Protokoll der Sitzung vom 11.10.2016

(Wolfgang Decker (SPD): Ich habe nicht „nichts“ gesagt! Ich habe gesagt: zu wenig)

Ich finde das witzig. Hinsichtlich der U-3-Kinder hatten wir in den Jahren 2011 und 2013 über 19 %. Ich will nur ein Beispiel nennen. Denn ich will nicht zum Thema Kinderbetreuung kommen. Wir reden über das Jahr 2011. Da hatten wir folgende Rahmenbedingungen: Wir hatten damals 430 Millionen € im Etat. Heute sind es 460 Millionen €, die für die Kinderbetreuung in Hessen zur Verfügung stehen.

Wir hatten damals bei Kindern unter drei Jahren eine Betreuungsquote von 19,8 %. Heute sind es 31,7 %. Entsprechend viele Betreuungsplätze gibt es für Kinder unter drei Jahren. Da kann man nicht sagen: Es ist hinsichtlich der Kinderbetreuung nichts passiert.

(Wolfgang Decker (SPD): Das habe ich nicht gesagt! Ich habe gesagt: Es ist nicht mehr passiert!)

Das Gegenteil ist der Fall. Das Problem ist erkannt. Es wird angegangen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU)

Herr Decker, Sie wollen das alles nicht gesagt haben. Sie haben gesagt, wir würden nicht genug qualifizieren und ausbilden. Sie haben gesagt, wir würden zu wenig für die Kinderbetreuung tun. Jetzt komme ich Ihnen mit den Zahlen um die Ecke. Jetzt sagen Sie, Sie hätten das alles so nicht gesagt. Wie ist das denn nun? – Ich komme mit einer Bilanz. Diese Bilanz ist zufriedenstellend.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Die Initiativen zur Gesundheitsvorsorge in den Betrieben werden oft belächelt. Herr Grüttner ist oft unterwegs mit neuen Maßnahmen und neuen Kampagnen, wie man Gesundheit bewahrt, wie man auf sich aufpasst, insbesondere wenn man älter wird, sodass man tatsächlich seine Arbeitskraft erhält.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Je nachdem, in welcher Lebenssituation man ist, hat man immer das Gefühl: Ich bin es ja nicht. – Das sagt man unabhängig davon, in welchem Alter man ist. Man sagt: Ich bin ja gesund. Was betrifft mich das?

Das ist aber wichtig, auch wenn das oftmals belächelt wird. Die Erhaltung der Arbeitskraft im Betrieb ist eine wesentliche Säule. Der Gesundheitsminister gibt sich große Mühe, den Menschen zu verdeutlichen, dass sie auf ihre Gesundheit achten und dass sie präventiv mehr für ihre Gesundheit tun sollen. Dies tut er gemeinsam mit den Krankenkassen und mit vielen Akteuren im Gesundheitsbereich. Das ist immens wichtig und nicht zu unterschätzen; denn darin liegt die Zukunft. Schließlich wollen wir auch im hohen Alter gut und gesund arbeiten können, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Die Fachkräftekommission hat damals gesagt: Ausländische Arbeitskräfte sind keine Alternative, sondern eine Ergänzung. – Ja, das ist so. Niemand würde sagen, dass ausländische Arbeitskräfte die Nachfrage auf dem Binnenarbeitsmarkt befriedigen können. Es ist aber schon beachtlich, dass über 3.000 Menschen beraten worden sind, die nach Hessen kommen wollen. Das ist eine ordentliche Zahl. Herr Minister Grüttner hatte das ausgeführt. Es ist gelungen, ausländische Pflegekräfte zu gewinnen. Ich finde, man muss anerkennen, dass das auch menschliche Situationen sind. Jemand kommt und geht vielleicht auch wieder, weil es ihm nicht gefällt, weil er mit der Sprache, mit der Mentalität oder mit der Kultur nicht zurechtkommt.

Herr Kollege Decker, Sie können aber doch nicht ernsthaft abstreiten, dass der Versuch unternommen wird, mehr internationale Arbeitskräfte zu gewinnen. Dass ein Einwanderungsgesetz auf Bundesebene fehlt, das sagen wir GRÜNE seit 30 Jahren. Verhindert haben dies jedoch immer CDU und SPD, meine Damen und Herren.

(Wolfgang Decker (SPD): Das ist Quatsch!)

Doch. So war es doch. Unter Rot-Grün ist ein Einwanderungsgesetz geschaffen worden, das seinen Namen nicht verdient. Die GRÜNEN werden das bestätigen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- ruf von der SPD: Das ist eine Frechheit!)

Wir werden ja sehen, wie es nach der Bundestagswahl mit einer SPD-Mehrheit im Bundestag aussieht. Wir werden sehen, ob Sie die Kraft haben, ein Einwanderungsgesetz zu schaffen, das seinen Namen auch verdient. Das Integrationsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg gebracht haben, trägt nämlich nicht zur Integration bei, schon gar nicht zur Integration in den Arbeitsmarkt. Ich finde das, was auf Bundesebene passiert, eher rückwärtsgewandt. Das betrifft die SPD genauso. Aber das habe ich schon einmal gesagt.

Wir sehen den Dreiklang der Fachkräftekommission auch in der Qualifikation von Schülern, Auszubildenden und Jugendlichen. Wir haben uns vorgenommen, die Übergangssysteme zu verbessern, zu reformieren. Wir haben uns vorgenommen, dass Arbeitnehmer ohne Abschluss einem Abschluss zugeführt werden. Wir wollen, dass das lebenslange Lernen zum Standard wird, wie es die Fachkräftekommission fordert.

Wenn wir die Potenziale nutzen, wenn es gelingt, Frauen noch mehr in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wenn es gelingt, mehr Kinderbetreuung anzubieten, wenn es gelingt, älteren Menschen durch gesunde Arbeit und flexible Arbeitszeiten ein längeres Arbeiten zu ermöglichen, wenn man den Dreiklang aus Qualifikation, Weiterbildung und Ausschöpfung von Potenzialen aktiv angeht und politisch zur Chefsache macht und hierfür eine Stabsstelle in der Landesregierung schafft, dann bin ich damit zufrieden vor dem Hintergrund der Entwicklung in den letzten drei Jahren und angesichts der dramatischen Situation damals.

Der Fraktionsvorsitzende Boddenberg wird mir recht geben. Die Diskussionen waren damals deutlich dunkler als heute. Viele Akteure, die Industrie- und Handelskammern, die Bundesagentur und die Unternehmen sagen: Gott sei Dank wurde das mutig und schwungvoll in Angriff genommen. Deshalb ist die Situation gut so, wie sie aktuell ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wir sind aber nicht diejenigen, die die Situation schönreden wollen.

(Zuruf von der SPD: Och!)

Nehmen wir einmal den Fachkräftemangel in der Pflege. Wir haben das gemerkt, als die vielen Flüchtlinge kamen. Wir haben einen großen Fachkräftemangel bei Sozialarbeitern. Wir haben einen Fachkräftemangel bei Sprachlehrern und bei Ärzten. Es bleibt noch viel zu tun. Das wird auch immer eine Daueraufgabe bleiben. Die Anforderungen an die Wirtschaft verändern sich dynamisch. Die Anforderungen an die Arbeitskräfte verändern sich dynamisch. Es wird auch immer wieder andere Defizite und Bedarfe geben. Deswegen muss es auch immer eine politische Steuerung geben über die Handlungsmöglichkeiten, die man hat.

Herr Minister Grüttner hat natürlich recht, wenn er sagt, dass es zuvörderst Aufgabe der Unternehmen ist, für den eigenen Nachwuchs zu sorgen und eine Ausbildung anzubieten. Damit haben Sie natürlich recht, Herr Grüttner. Was aber das Land tun kann, das muss dauerhaft installiert bleiben. Dem müssen wir weiter nachgehen.

Ich finde, dass das Land das angehen muss, was es angehen kann. Es ist der erklärte Wille von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU, dabei am Ball zu bleiben. Wir wollen nicht in unseren Anstrengungen nachlassen, zu verhindern, dass der momentane Fachkräftemangel zu großen Krisensituationen führt. Das können wir mit staatlichem Handeln verhindern, und das ist aktiv angepackt worden. – Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Bocklet. – Als Nächste spricht Frau Abg. Schott für die Fraktion DIE LINKE. Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Minister Grüttner, Sie beginnen Ihre Rede damit, dass vor allem die Unternehmen dafür verantwortlich sind, genügend Fachkräfte zu finden. Damit haben Sie recht. Dann aber sagen

Sie, die Hessische Landesregierung setze Rahmenbedingungen und gebe Hilfestellungen. Dem widerspreche ich in aller Deutlichkeit.

Sie halten eine Rede, die nicht nötig wäre, über ein Problem, das es nicht gäbe, hätten nicht Sie und andere Regierungen vor Ihnen und Regierungen in der gesamten Republik mit einer neoliberalen Politik ein Heer an prekär Beschäftigten geschaffen, Arbeitnehmerrechte geschliffen und eine Verunsicherung aller Beschäftigten verursacht, die genau die Situation hervorgebracht hat, die Sie jetzt mit viel Geheul beklagen und mit untauglichen Mitteln bekämpfen wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will einmal zurückkommen auf die Anfänge dieser Politik; denn wir können hier pseudomäßig über ein Problem reden oder herausstellen, was tatsächlich gemacht werden müsste, um einen Arbeitsmarkt zu schaffen, der Menschen eine würdige Existenz unter Beachtung ihrer Gesundheit schafft.

Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten neoliberalen Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen und nicht nur mit dem Bericht über die Gegebenheiten.

Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl das das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann. Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Es hat erhebliche Auseinandersetzungen mit starken Interessengruppen in unserer Gesellschaft gegeben. Aber wir haben diese Auseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher, dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird.

Sie alle wissen, von wem diese Worte stammen. Die Mehrheit hier im Raum wird behaupten, Schröder habe recht mit der Agenda 2010, und was gemacht wurde, sei richtig und notwendig gewesen.

Sie können Ursache und Wirkung nicht unterscheiden. Sie erkennen nicht einmal die Zusammenhänge zwischen einer hohen Unzufriedenheit der meisten mit ihrer Arbeitssituation mit Belastungen und Druck, mit Resignation und Versagen, mit Krankheit und Sucht und den von Ihnen geschaffenen Rahmenbedingungen. Ja, Ihre Politik hat Wirkung, aber leider nur die falsche.

(Beifall bei der LINKEN – Horst Klee (CDU): Jammerei!)

Das ist kein Gejammer.

Die Techniker Krankenkasse hat festgestellt, dass die krankheitsbedingten Fehltage weiter steigen. Allein von 2014 auf 2015 betrug der Anstieg 4,2 %. Woher kommen denn solche Anstiege? Diese Anstiege kommen daher, dass die Menschen den Druck nicht mehr ertragen. Hessen liegt mit 15,3 Fehltagen im Mittelfeld.

Die AOK, die nicht gerade des Sozialismus verdächtig ist, hat ermittelt, dass über 65 % der Betroffenen über eine schlechte Unternehmenskultur klagen. Damit gemeint ist: hoher Leistungsdruck, hohe Arbeitsverdichtung, geringe

Anerkennung bis hin zur beliebigen Austauschbarkeit und zur schlechten Bezahlung.

Auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums ist zu lesen, dass rund 9,5 Millionen Menschen in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskanter Form konsumieren. Etwa 1,8 Millionen Menschen gelten als alkoholabhängig. Zudem ist missbräuchlicher Alkoholkonsum einer der wesentlichen Risikofaktoren für zahlreiche chronische Erkrankungen, z. B. Krebs, Lebererkrankungen usw., und für Unfälle. Jedes Jahr sterben in Deutschland mindestens 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. 15 bis 30 % aller Arbeitsunfälle ereignen sich unter Alkoholeinfluss.

Glauben Sie eigentlich, all diese Menschen trinken zu viel, weil sie Eheprobleme haben oder suchtkrank auf die Welt gekommen sind? Nein. Auch dafür ist der Druck mitverantwortlich, der in allen Lebensbereichen aufgebaut wird. Verantwortlich ist zudem ein Gesellschaftsbild, bei dem du nur etwas bist, wenn du mithalten kannst, wenn du viel verdienst, wenn du ewig jung und dynamisch bist, wenn du gesund und erfolgreich bist.

Dafür hat neoliberale Politik in weiten Teilen die Weichen gestellt. Statt für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen, hat die Politik alles dafür getan, genau diesen Druck zu befördern. Deshalb fallen immer mehr Menschen aus dem Arbeitsleben heraus, gehen immer mehr Menschen in Teilzeitbeschäftigung oder werden krank.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie geht aber nun diese Landesregierung mit ihren eigenen Beschäftigten um? Hessen-Forst z. B. kämpft noch immer mit dem Stellenabbau, der vor über zehn Jahren mit der „Düsteren Zukunft“ begonnen wurde. Hessische Beamtinnen und Beamte haben die längste Arbeitszeit, und die Besoldung wird nach Gutsherrenart beschlossen. Immer wieder können Stellen nicht besetzt werden, weil die Bezahlung zu schlecht ist, und eben diese Landesregierung lobt sich hier dafür, was sie für den Arbeitsmarkt tut. Das ist doch an Zynismus kaum mehr zu übertreffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich erwarte, dass ein Sozialminister vor allem etwas zu den Berufen im Sozial- und Gesundheitswesen sagt, und nicht zu allem und jedem; denn bei diesen Berufen geht es überhaupt nicht um die Sicherung eines Marktes, sondern es geht um die Sicherheit und das Überleben von Menschen, die auf diese Fachkräfte, deren Kompetenz und deren Vorhandensein angewiesen sind: Das sind die Kinder und Eltern, die verlässliches und kompetentes Erziehungspersonal benötigen. Das sind die kranken Menschen, die kein gehetztes, sondern mit genügend Zeit und Zuwendung ausgestattetes Pflegepersonal brauchen, um wieder gesund zu werden. Das sind die Menschen, die bei eine Langzeitpflege ganz besonders abhängig davon sind, wertschätzend und menschlich von Pflegekräften versorgt zu werden, die nicht selbst unter ihrer Arbeitsbelastung leiden.

Wir wissen, dass in dieser Gesellschaft alles vermarktet wird – alle natürlichen Ressourcen bis hin zu Zuwendung und Liebe. Die Sorge für Menschen darf aber nicht der grausamen und blinden Profitlogik unterworfen werden. Da es die meisten von Ihnen – wir wissen es ja – mit Marx und Luxemburg nicht so haben, möchte ich an dieser Stelle den Papst zitieren, der sagt: