Protokoll der Sitzung vom 15.09.2016

Dennoch bleiben Fragen. Ich habe mir die Mühe gemacht, im Gesetzestext des Bundesintegrationsgesetzes nachzuschauen. In der Erläuterung dazu ist zu lesen:

Auch wer einen schnelleren Einstieg in Arbeit nehmen will, erhält dafür mit dem Integrationsgesetz neue Chancen. Die Vorrangprüfung wird befristet für drei Jahre bei Asylbewerbern und Geduldeten ausgesetzt und damit auch die Tätigkeit in Leiharbeit ermöglicht.

Da steht nichts von einer Befristung. Da steht nichts von drei Monaten. Womöglich habe ich da etwas nicht verstanden. Die Vorrangprüfung wird ausgesetzt. Unter einer Prämisse kann sie nach wie vor gelten: Wenn die Arbeitsmarktsituation vor Ort so wäre, dass dadurch andere deutlich abgehängt wären, dann würde die Vorrangprüfung dort gelten. Ansonsten gilt sie nach meiner Interpretation des Gesetzestextes als ausgesetzt für drei Jahre.

Ein zweiter Punkt ist eine zweite Frage, die sich für mich damit verbindet. Im gleichen Zusammenhang heißt es:

Die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit wird ohne Vorrangprüfung erteilt.

So lese ich das im Rahmen des Bundesintegrationsgesetzes. Herr Minister, vielleicht können Sie die beiden Fragen gleich Ihrerseits erläutern.

Der Bundesrat hat schließlich am 07.07.2016 dieses Gesetz beschlossen, das durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemeinsam mit dem Bundesministerium des Innern eingebracht und vom Bundeskabinett beschlossen worden war und den Bundestag passiert hat. Mit dem Gesetz beschlossen wurden auch solche Dinge, die wir im Gesetz nicht geregelt haben, die aber in einer Verordnung stehen. Das sind konkret drei Punkte. In dieser Verordnung steht auch noch einmal: Kerninhalt der Verordnung ist ein auf drei Jahre befristeter Verzicht auf die Vorrangprüfung in Agenturbezirken, die von Bundesländern selbst benannt werden sollen. – Meine Eingangsbemerkung: Das ist richtig und wichtig, was die Regelung angeht. Aber meine Frage, nach dem, was ich hier lese, ist: Warum sind es bei uns noch drei Monate, wenn der Gesetzestext es erlaubt, sie ganz aufzugeben? Das wäre eine Erläuterung dazu wert.

Ansonsten gilt das, was ich am Anfang gesagt habe. Ich muss nicht zu den Dingen, die im Antrag stehen und die wir hier bisher rauf und runter diskutiert haben, das Ganze meinerseits noch einmal wiederholen. Herr Minister, das sind ein paar mehr Fragen als Antworten. Ich hoffe aber, dass Sie auf diese Fragen eine Antwort haben.

(Beifall bei der SPD)

Danke, Herr Roth. – Für DIE LINKE erteile ich der Fraktionsvorsitzenden Frau Wissler das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Weltweit sind Menschen auf der Flucht vor Krieg, Elend und Verfolgung. Viele dieser Flüchtlinge leben über Jahre hinweg in überfüllten Flüchtlingslagern in der Türkei oder im Libanon – ohne Schulen für ihre Kinder, ohne Arbeit, ohne eine Perspektive. Viele dieser Flüchtlinge steigen in ihrer Not und ihrer Verzweiflung auf unsichere Boote. Immer mehr Menschen ertrinken im Mittelmeer, weil ihnen die legale Einreise nach Europa versperrt ist. Ich finde, das ist eine Schande.

(Beifall bei der LINKEN)

Deutschland ist eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt und trägt zudem Mitverantwortung für viele Konflikte auf der Welt. Menschen in Not muss geholfen werden. Sie dürfen nicht abgewiesen werden. Das Asylrecht ist ein Grundrecht. Es darf nicht weiter beschnitten werden. Das kennt auch keine Obergrenze.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach ihrer beschwerlichen und oft lebensgefährlichen Flucht brauchen die Menschen hier eine Perspektive. Dazu gehört unbedingt auch der Zugang zum Arbeitsmarkt, über den wir heute reden. Leider ist das bisher mit erheblichen Hindernissen verbunden – insbesondere dann, wenn der Asylantrag noch nicht anerkannt wurde. Bisher galt faktisch ein Arbeitsverbot.

Dabei ist es unbestritten wichtig, dass die Menschen Perspektiven haben. Für einen Menschen, der in Deutschland neu ist, ist es sehr schwer, überhaupt einen Job zu finden. Sprachhindernisse stehen im Weg, fehlende und nicht anerkannte Qualifikationen, leider aber eben auch Vorbehalte.

Ich will nur sagen, dass so etwas wie die Wohnsitzauflage, die jetzt unter anderem in Baden-Württemberg geplant ist, die Integration in den Arbeitsmarkt weiter erschweren wird.

Wenn tatsächlich jemand eine Aussicht auf einen Job hat, dann muss er, bevor er anfangen kann, bei der Ausländerbehörde eine Arbeitserlaubnis beantragen. Diese gibt den Vorgang an die Arbeitsagentur weiter, die die heute diskutierte Vorrangprüfung durchführt. Die Arbeitsagentur kann dann sogenannte „bevorrechtigte Arbeitnehmer“ aus ihrer Kartei benennen, und der Arbeitgeber muss dann begründen, warum diese Kandidatinnen und Kandidaten nicht geeignet sind. Erst dann signalisiert die Arbeitsagentur der Ausländerbehörde, dass die Arbeitserlaubnis für diesen Job erteilt werden darf. Dieser Vorgang kann sich über Wochen, gar über Monate hinziehen. Das ist nicht nur eine lange Verzögerung für die betroffenen Menschen, sondern das ist eben auch eine bürokratische Hürde, die in der Praxis dazu führt, dass ein noch so wohlwollender potenzieller Arbeitgeber abgeschreckt wird. In der Praxis hat sich gezeigt, dass diese Vorrangprüfung nichts anderes als eine

Hürde sowie eine unnötige Schikane ist. Deswegen ist es richtig, dass sie abgeschafft wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Damit werden Menschen vom Arbeitsmarkt abgehalten. Sie werden ausgebremst und drohen in der Schwarzarbeit zu landen. Deshalb kann die Bundesagentur für Arbeit seit dem Sommer auf die Vorrangprüfung in einzelnen Regionen verzichten. In ganz Hessen macht sie davon mittlerweile Gebrauch. Das ist gut. Das hat jetzt mit der Landesregierung nicht allzu viel zu tun, wie es der Antrag suggeriert. Aber es ist trotzdem gut und wichtig, dass das so durchgesetzt wurde.

Aber die Arbeitsbedingungen müssen auf jeden Fall weiter kontrolliert werden; denn es wird vor allem kontrolliert, ob die Entlohnung deutlich schlechter ist als üblich oder kein Mindestlohn gezahlt wird. Ich will darauf hinweisen, weil in dem Antrag auch die Unternehmen erwähnt sind, dass es auch hier, ähnlich wie bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen, vor allem kleine und mittlere Unternehmen sind, die Flüchtlinge eingestellt haben. In den 30 DAX-Konzernen wurden bisher – die Zahl stammt von gestern – sage und schreibe 63 Flüchtlinge eingestellt.

Auf gar keinen Fall aber dürfen die Migranten und die schon länger hier Arbeit Suchenden gegeneinander ausgespielt werden, indem Asylbewerber und Geduldete als Lohndrücker eingesetzt werden. Auch die immer noch sogenannten Ein-Euro-Jobs sind keine akzeptable Alternative zu einer fair bezahlten und erfüllenden Beschäftigung. Sie geben keine Perspektive, und sie geben keine Würde. Dass Andrea Nahles als Bundesarbeitsministerin jetzt 80-CentJobs für Flüchtlinge plant, halte ich für ein Armutszeugnis.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein großes Hemmnis für die Integration in den Arbeitsmarkt sind auch fehlende Anerkennungen von Qualifikationen. Das hat vielfältige Gründe: Diplome und Urkunden sind auf der Flucht verloren gegangen oder werden nicht anerkannt. In vielen Herkunftsländern gibt es auch kein so formalisiertes Ausbildungsverfahren wie in Deutschland. Deshalb ist es wichtig, auch die Qualifikationen von Zuwanderern zu erfassen und anzuerkennen, damit diese Qualifikationen eben auch genutzt werden können.

Es besteht auch ein dringender Verbesserungsbedarf bei den Beratungsstellen, die die Menschen neben allen weiteren wichtigen Aufgaben, wie der psychosozialen Betreuung, durch den Behördendschungel auf dem Weg zu einer Arbeit begleiten. Hier sind wir von einer flächendeckenden Versorgung noch weit entfernt. Ich finde, ehrlich gesagt, das sind so Punkte, wo sich die CSU mit ihren täglich neuen Vorschlägen einmal austoben könnte, statt das gesellschaftliche Klima immer weiter zu vergiften.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das macht Frau Wagenknecht leider auch!)

Ich will noch einmal deutlich machen: Die schwarz-grüne Koalition lobt sich für Fortschritte bei der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig kommen aus Teilen der Unionsparteien – Herr Bocklet hat dies auch angesprochen –, vor allem aus Bayern, immer schrillere Querschüsse. Eine solche Stimmungsmache ist eine schwere Bürde und zerstört die Willkommenskultur und die Integrationsbemühungen in der Gesellschaft und seitens der Zuwanderer. Das schürt Ängste und Misstrauen, und am Ende stärkt es die AfD.

(Michael Boddenberg (CDU): Und jetzt kommt Frau Wagenknecht!)

Vor allem Teile der Union folgen der irrigen Annahme, man könne der AfD das Wasser abgraben, indem man ihre Forderungen und Parolen übernimmt. Damit schwächt man die AfD aber nicht, man stärkt und ermutigt sie. Im Zweifel wählen die Menschen dann eben doch das Original, das haben die vergangenen Wahlen allesamt gezeigt. Ich finde, dieses Ausmaß an Erfahrungsresistenz, insbesondere bei der CSU, ist wirklich erschreckend. Bei der Europawahl 2014 lautete die Kampagne der CSU:

Wer betrügt, der fliegt.

Das Ergebnis war: Die CSU verlor 8 %, die AfD gewann 8 %. Danach stellte der ausgeschiedene CSU-Europaabgeordnete Posselt fest:

Man soll nie versuchen, das Stinktier zu überstinken.

Bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz versuchte sich die CDU-Kandidatin Julia Klöckner bundesweit zu profilieren, indem sie die Begrenzung der Zuwanderung und den Umgang mit dem Islam ins Zentrum stellte. Das Ergebnis: Die AfD erreichte über 12 %; die CDU verlor.

Zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: CDU-Ministerpräsident Haseloff forderte im Wahlkampf Obergrenzen für Flüchtlinge; die AfD war am Ende wieder der Gewinner mit 24 %.

(Michael Boddenberg (CDU): Jetzt kommt aber noch Sahra Wagenknecht! Die Liste ist noch nicht vollständig!)

Und zuletzt die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern: CDU-Innenminister Caffier fordert mit anderen Innenministern der Union die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft und ein Burkaverbot. Den ganzen Sommer über führen Innenminister der Union eine Geisterdebatte über doppelte Staatsbürgerschaft, Burka und angeblich mangelndes Nationalbewusstsein. Und wer kann von dieser Themensetzung und diesem Schüren von Ängsten wieder profitieren? – Es ist die AfD. Die kann sich für die Wahlkampfunterstützung, insbesondere bei der CSU, nur herzlich bedanken.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, indem andere Parteien die Parolen der AfD übernehmen und deren Forderungen teilweise in Gesetze gießen, wird die AfD aufgewertet und legitimiert. Beatrix von Storch hat vor Kurzem gesagt, der AfD sei es gelungen, aus der außerparlamentarischen Opposition heraus die Politik zu verändern. – Dazu muss man sagen: Leider hat sie recht. Das Asylrecht hat in den letzten Jahren mehrfach eine Verschärfung erfahren. Die AfD bestimmt faktisch weite Teile der politischen Agenda. Das kann sie aber nur, weil andere Parteien darauf aufspringen, und zwar in allererster Linie die CSU, die genauso weitermacht wie vorher. Die Seehofers, die Söders, die Scheuers bereiten den Resonanzboden für die AfD. Sie haben gerade wieder ein Papier vorgelegt; die „Süddeutsche Zeitung“ hat es als ein „AfD-Nachplapperpapier“ bezeichnet. In diesem machen sie weitere Vorschläge, die nur dazu dienen, das Klima weiter zu vergiften.

Es ist notwendig, über die echten Herausforderungen zu sprechen, statt weiter Ängste und Vorurteile zu schüren. Menschen mit niedrigem Einkommen dürfen nicht gegen Flüchtlinge ausgespielt werden. Wir brauchen mehr sozia

len Wohnungsbau, damit die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt nicht noch größer wird. Wir brauchen ein ausreichendes Angebot an Deutschkursen – auch für Menschen mit vermeintlich schlechter Bleibeperspektive. Wir brauchen Regeln auf dem Arbeitsmarkt, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützen und Lohndumping verhindern. Flüchtlinge müssen auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt unterstützt und nicht gegen die schon länger hier lebenden Menschen ausgespielt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wichtigste ist aber doch das gesellschaftliche Klima, auf das Zuwanderer hier treffen. Vorurteile, Rassismus, stellenweise gar Gewalt und Bedrohungen sind leider für viele Zuwanderer Alltag. Dazu kommt, dass ihnen mit Gesetzen wie dem sogenannten Integrationsgesetz, das die Große Koalition beschlossen hat, oftmals pauschal „Unwille zur Integration“ unterstellt wird. Zuwanderern werden Sanktionen angedroht, wenn sie keinen Deutschkurs besuchen. Dabei ist die Nachfrage nach Deutschkursen noch immer viel größer als das Angebot. Ganze Flüchtlingsgruppen sind davon faktisch ausgeschlossen, unter anderem Flüchtlinge aus Afghanistan.

Kommen Sie zum Schluss, Frau Wissler?

Ich komme zum Schluss und will enden. – Der Hessische Rundfunk hat vor Kurzem einen sehr hörenswerten Beitrag über einen kanadischen Autor namens Doug Saunders gemacht, der untersucht hat, wie Städte die Ankunft von Einwanderern unterstützen können. Er hat sich dabei die ideale Ankunftsstadt angeschaut und kommt zu dem Schluss, Integration von oben funktioniere nicht. Entscheidend sei, dass man die Selbstintegration der Migranten nicht behindere. Er sagt auch:

Man sollte Migranten nicht als Leute ansehen, denen man Integration von oben verordnen muss, sondern als Menschen, die sich von sich selbst aus integrieren wollen und dafür die nötigen Ressourcen brauchen.

In diesem Sinne sollte man diese Ressourcen bereitstellen und Zuwanderer keinem Pauschalverdacht aussetzen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Frau Wissler. – Ich erteile unserem Wirtschaftsminister, Herrn Staatsminister Al-Wazir, das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte eigentlich anders anfangen, aber ich fange jetzt einmal mit Ihnen an, Frau Kollegin Wissler. Es ist ausdrücklich richtig, was Doug Saunders mit seinen „Arrival Cities“ beschreibt.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja, z. B. Offenbach!)