Protokoll der Sitzung vom 16.04.2002

(Unruhe im Hause – Glocke)

Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie um Ruhe bitten, damit die Abgeordnete auch zu Wort kommen kann.

Die neuen Lehrerstellen reichen nur aus, um den Bedarf der zusätzlichen Schülerinnen und Schüler zu decken. Das ist eine Tatsache, der sich Senator Lange lange verschlossen, aber die er inzwischen selbst eingesehen hat. Diese Erkenntnis hat ihn aber nicht fröhlicher gemacht.

Weil er sich nicht sicher ist, ob er beziehungsweise die FDP-Fraktion als kleiner Koalitionspartner mehr Geld für Bildung herausrücken kann und weil ihm darüber hinaus so viel auch nicht einfällt, hat er kürzlich noch einen Kassensturz inszeniert und versucht, seinen Vorgängerinnen – den Senatorinnen Raab und Pape – Misswirtschaft unterzujubeln.

(Burkhardt Müller-Sönksen FDP: Ja!)

Aber schon das Peinersche Ritual eines Kassensturzes wurde als lästig aufgenommen. Die angeblichen neuen Schulden konnten insgesamt nicht richtig überzeugen.

Der Kassensturz des Senators am 5. April – nach über fünf Monaten seiner Amtsübernahme – ist schon etwas Originelles.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Herr Senator, Sie haben das inszeniert, weil sie mit dem Rücken an der Wand stehen. Es gibt keine neuen finanziellen Erkenntnisse. Dann hätten Sie auch das Parlament mit einer neuen Vorlage informieren müssen; das ist nicht geschehen und zeigt die Unsolidität Ihrer Vorgehensweise.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Wahr ist, dass die Erkenntnisse den Behörden und dem Senat bekannt waren und dass Sie sie ignoriert haben. Allen war bekannt, dass der vorige Senat mit dem so genannten Swing Lehrerinnen und Lehrer von besonderen Fächern vorzeitig eingestellt hat, um diese Fachkräfte für Hamburg vor dem Abwerbungsdruck aus dem Umland zu sichern. Das war eine Politik, die breite Unterstützung fand.

Ihr jetziger Staatsrat Behrens hat in seiner vorigen Funktion sogar den Senat aufgefordert, weit über 400 Lehrerinnen und Lehrer auf Pump einzustellen. Das ist eine Vorgehensweise, die transparent und offen in der Stadt diskutiert wurde. Der Senat hatte sich dazu entschlossen, um Fachkräfte in Hamburg zu halten. Sie haben versucht, durch falsche Beschuldigungen gegenüber Ihren Vorgängerinnen von Ihren Unzulänglichkeiten abzulenken. Das ist ein schlechter Stil. Er war aber so schlecht, dass er ziemlich leicht durchschaubar war.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Hinsichtlich der zu erwartenden Sparmaßnahmen packen Sie nicht die Karten auf den Tisch. Aber Sie haben einen Vorgeschmack davon gegeben, was demnächst im Bildungsbereich zu erwarten ist.

Sie setzen mit der Streichung der Lernmittelfreiheit bei den sozial Schwachen an und streichen Ausbildungsplätze für die Jugendlichen, die im dualen System nichts gefunden haben. Das ist die neue Politik dieses Senats.

Die liberale Handschrift besteht darin, dass am liebsten alle Ansätze, die Kinder aus sozial schwachen Familien einen höheren Bildungsabschluss erzielen lassen, abgeschafft werden. Welchen Sinn macht das, eine Prüfung nach Klasse 5 der gymnasialen Oberstufe einzuführen, außerdem die Zahl der Gymnasiasten auf diese Art und Weise zu verringern und die Kinder auszuschließen, die etwas länger brauchen?

Diese Herangehensweise ist ein großer Fehler, weil Sie nicht nur die Chancen dieser Kinder, sondern auch die Stadt Hamburg und ihre Potenziale beschneidet. Die PISAStudie hat nachgewiesen, dass der Bildungsweg in keinem anderen Land so sehr von der sozialen Herkunft bestimmt wird wie in Deutschland. Die Einführung einer weiteren Prüfung wird das verstärken und nicht abbauen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Sie begreifen eines nicht: Wir brauchen mehr und nicht weniger Abiturienten. Wir haben im internationalen Bereich zu wenig Jugendliche mit Hochschulreife.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Diese Politik des Senats, die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten zu reduzieren, gefährdet die Leistungsfähigkeit unserer Stadt. Herr Senator Lange, tun Sie uns einen Gefallen und sprechen Sie einmal mit Ihrem Senatskollegen Dräger. Dieser hat nämlich erst in der letzten Woche darauf hingewiesen, dass Hamburg mehr Hochschulabsolventen braucht. Wir hoffen, dass sich in diesem Punkt die liberale Drägersche Handschrift im Senat durchsetzt und nicht Ihre.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Die wichtigste Ressource ist das Wissen in den Köpfen der Menschen. Es ist eine ökonomische Notwendigkeit, dass in Hamburg Menschen einen qualifizierten Abschluss erhalten. Hamburg lebt nicht von Rohstoffen, sondern kon

(Erster Vizepräsident Berndt Röder)

kurriert als Dienstleistungsmetropole um die besten und qualifiziertesten Beschäftigten, die wir brauchen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.

Ich verweise auch darauf – die Bildungsreform der sechziger Jahre kann Ihnen dazu auch Anhaltspunkte geben –: Damals waren beide Faktoren ausschlaggebend, nämlich sowohl die Bildungschancen für die sozial Schwächeren zu erhöhen als auch einem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Vielleicht nehmen Sie sich einmal die Zeit und schauen in die FDP-Programmatik dieser Jahre nach. Ich glaube, dies würde Ihnen helfen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

In diesem Zusammenhang ist es besonders schlimm, dass Sie für die Jugendlichen das Erreichen des Fachabiturs nach der Realschule abschaffen. Der Bildungsweg des Fachabiturs ist ein wichtiger Baustein im Bildungssystem; er erhöht die Durchlässigkeit. Die PISA-Studie hat gezeigt, dass wir gerade hier Schwächen haben. Sie sollten dafür sorgen, dass mehr und nicht weniger Schülerinnen und Schüler eine qualifizierte Ausbildung erhalten.

Sie haben in einem Akt unglaublicher Arroganz angeordnet, dass den über 600 Schülerinnen und Schülern der Weg, über die Berufsfachschulen und Fachoberschulen das Fachabitur zu erhalten, von einem Tag auf den anderen verwehrt wird. Offenbar haben Sie in Ihrem bisherigen Berufsleben die Abfolge von Befehl und gehorsamer Befehlsausführung verinnerlicht. Können Sie sich vorstellen, dass die Jugendlichen nach Ihrer Auskunft, es gebe in Hamburg 1500 freie Lehrstellen, strammstehen und sich einen Ausbildungsplatz zuweisen lassen? Sie hätten mit den Jugendlichen diskutieren sollen. Sie verbitten sich diese Form staatlicher Einmischung in ihre Lebenspläne, Träume und Zukunftsvorstellungen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Die Wahl eines Berufes macht sich niemand leicht. Dies sind Entscheidungen, die das Leben bestimmen. Es ist – ich wundere mich, dass wir Ihnen dies sagen müssen – nicht Aufgabe des Staates, den Menschen die Berufswahl vorzuschreiben. Wie kommen Sie überhaupt dazu? Die betroffenen Jugendlichen haben auf der Demonstration gesagt, diese Maßnahme erinnere an die Vorgehensweise in der DDR. Ich glaube, die verstehen mehr von Liberalismus als Sie.

(Beifall bei der SPD und der GAL – Burkhardt Mül- ler-Sönksen FDP: Nein, das war von Anfang an vor- gesehen!)

Als Reaktion auf diesen Protest sind Sie zurückgerudert und haben es für dieses Jahr noch einmal ermöglicht, dass die Jugendlichen diesen Ausbildungsgang machen können.

Das ist ein großer Erfolg für das Bildungssystem. Ich verspreche Ihnen auch weitere harte Auseinandersetzungen, wenn Sie – wie geplant – im nächsten Jahr diesen Zugang beseitigen wollen.

Uns stellt sich auch eine andere Frage: Warum haben Sie mit den Mitgliedern der Regierungsfraktionen nicht darüber geredet? Hier liegt ein Antrag vor, der so tut, als hätte der Senator diesen Weg längst schon wieder geöffnet. Herr Müller-Sönksen, so eng scheint das mit Ihrer Zusammenarbeit dann doch nicht zu sein.

Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass Sie im Januar eine Pressekonferenz gemacht haben und die Ab

wesenheit des Senators nutzten, um ein wenig bildungspolitischen Schwung in die Sache zu bringen. Aber so richtig viel genützt hat das eigentlich nicht.

Senator Lange! Sie finden an den Hamburger Schulen viel Gutes. Ihre Ministerkollegen aus anderen Bundesländern beneiden Sie um die Ausstattung der Schulen mit neuen Medien, Englisch an den Grundschulen, die finanzielle Ausstattung des Schulsystems und die Einführung der Verlässlichen Halbtagsgrundschule. Sie dürfen diese Potenziale nicht verspielen.

Es gibt einen Reformbereich im Schulsystem, aber es gibt auch vieles, woran angeknüpft werden kann. Ich appelliere an Sie: Nutzen Sie den Sachverstand in der Stadt und vertrauen Sie darauf, dass Sie es nicht immer so komfortabel haben, dass die Jugendlichen vor der Schulbehörde in der Hamburger Straße demonstrieren. Wir brauchen mehr Qualität im Schulsystem; darin sind wir uns einig. Aber in diesem Bereich ist eine zwingende Voraussetzung auch eine bessere Qualität der Regierungsarbeit. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort erhält der Abgeordnete Drews.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das war das gewohnte Programm von Frau Ernst. Alle reden drum herum, die ARD statiert, tatsächlich einmal nackte Zahlen zu bekennen, und das ZDF, Frau Ernst, sendet Daten und Fakten unter dem Motto: „Mit dem Zweiten sieht man besser.“ Es wäre schön gewesen, wenn Sie sich mit den Fakten der Vergangenheit auseinander gesetzt hätten.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Betrachten wir einmal die vorgefundene Eröffnungsbilanz des Bürgersenats.

Zuerst wollen wir der Legendenbildung entgegentreten, dass zum Zeitpunkt der Amtsübergabe in der früheren BSJB alles in Ordnung gewesen sei. Unter Rotgrün war der Bildungsetat dem Spardiktat unterworfen. Es gibt zu dieser Thematik etliche Äußerungen der Senatorinnen Raab und Pape, wie wichtig das Ganze sei. Eines haben Sie in den letzten Jahren immer bestritten und sind darüber überhaupt nicht eingegangen.

Den steigenden Schülerzahlen stand über Jahre hinweg eine stetig sinkende Anzahl von Lehrern gegenüber. Vorhaben wie die Verlässliche Halbtagsgrundschule wurden – um die Verlässlichkeit zu sichern – nur halbherzig ausgestattet und ideologisch motivierte Reformvorhaben wie die Einführung der sechsjährigen Grundschule

(Wolf-Dieter Scheurell SPD: Sie waren doch dage- gen!)

scheiterten bereits vor der Umsetzung.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Die Neugestaltung der Grundschulempfehlung und die Bekämpfung von Unterrichtsausfall sind weitere Bereiche, in denen Sie über Jahre und Jahrzehnte keine Lösungen vorweisen konnten. Trotzdem hat der rotgrüne Senat selbst im Jahr 2001 über seine Verhältnisse gelebt.

Im Wahljahr 2001 wurden 250 Lehrerstellen einfach weiterfinanziert, obwohl hierfür im Haushaltsplan überhaupt