Protokoll der Sitzung vom 08.05.2002

Eine solche Hamburger Initiative soll einen Klimawechsel in der Schule bewirken, wo dies notwendig ist, soll das selbstbewusste Auftreten der Schule sowohl nach innen stärken, nämlich im Alltag der Schüler, Lehrer und Eltern und soll auch in ihrer Vorbildfunktion gegenüber der Öffentlichkeit bundesweit wirken.

Wir wollen noch vor den Sommerferien erste Ergebnisse vorlegen. Ich appelliere an Sie und sage, lassen Sie uns gemeinsam dieses komplexe Thema angehen, damit sich vergleichbare Vorfälle möglichst nicht wiederholen. Lassen Sie uns gemeinsam Hamburg zur Hochburg einer friedlichen Gewaltprävention an Schulen machen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Das Wort hat Herr Drews.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Ereignisse von Erfurt habe ich in sehr bewegendem Rahmen erlebt, als ich an dem betreffenden Freitagabend zu einem Jubiläum der Schule H10 in Harburg eingeladen war. Nach unserer Ankunft sollten Oberschulrat Dose und ich ein Grußwort sprechen und eigentlich sollten wir uns auf ein Festprogramm mit Sketschen von Loriot, über den Kosakenzipfel und das Zitronenbällchen, über die klassische Musik und viele Reden freuen. Dies alles blieb uns dann im Halse stecken.

Interessant ist, dass keine 24 Stunden später in den Zeitungen so viele spontane Ideen und Ratschläge von gutmeinenden wie auch von berufsbezogenen Personen zu lesen waren, egal welcher politischen Couleur und Wichtigkeit, sowie von Leuten, die immer etwas zu sagen haben und auch immer wissen, wie man es macht. Ich meine, dass dieses nicht der Moment ist, in dem man große Pläne unterbreitet und sagt, wie man es besser machen will, sondern es ist eher ein Moment des Innehaltens, der Stille, des Nachdenkens und des Überlegens, wie Dinge vielleicht einmal gemeinsam und ohne Verweis auf das eigene Wahlprogramm besser gestaltet werden können. Dabei möchte ich selbstkritisch hinzufügen, dass man Dinge, die keine eigenen Ideen sind, sondern von anderen vorgeschlagen werden, auch mal anerkennen sollte.

Ich könnte zu dieser Thematik viele Zahlen vorlesen, beispielsweise die Pfeiffer-Studie von Februar bis April 1998, aus der wir wissen, dass 37,7 Prozent der Schüler selbst schon einmal Schulgewalt praktiziert oder dass 33 Prozent gelegentlich eine Waffe mit sich getragen haben und davon 4,2 Prozent sogar eine Schusswaffe. Es interessiert in diesem Moment nicht, ob es 4,2 Prozent, 5,7 Prozent oder 8,1 Prozent oder wie viel auch immer sind. Ein ganz anderer Punkt ist wesentlich interessanter. Jeder ist bei dem, was er tut, auch das Produkt des Umfeldes, in dem er tätig ist, als Erwachsener, als Jugendlicher, als Kind. Jeder entwickelt sich im Guten, wenn ihm beispielsweise im

(Senator Rudolf Lange)

Elternhaus oder in der Schule viele Dinge zuteil geworden sind. Andere wiederum entwickeln Defizite, weil sie bestimmte Dinge in der Familie nicht kennen gelernt haben. Dazu gehören neben der Leistung, der Anerkennung und vielen Tugenden, die die Schulen vermitteln sollen und die wir immer obendrauf pfropfen und von den Schulen verlangen, auch Dinge, über die man politisch häufig nicht redet, weil die Leute dann schmunzeln und sagen: Was ist denn das für einer? Dazu gehört aber natürlich auch, dass man in der Familie Zuneigung in Form von Lob erfährt und dass ein Kind in den Arm genommen und ihm gesagt wird, was richtig oder was falsch ist. Wenn es in der Debatte häufig auch „in“ ist, das Augenmerk sehr stark auf die Opfer zu lenken – was auch richtig ist –, ist es ebenso angebracht, darüber nachzudenken, wie jemand geworden ist oder was ihn dazu gemacht und verleitet hat, letztlich so unmenschlich zu handeln, wie es in diesem Fall passiert ist. Jemand will menschlich behandelt werden, hat aber in seinem kurzen Leben sicher Verletzungen erfahren, die wir alle nicht nachempfinden können, die ein normaler Mensch nicht nachempfinden kann. Das führt uns letztlich, unabhängig von dem, was in Erfurt passiert ist, zu der Erkenntnis, die nicht neu ist, bei der es aber sinnvoll ist, sich daran zu erinnern, dass Kinder und Jugendliche, dass Schüler – ich will nicht sagen keine – sich in einer schwierigen Situation befinden, da sie keine Lobby haben wie beispielsweise die Erwachsenen in einem Parlament, in Gewerkschaften, Vereinen und Institutionen. In Deutschland gibt es für alles Interessenvertretungen, nur für Kinder und Jugendliche ist es da schwieriger.

Wenn wir uns mit guten Gedanken überschlagen, müssen wir uns noch einen weiteren Punkt vor Augen halten: Mit Geld können wir nicht alles erkaufen. Egal wer regiert und wie die Situation der Steuereinnahmen ist, das sind alles Zahlen, Daten und Fakten, aber die Frage, wie wir mit dem Individuum in der Schulklasse umgehen, bleibt.

Kommen Sie bitte zum Ende.

Ich komme zum Schluss. Die Kinder und Schüler haben zwar kein Wahlrecht, aber ihnen gehört die Zukunft. Wenn wir uns bei unseren Entscheidungen einmal mehr daran erinnern, werden wir auch gemeinsam zu besseren Lösungen für die Zukunft kommen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Das Wort hat Herr Böwer.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Koop, klar ist, Antworten finden wir hier nicht; insbesondere nicht in Fünf-MinutenHäppchen, aber vielleicht den einen oder anderen Aspekt, an den wir uns immer wieder erinnern sollten in den kommenden Wochen und Monaten.

Ein weiterer Punkt ist – damit haben sie Recht, Frau Freund –, dass wir innerhalb der Gesellschaft einen Werteverlust zu beklagen haben. Der Werteverlust fängt aber nicht bei Kindern und Jugendlichen an, sondern bei den Erwachsenen; er hört bei Kindern und Jugendlichen auf.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Wenn Kinder erleben, dass „versprochen ist versprochen“ im Kleinen wie im Großen gebrochen wird, dann ist das der Beginn vom Werteverlust. Mehr will ich zur Seitenattacke nicht sagen, das ist einer der ersten Punkte.

Herr Woestmeyer, Sie sprechen die aktuelle Diskussion des Waffenrechts an. Ich komme aus ähnlichen Beweggründen aber zu völlig anderen Schlussfolgerungen.

Erstens: Wir kennen in unserer Gesellschaft ein Recht auf Erziehung und Bildung, auf körperliche Unversehrtheit, aber es ist kein Menschenrecht, privat eine Waffe zu besitzen, egal ob mit 18 Jahren, mit 21 Jahren oder mit 65 Jahren.

(Beifall im ganzen Hause)

Das wäre ein Punkt, der mitgenommen werden kann. Die Frage der Entwaffnung der Gesellschaft auf eine Generationenfrage zu reduzieren, ist fatal. Kein Sport- oder Schützenfest kann so bedeutsam sein – egal welche Lobby es betrifft oder wie viele E-Mails oder sonstiges wir in dem Bereich bekommen –, dass es sich auf Dauer einer solchen Entwaffnung der Gesellschaft in den Weg stellen kann.

Daher ist die Frage der Entwaffnung der Gesellschaft, ob mit 18 Jahren oder 21 Jahren

(Farid Müller GAL: 25 Jahre!)

oder 25 Jahren –, eine Frage, die uns alle angeht.

Wir haben im Sommer letzten Jahres das Bürgerliche Gesetzbuch geändert. Ich nenne daher einige Punkte, an die wir uns regelmäßig erinnern sollten. Im Bürgerlichen Gesetzbuch haben wir einmalig den Anspruch der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung festgeschrieben. Wir wissen, dass insbesondere diejenigen, die selbst Gewalt erleiden, eher dazu bereit sind, Gewalt anzuwenden. Also haben wir Erwachsenen darüber nachzudenken, wie wir dem Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung Nachdruck verschaffen können.

Ich komme zu einem zweiten Aspekt von Erfurt. Im Wesentlichen ist Gewalt männlich. Daher lautet die Frage, was in männlichen Sozialisationen so schief verläuft, wenn man zu solchen Ergebnissen kommt.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD und der GAL)

Eine Mitarbeiterin hat mich – etwas flapsig gesagt – gefragt: Wieso hat er nicht das gemacht, was Mädchen machen, und sich beispielsweise auf Magersucht oder sonstige Bereiche zurückgezogen? Trotzdem haben wir die Frage der Jungenarbeit noch mehr in den Blickpunkt zu rücken, und zwar nicht nur im Bereich der Jugendhilfe, sondern auch im Bereich der Schule. Hier muss gefragt werden, welche Bedrohung von Identität eigentlich wahrgenommen wird.

Dritter Aspekt: Gewaltprävention stärken. Wir brauchen eine Kultur von Gewaltfreiheit und gegenseitigem Respekt. Das heißt, das nicht nur in Schulen stattfinden zu lassen, wie es Herr Lange angesprochen hat, sondern Antiaggressionstraining muss bereits in Krippe und Kindergarten seinen Platz finden und von Kindesbeinen an gelernt werden.

Der folgende Aspekt geht alle diejenigen an, die Eltern sind. Warum merken wir eher, dass die Waschmaschine oder der Fernseher kaputtgeht, als dass mit unseren Kindern etwas schief läuft? Wir setzen im Bereich der Erziehung alle viel zu sehr auf das Funktionieren als auf das Gelingen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Wann erken

(Wolfgang Drews CDU)

nen wir den Moment, obwohl wir Tisch und Wohnung gemeinsam teilen, dass etwas nicht stimmt? Das ist nicht nur der Punkt, an dem man Nähe sucht, Herr Drews, sondern es geht darum zu erkennen, was im Kopf oder in der Seelenlage des anderen stattfindet. Dabei handelt es sich um den Bereich des lebenslangen Lernens, den wir aus allen anderen Situationen kennen. Wenn wir einen Computer nicht verstehen, gehen wir in eine Fortbildung. Im Elternbereich bieten wir aber derzeit nur dann etwas an, wenn wir glauben, schon gescheitert zu sein, dabei nehme ich mich als Person nicht aus. Vernachlässigung kommt auf ganz leisen Füßen in jede Familie und das ist der Beginn für derartige Fehlentwicklungen; da sollten wir uns an die Nase packen.

Im vorletzten Aspekt heißt es, dass über die Leistungen die Kinder und Jugendlichen nicht vergessen werden dürfen. Wir dürfen die Personen nicht über das definieren, was sie machen, sondern das, was sie sind: junge Menschen.

Ich komme zum letzten Punkt. Über Gewaltvideos ist vieles gesagt worden und ich unterstütze natürlich das, was der Bundeskanzler sagt.

(Glocke)

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ja, Frau Präsidentin, noch einen Satz.

Aber die meisten Gewalttaten finden in der Zeit zwischen 20 Uhr und 20.15 Uhr in der Tagesschau statt. Dafür sind im Wesentlichen wir Erwachsenen verantwortlich. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort hat Herr Bauer.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Dem Täter gehören tagelang die Schlagzeilen. Überlebende, Opfer und ihre Angehörigen sind fast zur Nebensache geworden.

Nirgendwo stand bisher Anteilnehmendes über die Getöteten, den Polizeibeamten, die zwei Schüler, die Sekretärin, die Lehrerinnen und Lehrer, über ihr Leben, ihren Beruf.

(Karl-Heinz Ehlers CDU: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren Medienvertreter, die Opfer sind wichtiger als die Täter. Das gilt auch für einen Teil der Redner hier in der Bürgerschaft, bei denen die Opfer fast in Vergessenheit geraten sind.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und vereinzelt bei der CDU)

Hätte der Täter überlebt, könnte er mit der ganzen Fürsorge des Staates, der Gutmenschen Jugendrichter, Psychologen und Therapeuten rechnen, weil laut Strafvollzugsgesetz Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft Vollzugsziele sind. Den Überlebenden nebst Angehörigen von Opfern wird zwar kurz und mittelfristig auch jedweder Beistand gewährt, danach aber werden sie sich selbst überlassen. Der Zustand einer Gesell

schaft lässt sich auch damit beschreiben, wie wir mit Opfern von Gewalttaten umgehen.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Brennpunkt Schule, zum Tatort Schule. Jeder dritte Schüler ist bewaffnet, Opfer sind Mitschüler, vor allem die jüngeren und schwachen. Erpressungen, Abziehen von Geld, Kleidung oder Handys und Wertgegenständen, massive Bedrohungen, oft über Monate hinweg, sind vielfach fester Bestandteil des Schulalltags geworden und lassen den Opfern Schulweg, Pausen und Freizeit zur Qual geraten. Häufig werden sie gegen ihren Willen selbst zur Begehung von Straftaten verleitet, um die unerbittlichen Schutzgeldforderungen ihrer Mitschüler erfüllen zu können.