Protokoll der Sitzung vom 15.09.2016

Zweite Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD für ein Erstes Gesetz zur Förderung von Chancengleichheit in der frühkindlichen Bildung (Kitagebüh- ren-Freistellungsgesetz) – Drucks. 19/3734 zu Drucks. 19/3067 –

Ich bitte als Erstes Frau Abg. Wiesmann um die Berichterstattung.

Die Beschlussempfehlung lautet wie folgt: Der Sozial- und Integrationspolitische Ausschuss empfiehlt dem Plenum mit den Stimmen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE gegen die Stimmen von SPD und FDP, den Gesetzentwurf in zweiter Lesung abzulehnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Danke, Frau Wiesmann. – Wir treten in die zweite Lesung ein. Die vereinbarte Redezeit beträgt zehn Minuten. Als Erster hat sich Herr Merz für die SPD-Fraktion gemeldet.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Sie haben es gehört, die Mehrheit des Hauses wird den Vorschlag der SPD, die Gebührenfreiheit für die Betreuung, Bildung und Erziehung in Kindertagesstätten auch auf das vorletzte, das zweite Kindergartenjahr auszudehnen, ablehnen. Ich kann Ihnen von dieser Stelle aus erklären: Dies wird nicht das Ende der Debatte sein. Die Debatte fängt heute erst richtig an.

(Beifall bei der SPD – Minister Stefan Grüttner: Wie schön!)

Ich möchte Ihnen einen kleinen Einblick geben, worum es hier geht. – Sie freuen sich schon? Ich mich auch. Wir werden noch viel Spaß aneinander haben, Herr Minister.

(Minister Stefan Grüttner: Wie immer!)

Ja, wie immer.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Lenken Sie mich nicht ab, Herr Boddenberg. Ich will jetzt gerade etwas aus der „Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen“ vortragen. – Die Bürgermeister des Altkreises Hofgeismar haben parteiübergreifend gerügt, dass sie durch die Politik der Hessischen Landesregierung gezwungen werden, die Kindergartengebühren zu erhöhen. Die Kindergartengebühren im Altkreis Hofgeismar liegen für einen Kitaplatz, also einen Ü-3-Platz, zwischen 120 und

214 €, eine nicht unbeträchtliche Summe. Der Artikel schließt mit folgender Bemerkung:

Eigentlich, so die Meinung aller zehn Bürgermeister im Kreisteil, müssten die Kindergartenplätze vom Land kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Sie verweisen dabei auf Bundesländer, in denen dies bereits so sei.

Meine Damen und Herren, dies ist ein Teil der Debatte, die Sie in den kommenden Monaten und Jahren bekommen werden. Sie werden sie auch bekommen im Zusammenhang mit der Debatte um die Reform der Hessischen Verfassung. Sie wissen, dass die hessische SPD und die Landtagsfraktion einen Vorschlag gemacht haben, in der Verfassung die vollständige Gebührenfreiheit für die Betreuung, Erziehung und Bildung in Kindertagesstätten zu verankern. Wir tun das im Wesentlichen aus drei Gründen.

Erstens. Um es mit den Worten der Liga der Freien Wohlfahrtspflege zu sagen, die sich in der schriftlichen Stellungnahme in der Anhörung zum Gesetzentwurf folgendermaßen geäußert hat: Die Kitagebühren sind ein heilloser „Anachronismus“.

Das ist vollkommen richtig, weil wir alle miteinander gelernt haben – großer Punkt 1 –, dass die Kindertagesstätten und auch die Kindertagespflege, also das gesamte System der frühkindlichen Bildung in diesem Land, eben nicht nur frühkindliche Bildung heißt, sondern dass es zu einem integralen Teil, zum Fundament des Bildungssystems in diesem Land geworden ist.

Deswegen ist es aus Gründen der Billigkeit, aus Gründen der Gerechtigkeit und aus Gründen der inneren Logik nicht länger vermittelbar, dass wir ausgerechnet für den Bereich der Kindertagesstätten, von dem jeder sagt, dass er die entscheidende Ressource für den Bildungserfolgt ist respektive sein kann, wenn er vernünftig ausgestattet ist, Gebühren nehmen, aber nicht für die Schulen und nicht für die Hochschulen.

(Beifall des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Nun kenne ich das Argument, dass es in der Schule Schulpflicht gibt. Das trifft aber nicht für die Hochschulen zu.

(Michael Boddenberg (CDU): Wollen Sie Schulgebühren einführen?)

Es gibt keine Hochschulpflicht, sondern dort machen es die Leute genauso freiwillig oder auch nicht freiwillig wie in den Kindertagesstätten. Dabei soll es auch bleiben.

Ich verkenne auch nicht die fundamentalen strukturellen Unterschiede zwischen dem Bereich der Kindertagesstätten und dem der Schulen und der Hochschulen, der z. B. in der höchst pluralistischen Struktur und in seiner Freiwilligkeit liegt. Nichtsdestoweniger ist es ein Bestandteil des Bildungssystems. Deswegen ist es aus Gründen der Billigkeit, der Gerechtigkeit und auch der Innovationsfähigkeit unseres gesamten Bildungs- und Gesellschaftssystems nicht länger vermittelbar, dass hier Gebühren genommen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens geht es um die Gleichheit der Lebensverhältnisse. Das ist in der eben zitierten Äußerung der Bürgermeister aus dem Altkreis Hofgeismar schon angesprochen worden. Es ist niemandem vermittelbar, dass man in einem Bundesland Gebühren für die Kindertagesstätten bezahlen

muss, wie erwähnt, teilweise nicht unerhebliche Gebühren. Dabei habe ich noch kein Wort über den U-3-Bereich gesprochen. Ich habe ein paar Beispiele aus dem Ü-3-Bereich genommen. Im U-3-Bereich reden wir über ganz andere Systeme.

Es ist nicht vermittelbar, dass es in einem Bundesland so und im anderen Bundesland anders ist. Es ist noch viel weniger vermittelbar, dass es innerhalb des Bundeslandes Hessen – das ist in der Anhörung noch einmal sehr eindrucksvoll deutlich geworden, auch für die, die es alle schon wussten – eklatante Unterschiede in der Gestaltung der Gebührenlandschaft gibt.

(Minister Stefan Grüttner: Das stimmt!)

Wir haben unglaubliche Spreizungen selbst da, wo es noch Gebühren gibt. Wir haben selbstverständlich Spreizungen zwischen Kommunen wie Eschborn, um das beliebteste aller Beispiele zu nehmen, wo man aus nachvollziehbaren Gründen keine Kitabeiträge mehr erheben muss, und anderen Kommunen – ich will noch einmal Hofgeismar nennen, aber das könnte ich für viele Kommunen auch sagen –, wo man das bedauerlicherweise nach wie vor tun muss.

Meine Damen und Herren, es ist niemandem gut vermittelbar, warum das so ist. Da hilft auch nicht der Hinweis, Frau Wiesmann, den Sie jetzt wahrscheinlich gleich tätigen werden, nämlich dass es natürlich in der kommunalen Gestaltungshoheit liege, dies etwa mit Staffeltarifen auszugleichen. Ich habe schon oft darauf hingewiesen, dass dies für die meisten kreisangehörigen Kommunen keine Option ist, sondern dass sie Folgendes tun: Sie schieben die Gebührenlast für diejenigen, die im SGB-II-Bezug sind, im Regelfall auf die Landkreise, und sonst gibt es praktisch höchstens für das zweite oder dritte Kind eine Ermäßigung. Einen gestaffelten Gebührentarif, wie wir ihn seit 20 oder 30 Jahren in Gießen haben, gibt es in den wenigsten Fällen.

Deswegen ist das kein Ausweg. Vor allem ist es keine Antwort auf die fundamentale Frage nach Gerechtigkeit: Warum ist der Kindergartenbesuch in einem bestimmten Bundesland oder in einer bestimmten hessischen Kommune vollkommen gebührenfrei und woanders eben nicht?

(Beifall bei der SPD)

Es ist auch nicht logisch, dass das letzte Kindergartenjahr gebührenfrei ist, das zweite und das erste aber nicht – und U 3 schon einmal gar nicht. Um es noch einmal zu sagen: Im U-3-Bereich sind die Gebühren am höchsten, weil dort natürlich auch die Kosten am höchsten sind. Auch das ist im Grunde eine offenkundige Ungerechtigkeit innerhalb des Systems der Gebührenerhebung, die es zu beseitigen gilt. Dazu will unser Gesetzentwurf einen Beitrag leisten.

Nun ist in der Anhörung kritisiert worden, dass die Anreizfunktion der Gebührenfreiheit – die bei der Befreiung für das dritte Kindergartenjahr Pate stand – im Grunde kein gutes Argument sei, weil im zweiten und dritten Kindergartenjahr praktisch ohnehin schon der gesamte Jahrgang in die Kindertagesstätte geht. Das ist richtig. Ich selbst habe damals bei der Einführung der Beitragsfreiheit dafür plädiert, statt des letzten Jahres besser das erste Jahr beitragsfrei zu stellen. Das wäre logischer gewesen.

Bei unserem Versuch, uns der vollständigen Gebührenfreiheit wenigstens zu nähern, haben wir bewusst einen Übergangsweg gewählt und nicht gleich den ganzen Schritt vollzogen, auch aus finanziellen Gründen. Wir standen vor

der Frage: Sollen wir in den U-3-Bereich gehen bzw. ihn mit berücksichtigen, weil dort die Anreizfunktion sicher am höchsten ist und auch die Effekte für die einzelnen Familien am höchsten wären? Ohne jeden Zweifel, denn wir haben dort nach wie vor eine relativ niedrige Inanspruchnahme. Wir haben ganz sicher den Wunsch, dass dies mehr Familien beanspruchen. Dort sind die Preise, wie gesagt, am höchsten, und darum ist auch der Abschreckungseffekt der Preise am höchsten.

Wir haben das nicht getan, weil das die Logik des derzeitigen Systems nicht nahelegt. Das ist aber, das gebe ich ohne Weiteres zu, unter dem Aspekt des Anreizes kein besonders starkes Argument, deswegen will ich das auch nicht überstrapazieren. Ich möchte an dieser Stelle nur auf das Problem hinweisen.

Tatsache ist und bleibt aber: Aus Gründen der Gerechtigkeit und zur Entlastung von Familien – insbesondere solcher mit kleinen und mittleren Einkommen; Menschen, die ihren Lebensunterhalt im Wesentlichen selbst verdienen und nicht durch Transferleistungen bestreiten, Familien, die z. B. nicht in den Genuss von Leistungen der wirtschaftlichen Jugendhilfe kommen – wäre eine Ausweitung der Gebührenbefreiung ohne Wenn und Aber eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation.

Wir haben in den letzten Wochen und Monaten sehr viel über Kinderarmut gesprochen. Wir werden das auch weiterhin tun müssen. Gerade in dem Bereich, wo es überall knirscht, wo die Leute weder eine Sozialwohnung haben noch an vielen anderen Vergünstigungen teilhaben, weil sie knapp oberhalb der Einkommensgrenze liegen, müssen wir etwas tun und sollten wir etwas tun. Auch das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Deswegen fängt die Debatte heute erst an. Man sieht sich im Leben immer zweimal.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Zuruf von der CDU: Ja, ja! – Michael Boddenberg (CDU): Kollege Merz wird beim nächsten Plenum ausscheiden? Sehen wir uns nur noch zweimal?)

Da haben Sie nicht zugehört.

Danke schön, Herr Merz. – Für die CDU-Fraktion hat sich Frau Wiesmann zu Wort gemeldet.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Merz, zwei kurze Dinge vorweg. Ich hoffe, wir sehen uns noch ganz oft zu diesen und vielen anderen Themen.

(Gerhard Merz (SPD): Das war nicht wörtlich gemeint!)

Das ist ganz wörtlich gemeint.

Zweite Vorbemerkung zu dem, was Sie eben gesagt haben. Ich will einmal ganz frank und frei für uns feststellen: „Gerecht“ heißt für uns nicht zwingend „gleich“, und „gerecht“ heißt auch nicht zwingend „kostenlos für alle“, sondern das sind einzelne Fragen. Man muss den Aspekt der Gerechtigkeit sehr spezifisch zu einzelnen Fragestellungen beantworten.

(Beifall bei der CDU)

Jetzt aber zur Sache. Nach erfolgter Anhörung und Diskussion im Ausschuss haben wir heute wieder die Gelegenheit, Ihrem Gesetzentwurf etwas abzugewinnen. Nachdem Sie mir im Ausschuss quasi vorgeworfen haben, ich hätte das ganz große Besteck ausgepackt, haben Sie das heute selbst getan. Das ist vielleicht auch ganz gut so, aber ich will dennoch mit etwas bescheideneren Instrumenten versuchen, unsere Position darzulegen. Ich nehme mir noch einmal die Prämissen vor, die Ihrem Vorschlag zugrunde liegen, auch im Lichte der Anhörung.

Erste Prämisse. Sie tragen vor, dass finanzielle Sorgen Eltern davon abhielten, ihre Kinder in die Kinderbetreuung zu geben – oder dass diese Sorgen es zumindest sehr erschwerten. Nach der Anhörung kann ich zwar bestätigen, dass diese Behauptung von einigen Anzuhörenden vorgebracht wurde. Sie konnte aber überhaupt nicht belegt werden.

Hingegen stellte die Stadt Kassel fest: