibt es immer wieder Herausforderungen, die gemeistert werden müssen. Natürlich werden wir nie eine bis in den letzten Punkt gerechte Gesellschaft erreichen. Wir müssen immer daran arbeiten, eine gerechte Gesellschaft zu erreichen. Es wird immer Kritikpunkte geben. Aber das, was Sie hier veranstaltet haben, wird unserem Land nicht gerecht.

(Beifall bei der FDP, der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zurück zum Antrag. Als ich diesen Antrag gesehen habe, musste ich feststellen, es handelt sich um Aufzählungen von Projekten und von Handlungen, aber ohne einen inneren Zusammenhang. Es ist eine Aufzählung, in der einfach wichtige Bereiche fehlen.

Herr Kollege Merz hat darauf hingewiesen, es fehlt der gesamte Gesundheitsbereich, es fehlt die Frage der Integration als eigener Bestandteil einer Politik. Das, was Sie hier aufgeführt haben, ist ein Dokument, in dem deutlich wird, wo Stillstand in dieser Landesregierung herrscht und wo wir selbst Rückschritte feststellen können.

(Beifall bei der FDP)

Ich nehme es gleich noch vorweg: Die zwei grünen Farbtupfer, die hier in der Landespolitik festzustellen sind, die zwei symbolpolitischen Aktionen, die Sie jetzt in drei Jahren zuwege gebracht haben, das sind erstens die 20 Millionen € im sogenannten Sozialbudget, bei dem verschiedene Haushaltsstellen, die früher woanders waren, jetzt in dem Projekt „Sozialbudget“ zusammengefasst worden sind. 20 Millionen € obendrauf, das heißt 3 € pro Bürger in Hessen – das ist sozusagen Ihr grünes Tüpfelchen in der Sozialpolitik, Ihr Footprint in der Sozialpolitik in Hessen. Zweitens dieses Symbolthema „Arbeitsmarkt“, das Herrn Bocklet ja sehr am Herzen liegt, bei dem ich allerdings keine flächendeckenden Auswirkungen feststellen kann.

Zu dem, was Sie hier ansonsten an Projekten aufzählen: Ich sehe den Kollegen Banzer als ehemaligen Minister hier sitzen, beispielsweise die Zusammenfügung der Arbeitsmarktprojekte zu Arbeitsmarktbudgets ist noch unter seiner Ägide eingeleitet worden. – Das ist Politik, die ist zwei Regierungen her, für die Sie sich hier loben.

(Beifall bei der FDP)

Wenn ich mir die anderen Projekte ansehe, stelle ich fest, es sind solche von Dorothea Henzler oder Nicola Beer, das Sozialbudget, die 105-prozentige Lehrerversorgung. Darüber haben wir heute schon diskutiert. Was machen Sie denn? Sie bauen die Finanzierung der Schulen nicht aus, sondern Sie versuchen, die 105-prozentige Lehrerversorgung durch die Hintertür wieder abzuschaffen und für irgendwelche anderen Projekte zu verwenden.

(Beifall bei der FDP)

Herr Merz ist auf das Familienzentrum eingegangen: 12.500 € oder 18.000 € Unterstützung pro Projekt, das eine Kommune entwickelt hat – das haben wir alle gemeinsam beschlossen, das haben wir 2008 in einem einstimmigen Antrag im Landtag beschlossen. Die schwarz-gelbe Landesregierung hat es damals auf den Weg gebracht, Sie haben es fortgeführt, hurra. Das ist tatsächlich die innovative Sozialpolitik, die Sie hier beschreiben. Ich kann Ihnen nur ins Stammbuch schreiben: Nehmen Sie Ihren Antrag ernst, und nehmen Sie ihn als Handlungsaufforderung für das, was Sie nicht tun in diesem Land. Was tun Sie nicht, was müssten Sie tun? Dazu nenne ich Ihnen ganz klar den frühkindlichen Bereich.

(Beifall bei der FDP)

Eigentlich bin ich fassungslos, dass diese Landesregierung in diesem Bereich nicht den Weg fortsetzt, den sie einmal eingeschlagen hat, und hier nicht einen Investitionsschwerpunkt sieht, mit dem sie Veränderungen bzw. eine Verbes

serung der Situation vorantreiben will. Wir können immer noch über die Strukturen sprechen, aber dadurch, dass sich die GRÜNEN dem schwarz-grünen Projekt angeschlossen haben, sind diese für das Kinderförderungsgesetz wohl dauerhaft gefestigt. Die Frage ist nun, wie man es ausfinanziert und wie man es optimiert. Wie nimmt man die Kritik aus der Bildungs- und Betreuungslandschaft ernst, und was führen wir dort fort? Kein Wort dazu, wie etwa: „Wir haben uns getroffen, wir haben Gespräche mit den Verbänden geführt.“ Wo sind Ihre Vorschläge, hier weiterzukommen? Wo sind Ihre Vorschläge, in der frühkindlichen Bildung endlich wieder einen Schritt nach vorne zu machen? Jede Legislaturperiode müssen wir hier ein Stückchen besser werden. Das ist eine Herausforderung, der Sie sich nicht stellen.

(Beifall bei der FDP)

Wenn ich dann noch feststelle, dass es bei Projekten einfach heißt, man habe sie evaluiert, der Minister oder man persönlich sei vor Ort gewesen, habe sich die Kindertagesstätten und die Grundschulen angeschaut, die im Rahmen der qualifizierten Schulvorbereitung zusammengearbeitet hätten, und überall habe es Zustimmung gegeben, alle Einrichtungen, alle Grundschulen hätten es super gefunden: Warum wird dieses Projekt nicht weiterverfolgt? Warum wird es nicht über Hessen ausgerollt? Hier gibt es einfache Möglichkeiten, die Qualität vor Ort nicht unbedingt mit 100 Millionen €, aber vielleicht mit 20, 30 oder 40 Millionen € zu verbessern. Warum tun Sie das nicht? Warum lassen Sie diese Lebenschancen für junge Menschen in unserem Land verstreichen?

Damit sind wir ein bisschen in der Gerechtigkeitsdebatte. Natürlich geht es in der Sozialpolitik immer um Chancengerechtigkeit. Wir wissen alle, dass wir keine gleichen Startchancen erzeugen können. Wir können gleiche Rahmenbedingungen erzeugen, und wir können versuchen, Chancengerechtigkeit auf den Weg zu bringen. Es leuchtet mir aber nicht ein, wie Chancengerechtigkeit ohne Investitionen in frühkindliche Bildung funktionieren soll. Wenn Sie Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft fördern wollen, müssen Sie auch in diesem Bereich aktiv werden. Dazu erwarten wir noch immer eine Initiative, dass Sie hier mehr tun oder zumindest die Kritik aus der Landschaft aufnehmen und an den Kritikpunkten, die wir alle kennen, ein bisschen etwas tun und wenigstens einen symbolischen Schritt weiterkommen. Aber gar nichts zu tun und sich dafür zu loben, was in der letzten Legislaturperiode gemacht worden ist, das ist an diesem Punkt schon reichlich dünn.

(Beifall bei der FDP)

Natürlich nehmen Sie das Thema Betreuung auf. Sie nehmen das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf. Aber, Herr Bocklet, wenn man Sie an Ihren eigenen Ansprüchen messen möchte,

(Zuruf von der FDP: Lieber nicht!)

verweise ich einmal auf die letzte Legislaturperiode. Jeder, der in der letzten Legislaturperiode diesem Landtag angehört und Ihren Reden gelauscht hat, weiß, wie Sie Herrn Minister Grüttner versprochen und allen, die es hören oder nicht hören wollten, jedes Mal vorgerechnet haben: Ihr werdet den gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen, ihr werdet es nicht schaffen, ich rechne es euch in jeder Sitzung des Sozialausschusses vor. – Es ist geschafft worden. Aber wo sind die Investitionsprogramme, um es fortzusetzen, wei

terzumachen und es besser zu machen? Wo ist Ihr Engagement, Herr Bocklet?

(Beifall bei der FDP)

Wo ist Ihr Engagement in dem Bereich, das Sie noch in der Opposition hatten? Es ist gleich null, nichts, weg, gar nichts. Das sind einfach die Fragen, die man sich stellen muss, dass man, wenn man in eine Regierung eintritt, zumindest zeitweise an dem gemessen wird, was man zuvor einmal gesagt hat, Herr Bocklet. Da haben Sie leider nichts zu liefern. Dass die Union ihre Politik hier konsequent weiter vertritt, dass sie auch auf die guten Taten anderer Legislaturperioden hinweist, weil sie hier dauerregiert und es ihr deswegen egal sein kann, ob sie allein oder mit uns oder mit den GRÜNEN regiert, vielleicht das nächste Mal mit der SPD, ist nicht weiter verwunderlich. Die sagen natürlich: Wir haben in den letzten 15 Jahren gute Politik gemacht, das wird konsequent fortgesetzt. Dafür wollen wir auch in unserem Antrag wunderbar gelobt werden. – Das kann ich ja noch nachvollziehen.

Aber für eine Fraktion wie die GRÜNEN, die hier große Reden geschwungen und die immer wieder auf angebliche Missstände hingewiesen hat, hier mit zwei grünen Farbtupferchen in der hessischen Sozialpolitik in einem Finanzumfang von vielleicht 30 Millionen € zu kommen – das ist ein bisschen dünn, Herr Bocklet. Da erwarte ich einfach auf der Zielgeraden der Legislaturperiode, dass Sie sich noch einmal reinhängen, sich an Ihren eigenen Vorgaben oder zumindest an den Leistungen der Vorgängerregierungen messen, dann wird es vielleicht noch was. Aber das hier ist deutlich zu wenig. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Danke, Herr Rock. – Ihre Meldung kommt ein bisschen spät. Aber für eine Kurzintervention erteilte ich Herrn Bocklet das Wort.

Herr Rock, ich kann verstehen, dass man zu jedem einzelnen Punkt in der hessischen Sozialpolitik eine andere Position entwickeln kann. Was ich aber bei Ihnen und bei Herrn Merz überhaupt nicht verstehe, ist, dass Ihnen komplett der Instinkt abhandengekommen ist, in welcher gesellschaftlichen Situation wir uns gerade befinden.

(Lachen des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Wir haben versucht, das in unserem Antrag wiederzugeben – man muss es nicht nur lesen, sondern auch verstehen können –, in einer Situation, in der draußen im Lande darüber diskutiert wird, wie stark der gesellschaftliche Zusammenhalt noch ist, in der Gruppen gegeneinander ausgespielt werden und Rechtspopulisten sagen: „Für die habt ihr Geld, aber nicht für uns.“ Wenn wir in einer solchen Situation nur in einem Auszug – es ist nur ein Auszug einer Zwischenbilanz – dokumentieren, dass wir etwas für Langzeitarbeitslose tun, für Jugendliche, für die Familien, mehr für den Wohnungsbau tun, uns um alle Menschen kümmern, die den Sozialstaat benötigen, und nicht nur um Einzelne, und zwar mit einem umfangreichen Programm, dann kann man natürlich sagen: Ich hätte an dieser Stelle gerne noch ein bisschen mehr und hier auch.

Auch auf das Kinderförderungsgesetz können wir gern zu sprechen kommen. Dazu haben wir eine Evaluation beschlossen, da steht die Nachsteuerung noch aus, das ist doch überhaupt kein Thema. Wir könnten auch bei dem Bonusprogramm sagen, dass wir noch ein bisschen mehr machen. Wir könnten auch sagen, dass wir bei dem einen oder anderen Punkt der Langzeitarbeitslosigkeit draufsatteln. Aber wenn in einer solchen Situation, in der draußen die eine Gruppe gegen die andere ausgespielt und diskutiert wird, CDU und GRÜNE dokumentieren, dass eine Fülle von Maßnahmen ergriffen wurde, um keinen Menschen zurückzulassen, und wir eine Sozialpolitik für alle Menschen machen, dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihr Beitrag an Kleinkariertheit nicht mehr zu überbieten ist. Das müssen wir in dieser Stunde einmal feststellen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke, Herr Bocklet. – Herr Rock, wollen Sie darauf antworten?

(René Rock (FDP): Selbstverständlich!)

Auch zwei Minuten Redezeit.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Herr Bocklet, das war jetzt wieder die übliche grüne Bescheidenheit: Wenn Sie nicht mehr weiter wissen, kommen Sie mit einem solchen Meta-Argument. Wir alle wissen, dass wir uns in einer schwierigen sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Diskussion befinden. Wir alle wollen nicht demnächst neben der CDU zwei Reihen AfD sitzen sehen. Natürlich wissen wir das.

(Zuruf der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Aber deshalb sind Sie nicht davon entbunden, die Mindestanforderungen von Sozialpolitik umzusetzen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Wenn hier jemand immer nahe an der Instinktlosigkeit agiert, Herr Bocklet, dann schauen Sie einmal bitte in den Spiegel.

(Zuruf der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))