Protokoll der Sitzung vom 08.05.2002

Wir können dieser Gefahr damit begegnen, indem wir grundsätzlich Waffen ächten, speziell an Schulen, formal und im alltäglichen Umgang. Wir sollten das Schulgesetz ausführlich ergänzen, wie es bisher vereinzelt in Hausordnungen der Fall ist, und wir sollten bei Zuwiderhandlungen – und das ist der wichtigste Punkt – vor Strafe nicht zurückschrecken. Der Waffenbesitz meist minderjähriger Schüler ist eine Straftat und sollte auch als solche geahndet werden. Keinem Lehrer oder Mitschüler kann zugemutet werden, direkt etwas gegen bewaffnete Mitschüler zu unternehmen. Daher ist ein vernünftiges Zusammenspiel zwischen Innen- und Schulpolitik unerlässlich. Wir sollten schnellstmöglich, wie bereits in unserem Wahlprogramm gefordert, einen Kontaktbeamten pro Schule benennen. Dieser so genannte SchünaBe muss den Schülern bekannt sein und ihnen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zusichern. Der SchünaBe ist der richtige Ansprechpartner beim Verdacht des Tragens illegaler Waffen. Dies ist nur ein kleiner Schritt, aber ein Schritt in die richtige Richtung.

Der dritte Aspekt, den ich noch kurz ansprechen möchte, ist der Konsum von Gewaltvideos und hauptsächlich Gewaltcomputerspielen. Diese nehmen instabilen Jugendlichen durch ihre virtuelle Art jeden Respekt vor menschlichem Leben und liefern teilweise die Anleitung zum Massenmord gleich mit. Ich halte dies für den gefährlichsten, aber auch am schwersten in den Griff zu bekommenden Aspekt. Werden sie verboten, erhöht es wahrscheinlich den Anreiz für einige und den Schwarzmarktpreis. Das Po

sitive ist jedoch, dass sich nicht jeder Jugendliche damit beschäftigen kann, was meiner Meinung nach heute noch viel zu leicht gemacht wird. Selbst Jugendliche, die keinen Computer besitzen, können in jedem Kaufhaus – und das auch noch vormittags – die Computerspiele ausleihen und benutzen. Ich fordere daher den Handel auf, das freiwillige Ausprobieren von Computerspielen erst am Nachmittag zu erlauben und das Angebot auf gewaltfreie Spiele zu reduzieren.

Ich befürchte, dass sich eine solche Tat nie ganz ausschließen lässt, hoffe aber für uns alle, dass nicht ausgerechnet wir und die ausufernden Medienberichterstattungen dazu beitragen, dass sich durch die nun geschenkte Aufmerksamkeit Nachahmer berufen fühlen.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Das Wort hat Frau Goetsch.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Auch wenn wir hier Antworten, Konsequenzen und Konzepte hinterfragen und suchen, ist jede Tat eine Einzeltat und der Täter trägt persönliche Verantwortung. Trotzdem versuchen wir, die verschiedenen Berufsgruppen und Professionen, nach Erklärungen zu suchen, gerade weil der Täter aus der so genannten gesellschaftlichen Mitte kam. Welche Botschaften gehen von dieser Tat an die Umwelt aus und lassen sie sich nicht auch einreihen in die Tatmuster von Freising oder von Meißen und von Littleton? Man muss sich fragen, warum ein junger Mann am helllichten Tage auf offener Bühne 16 Menschen tötet und dann Selbstmord begeht. Es gibt keine schnellen Antworten und Vorschläge. Auch die Vorschläge, die Schulen zu Hochsicherungstrakten zu machen, sind zu kurz gegriffen. Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen eine Kultur des Hinschauens in der Schule, Verantwortung in der Gemeinschaft, im Gemeinwesen und zum Beispiel auch in der Kooperation und Zusammenarbeit der Schulen in Sicherheitskonferenzen im Stadtteil.

Greift es nicht auch viel zu kurz, Gewaltvideos einfach nur zu verbieten, anstatt den Umgang mit Medien zu lernen? Alles andere ist meines Erachtens weltfremd. Es reicht auch nicht nur, das Waffengesetz zu verschärfen. Kindern gehört keine Waffe in die Hand gegeben, auch nicht in Sport- und Schützenvereinen.

(Beifall bei Dr. Dorothee Freudenberg GAL)

Ich bin nicht der Meinung des CDU-Vorsitzenden Wulff, der sagte, wenn alle Kinder in Deutschland im Schützenverein wären, gäbe es in Deutschland weniger Gewalt. Es reicht ebenso nicht alleine aus, das Schulgesetz in Thüringen zu ändern, was notwendig ist, um Schülerinnen eine Perspektive zu geben. Wir müssen die unsäglichen Selektionsmechanismen hinterfragen und ein anderes Schulklima schaffen. Ich bin derselben Meinung wie der Bundespräsident, der deutlich sagte, dass kein Jugendlicher ein hoffnungsloser Fall sein darf. Auch für diese Jugendlichen müssen Bildungsgänge offen stehen und möglich sein.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Wir müssen im aktuellen Tagesgeschäft innehalten und fragen, was solchen jungen Menschen in unserer Gesellschaft fehlt. Sollen Sie nur für die individuelle Karriere fit gemacht werden, für ökonomische Bedürfnisse, für den beruflichen Aufstieg? Wo lassen wir sie eigentlich allein?

(Katrin Freund Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Da stellt sich natürlich die Frage, was der Auftrag von Schule ist. Die Eltern erwarten viel, die Unternehmen erwarten viel, der Staat, die Politik. Die Anforderungen an Schule sind hoch. Sie soll ausbilden, sie soll fürs Leben vorbereiten, sie soll Wissen vermitteln und soziale Kompetenzen. Sie soll natürlich hinreichend auch Lesen und Schreiben beibringen und den Videokonsum vom Wochenende kompensieren und Werte vermitteln. Positiv wäre es natürlich, Schule wäre eine im Werden begriffene Gesellschaft, die dann auf das wirkliche Leben vorbereitet.

Insofern brauchen wir Pädagoginnen und Pädagogen, die nicht nur die Autobahnabfahrt des Stadtteils ihrer Schülerinnen und Schüler kennen, sondern auch das Umfeld, die Freizeitsituation der Kinder, und die Zeit haben für die Schülerinnen, auch für die Eltern, und auch Klassenlehrerinnen, die Hausbesuche machen können und müssen. Dazu brauchen Pädagoginnen und Pädagogen Zeit. Das bedeutet eine andere, veränderte Schulkultur, nicht nur sechs Stunden im Fünfundvierzigminutentakt, sondern sich Kümmern, pädagogische Begleitung und Hinsehen gerade in Bezug auf die unauffälligen Schülerinnen und Schüler, also auch die diagnostische Kompetenz der Kolleginnen.

Damit das gelingt, brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens, um Kooperation und Dialog von Elternhaus, Schule, Staat und Politik zu gewährleisten für die Bereitschaft, Schule umzugestalten und zu gestalten.

Der verstorbene Pädagogikprofessor Wolfgang Schulz sagte schon vor Jahrzehnten in der Lehrerinnenausbildung: Ihr unterrichtet keine Fächer, sondern junge Menschen.

Wer an dieser Stelle noch einmal abfällig von Kuschelpädagogik spricht, sollte vorher erst einmal nachdenken. – Danke.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort hat Herr Woestmeyer.

Sehr geehrtes Präsidium, meine Damen und Herren! Es ist nicht leicht, zu den Ereignissen in Erfurt zu reden, und es fällt zuweilen auch schwer, zu den Ereignissen in Erfurt zu schweigen. Es ist eine Tat, die uns alle bewegt und die uns auch allen nahe geht, weil sie mitten in unserer Gesellschaft stattgefunden hat, eben in einer Schule. Sie betrifft Schüler, sie betrifft Lehrer, sie betrifft Eltern, sie betrifft mich und alle, denen Schule und Bildung eine Herzensangelegenheit ist. Alle suchen dementsprechend nach Orientierung. Der fragende Blick vieler Menschen trifft dann auch die Politik, die sonst immer so schnell bei der Hand ist mit den Patentrezepten, mit den Lösungen, mit den schnellen Antworten. Es ist auch so verlockend. Man kann sich nach diesen Ereignissen oder vergleichbaren Ereignissen neben das Telefon setzen und auf die Anrufe der Presse warten. Die schnellste Antwort bringt auch meistens die größte Schlagzeile.

Aber, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen hier in der Bürgerschaft, die schnellste Antwort ist nicht die beste Antwort auf diese Fragen. Bei jeder Antwort sollten wir uns nicht von Wut, von Trauer und von Empörung leiten lassen.

Erinnern Sie sich an die Schlagzeilen der folgenden Tage? Gewaltspiele verbieten, hieß es. Viele Gewaltspiele sind verboten oder haben eine Altersbeschränkung und verbo

tener als verboten geht dann auch nicht. Den Tausch über das Internet erreichen wir nicht, ohne dass wir andere uns wichtige Freiheiten aufgeben. Also sollten wir zusehen, dass wir im Falle dieser Gewaltvideos und Gewaltspiele sie nicht noch interessanter machen und lernen, damit umzugehen.

Die nächste Schlagzeile: Videoüberwachung an Schulen. Von der Bluttat im amerikanischen Littleton, die so häufig zum Vergleich herangezogen wird, gibt es Videobilder. Aber die Kamera dort hat eben auch nur aufgezeichnet und nichts verhindert.

Waffenbesitz erst ab 21 Jahren, war die nächste Schlagzeile. Und wenn ein Zweiundzwanzigjähriger mordet, sagen wir dann, erst ab 25 Jahren, und wenn ein Sechsundzwanzigjähriger mordet, sagen wir dann erst ab 30 Jahren? Nein, 18 ist die im Konsens festgelegte Grenze der vollen Verantwortung. Jedes Rütteln daran ist aus meiner Sicht pures Misstrauen gegen eine ganze Generation.

Nächste Schlagzeile: Jeder dritte Schüler geht bewaffnet zur Schule. Ja, so etwas hat in der Zeitung gestanden, so etwas liest man am Tag nach Erfurt. Das ist blanker Unfug. Es stimmt nicht. Schule ist friedlicher als die Gesellschaft um sie herum. Trotzdem muss man eingestehen, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann. Ich, als Schulpolitiker, lasse mir Schule, lasse mir Schüler und lasse mir Lehrer nicht schlecht reden. Schule ist der Ort, wo Gesellschaft zusammenwächst. Schule ist der Ort des Zusammenseins, der Kommunikation. Er ist aber auch der Ort der Leistung und es ist auch der Ort, der aufzeigen muss, wie man mit Leistung und auch mit Versagen umgeht, der Grenzen aufzeigt und vermittelt, wie man mit den Grenzen untereinander und dann auch in der Gesellschaft umgeht.

Ich möchte das besonnene Handeln der Schulbehörde ausdrücklich begrüßen. Sie hat am ersten Unterrichtstag die erste Unterrichtsstunde genutzt, um diese Diskussion an den Schulen zu ermöglichen. Sie erarbeitet besonnen Konzepte der Gewaltprävention. Sie weiß um die Vielfalt der Gewalt, um verbale Gewalt, um psychische Gewalt, um Gewalt, die nicht gleich den Weg in die Schlagzeilen der Zeitungen findet und die trotzdem ein Moment unserer Gesellschaft ist, mit dem wir umgehen müssen, damit es nicht zu solchen Ausbrüchen kommt, wie wir sie in Erfurt miterleben mussten.

An uns, an die Politik, geht mein Aufruf, Besonnenheit zur Maxime unseres Handelns zu machen. Ebenfalls an uns geht mein Aufruf als Schulpolitiker an Sie, Schule nicht anzugreifen, sondern Schule stark zu machen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Das Wort hat Herr Senator Lange.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Auch heute, zwölf Tage nach dem erschütternden Ereignis sind wir noch immer zutiefst entsetzt über das grausame Geschehen. Wohl jeder, der, wie der Zweite Bürgermeister und ich, an der Trauerfeier in Erfurt teilgenommen hat, wird die bewegenden Bilder nie vergessen. Sie haben sich in meinem Herzen tief eingeprägt.

Schon mehrfach wurden in Deutschland Lehrerinnen und Lehrer Opfer von Gewaltverbrechen, aber noch nie wurde mit einer solch entsetzlichen Brutalität gehandelt, wie es

(Christa Goetsch GAL)

der Täter in Erfurt tat. Die Beweggründe werden wohl nie ganz aufgeklärt werden können und es bleiben viele Fragen offen. Unsere Gesellschaft muss sich fragen, wie wir ganz allgemein mit Gewalt umgehen. In den Medien wird Gewalt allzu oft als einfaches Mittel zur Problemlösung dargestellt und die Gewaltbereitschaft insgesamt hat leider zugenommen.

Diese Gewaltbereitschaft kann auf lange Sicht nur durch ein grundlegendes Umdenken der Gesellschaft gesenkt werden. Dabei müssen sowohl Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler als auch alle anderen gesellschaftlichen Gruppen mitwirken. Unsere Schulen sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft und damit werden auch die gesellschaftlichen Probleme in die Schulen hineingetragen. Aber die Schulen können diese Probleme nicht alleine lösen. Das geht nur im gemeinsamen Miteinander. Ich würdige daher ausdrücklich den engagierten Einsatz aller, die Tag für Tag dafür sorgen, dass in unseren Schulen ein aufgeschlossenes Bildungsklima geschaffen wird. Die Lehrenden und die Lernenden brauchen den Rückhalt und die Unterstützung der ganzen Gesellschaft.

(Beifall im ganzen Hause)

Unsere Schulen sind offene Orte der Kommunikation und Begegnung und sie sollen es auch bleiben. Die Lehrerinnen und Lehrer sind, wie wir gesehen haben, dabei besonders gefährdet. Dieses weiß ich wohl und würdige es ausdrücklich. Die Kultusministerkonferenz wird sich intensiv mit dem Thema Gewalt beschäftigen. Wir werden in vierzehn Tagen auf der Wartburg gemeinsam darüber beraten, welche weiteren Schritte zum Abbau der Gewaltbereitschaft insgesamt in unseren Schulen unternommen werden müssen. Dabei werden wir unsere Erfahrungen austauschen müssen.

Hamburg hat in der Vergangenheit schon viel getan, das sage ich deutlich und würdige es. Es gibt die Beratungsstelle für Gewaltprävention und Fachreferenten in der Behörde für Bildung und Sport, es gibt viele pädagogische Initiativen in den Schulen, wie Klassenrat, Streitschlichtergruppen und auch sehr viele Gespräche in den Klassenräumen, Lehrer- und Schulleiterzimmern. In der Innenbehörde ist durch den Gesprächskreis und vielfach schon vor Ort die Zusammenarbeit mit Schulen intensiviert worden. Die Schulen arbeiten in vielen Stadtteilen mit REBUS als Beratungsstelle und mit den Erziehungshilfeeinrichtungen der Stadtteilinitiativen zusammen.

Was werden wir darüber hinaus tun? Der Senat wird die Aktivitäten verschiedener Behörden zum Thema der Gewaltprävention bündeln. Ich will den Ergebnissen des Arbeitskreises unter Leitung von Staatsrat Dr. Behrens, in dem auch andere Organisationen mitarbeiten, nicht vorgreifen, aber eins steht für mich fest: Der zunehmenden Aggression und Gewaltbereitschaft in den Schulen, vor allem in den sozialen Brennpunkten, und der Verunsicherung von Lehrern, Schülern und Eltern ist mit kurzfristigem Aktionismus und starken Worten nicht beizukommen. Wir brauchen eine Initiative, die aus meiner Sicht sieben Punkte umfassen sollte.

Erstens: Ein neues Klima der Zivilcourage.

Zweitens: Konflikte sollten zeitnah und unbürokratisch behandelt werden.

Drittens: Die Schülerinnen und Schüler müssen ernst genommen und in Entscheidungen mit einbezogen werden.

Viertens: Wir brauchen verbindliche und gemeinsam vereinbarte Regeln.

Fünftens: Lehrerinnen und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, die genannten Prozesse zu moderieren, aber auch zu bewältigen.

Sechstens: Eltern müssen einbezogen werden.

Siebtens: Für Notfälle benötigen wir eine kompetente und schnell funktionierende Hilfestellung zum Beispiel durch eine Taskforce-Sicherheit.

(Erhard Pumm SPD: Das Gegenteil wird eintreten!)

Eine solche Hamburger Initiative soll einen Klimawechsel in der Schule bewirken, wo dies notwendig ist, soll das selbstbewusste Auftreten der Schule sowohl nach innen stärken, nämlich im Alltag der Schüler, Lehrer und Eltern und soll auch in ihrer Vorbildfunktion gegenüber der Öffentlichkeit bundesweit wirken.