Protokoll der Sitzung vom 06.02.2003

(Vizepräsident Farid Müller übernimmt den Vorsitz.)

Um sich dieses Bild machen zu können, kann der Richter zunächst in den Computer schauen und die darin enthaltenen Daten abfragen. Aber es steht bei weitem nicht alles drin, was für die Entscheidung über den Haftbefehl wichtig ist. Der Verdächtige kann dann noch befragt werden. Aber auch das führt nicht immer unbedingt weiter, denn der Verdächtige weiß oft wirklich nur das Beste von sich zu berichten. Deswegen ist es besonders wichtig, dass der Richter in die Akten schauen kann, um die Angaben des Verdächtigen zu überprüfen. Die Akten von Intensivtätern werden womöglich aber gerade quer durch die Stadt in ein anderes Gericht transportiert. Außerdem stehen nicht immer so wichtige Akten wie das Vollstreckungsheft zur Verfügung. Es ist dann für den Richter nicht überprüfbar, ob der Jugendliche tatsächlich seine Arbeitsauflagen einhält oder ob er dem Richter Märchen über seine gute Führung erzählt. Wenn die Richterin oder der Richter solche Dinge nicht mehr weiß – ob es sich um einen Wiederholungstäter handelt oder ob der Jugendliche seine Bewährungsauflagen bricht –, wenn also alle diese wichtigen Informationen bei der Entscheidung über die Haft zukünftig nicht mehr zur Verfügung stehen, ist zu erwarten, dass die Jugendlichen vom Richter auf freien Fuß gesetzt werden müssen, und zwar auch solche Beschuldigten, bei denen es zum Beispiel wegen akuter Wiederholungsgefahr gerade in diesem Moment nicht geschehen sollte. Das ist die Realität, Herr Senator Kusch, die Sie zukünftig zu verantworten haben.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Herr Senator Kusch wird es sich möglicherweise wieder etwas leicht machen und auf die Staatsanwälte und Richter schimpfen, die die Haftbefehle in einem solchen Fall ablehnen. Das wird er wahrscheinlich unter die Rubrik „Das Kartell der strafunwilligen Jugendrichter“ fassen.

(Dirk Nockemann Partei Rechtsstaatlicher Offen- sive: Sie machten es sich leicht mit der Vergan- genheit!)

Herr Kusch, ich sage Ihnen jetzt etwas, was mir schon lange stinkt: Sie sind derjenige, der die Rahmenbedingungen für die Entscheidungen in der Hamburger Justiz zu verantworten hat. Ich habe es satt, wenn Sie sich nicht hinter Ihre Richterinnen und Staatsanwälte stellen, sondern deren Entscheidung sogar kritisieren und gleichzeitig ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern. Übernehmen Sie endlich Verantwortung für Ihre Politik, Herr Senator!

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Wenn wir schon beim Thema Sicherheit sind, Herr MüllerSönksen:

(Burkhardt Müller-Sönksen FDP: Es kann jetzt nur noch schlechter werden!)

Die Polizei ist ja Ihr Lieblingsthema. Sie wird auch unter der Dezentralisierung leiden müssen, denn dort werden erhebliche Personalressourcen gebunden.

(Dirk Nockemann Partei Rechtsstaatlicher Offen- sive: Machen Sie sich mal sachkundig!)

Herr Nockemann sagt, ich soll mich sachkundig machen. Seit wann sind Sie Justizpolitiker?

Bei der Polizei werden erhebliche Personalressourcen durch die Dezentralisierung gebunden. Denn wenn die Polizei einen Durchsuchungsbeschluss oder beispiels

(Christian Maaß GAL)

weise eine Telefonüberwachung gegen einen Jugendlichen erwirken will, dann geht sie heute zunächst zur Staatsanwaltschaft, bringt den Antrag von dort aus zu Fuß ins gegenüberliegende Gerichtsgebäude und wartet auf die Ausfertigung. Das geht relativ schnell, weil vom Pool aller Jugendrichter immer einer speziell zum Eildienst eingeteilt ist. In Zukunft muss die Polizei den Antrag von der Staatsanwaltschaft nach Harburg oder Blankenese oder wohin auch immer fahren. Wenn sie Pech hat, dann sitzt der zuständige Jugendrichter gerade in einer Hauptverhandlung oder ist gar nicht vor Ort. Mit anderen Worten: Die Maßnahmen von Senator Kusch werden dazu führen, dass die Polizeivollzugsbeamten jährlich mehrere hundert Dienststunden damit verbringen, sinnlos vom Sievekingplatz zu irgendwelchen Außengerichten zu fahren und dort auf den Gerichtsfluren herumzuhängen. Das ist nicht im Sinne der Sicherheit.

(Richard Braak Partei Rechtsstaatlicher Offensive: Haben Sie schon mal etwas von einem Faxgerät gehört?)

Die Polizeibeamten würden besser daran tun, ihren Dienst auf der Straßen zu schieben. Das ist die Realität Ihrer Politik, dass die Polizisten in der Gegend herumfahren und auf Gerichtsfluren herumhängen werden.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Dazu kommt auch noch der zusätzliche Personalbedarf beim Zuführdienst, von dem ich jetzt aber gar nicht reden möchte.

Die erheblichen baulichen Kosten, die auch hier auf uns zukommen, wurden auch schon angesprochen.

(Dirk Nockemann Partei Rechtsstaatlicher Offen- sive: Kommen Sie mal in den Innenausschuss! Da wird es Ihnen erklärt! – Gegenruf von Michael Neu- mann SPD: Von wegen!)

Diese Investitionen – die baulichen Kosten und auch die Kosten für die zusätzlichen Zuführfahrzeuge und Zuführbeamten – sollten Sie für die Prävention der Jugendkriminalität ausgeben. Aber genau da wird das Geld in Zukunft wieder fehlen.

Man fragt sich, warum der Senat die Gerichte trotz all dieser Argumente dezentralisieren will. Herr Senator Kusch kennt diese Gegenargumente ganz genau, nimmt sie aber billigend in Kauf. Der einzige Grund liegt darin, dass Herr Kusch ein Problem mit dem Jugendgerichtsgesetz hat. Dort steht geschrieben, dass ein Jugendrichter eine erzieherische Kompetenz haben sollte. Diese Kompetenz hält Herr Kusch bei den derzeitigen Richterinnen und Richtern nicht für gegeben, weil sie nicht auf seiner ideologischen Linie liegen. Diese Richterinnen und Richter sollen abgestraft und deswegen soll das Bezirksjugendgericht zerschlagen werden. Den Kollateralschaden haben die Menschen in dieser Stadt zu tragen, Herr Senator Kusch.

(Dirk Nockemann Partei Rechtsstaatlicher Offen- sive: Das war noch nie Ihre Sorge!)

Deswegen bin ich gegen die Dezentralisierung des Jugendgerichts.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Herr Müller-Sönksen bekommt das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kerlin, Sie haben gesagt,

dass der Justizsenator nicht rechnen könne. Ich könnte den Kollegen Kusch mit dem schönen Satz „judex non calculat“ aus dem Schlamassel holen. Aber war es nicht Ihre Justizsenatorin, die irgendein elektronisches Bewachungsinstrument angeschafft und bezahlt hat, das hinterher überhaupt nicht mehr existent war?

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Wenn wir schon beim Rechnen sind, Herr Maaß: Auch da kann man sagen „judex non calculat“. Auf der Veranstaltung, von der Sie gerade gesprochen haben, waren nicht 200, sondern 100 Menschen.

(Christian Maaß GAL: Sie waren auch nicht da!)

Ich war auch nicht da.

(Heiterkeit bei der GAL – Christian Maaß GAL: Ich war da!)

Sie zitieren aus Zeitungen und anderen Quellen; das kann ich genauso tun. Auf jeden Fall ist Ihre Brille ein wenig zu hoch.

Ich will gar nichts über die zarten Pflanzen sagen, die von Frau Kerlin ganz versöhnlich gesetzt wurden: Lassen Sie doch einmal dieses Reformmodell eine Zeit lang laufen und dann die entsprechenden Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Selbstverständlich, Herr Maaß, werden wir dabei auch Kostengesichtspunkte mit zu berücksichtigen haben, die sich immer bei einer Dezentralisierung als nachteilig ergeben können.

Ich könnte es jetzt auch ein wenig polemisch darstellen. Aber ich mache es nicht mit dem moralischen Zeigefinger wie Sie, sondern mit ein bisschen Ironie im Gesicht und in der Stimme:

(Oh-Rufe bei der GAL)

Indem ich einen Juliusturm in Hamburg baue, in dem ich die gesamte Hamburger Verwaltung unterbringe. Dazu gehören natürlich auch die Bezirksämter und die Ortsämter. Dann habe ich keinen Aktenverkehr auf den Straßen mehr, weil ich alles mit dem Fahrstuhl transportieren kann. Natürlich gibt es auch eine Kantine und alle diese schönen und netten Vorteile, die sich daraus ergeben, dass man ein zentrales Gebäude mit einer zentralen Kommandoverwaltung hat. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass diese Verwaltungsform gescheitert ist, denn die Bürger kommen dort nicht an. Es ist richtigerweise gesagt worden – ich glaube, das waren Sie, Frau Kerlin –, dass auch Gerichte zur Verwaltung gehören, weil sie ein Teil der Dienstleistungen für den Bürger sind.

Ich möchte mich von meinen Koalitionskollegen pointiert ergänzend absetzen: Bei der Jugendkriminalität handelt es sich eben nicht um gemeine Straftäter, sondern um sehr junge Menschen, die zu einem frühen Zeitpunkt durch das Jugendgerichtsverfahren einer Korrektur bedürfen. Ich habe das heute zum ersten Mal gehört, dass die Vorladungszahlen bei den dezentralisierten Gerichten sehr erfolgreich sein sollen. Das wäre zum Beispiel ein jugendgerichtspolitischer Erfolg, der mit den hohen – von Ihnen auch heraufbeschworenen – Mehrkosten gar nicht richtig aufgewogen werden kann. Wie teuer ist es, Herr Maaß, jemand nicht wieder auf den richtigen Weg zurückzubringen? Das wäre dann die Alternative.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive – Dr. Andrea Hilgers SPD: Dazu muss man aber Akten studieren!)

(Christian Maaß GAL)

Ein letztes Wort zu der Behauptung, dass dieser Senat die Unabhängigkeit der Gerichte und vor allem auch die Arbeit der Staatsanwälte nicht würdigt und ernst nimmt.

Es war dieser Senat, der die Mittel für die Staatsanwaltschaft um 6 Millionen DM aufgestockt und die Einsparungsverpflichtungen, die Sie noch in Ihrer Regierungszeit verordnet haben und von Frau Peschel-Gutzeit als Kredit bis zum Ende der Legislaturperiode vorgesehen wurden, zurückgenommen hat. Selbstverständlich wird dieser Senat auch in Zukunft für die Unabhängigkeit der Gerichte ohne Wenn und Aber sorgen.

Die Unabhängigkeit der Richter, Herr Maaß, ist immer gegeben, ob zentral oder dezentral. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie sich aus diesem Grunde gegen eine Dezentralisierung aussprechen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Das Wort hat Senator Kusch.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Dieser Senat ist mit dem Versprechen angetreten, Hamburg sicherer zu machen, als es vorher war, und überhaupt manche Dinge besser zu machen als in der Vergangenheit. Er hat aber nie die Behauptung aufgestellt, dass er das Rad der Geschichte neu erfinden will oder dass alles, was er macht, von ihm erfunden oder ausgedacht wird.

Auch das Thema, über das wir heute sprechen, ist keine Erfindung dieses Senats oder der Koalition. Es ist auch noch nicht einmal originell, dass die Dezentralisierung der Bezirksjugendrichter in der Koalitionsvereinbarung steht, denn schon im Jahre 1987 gab es einen Antrag in der Bezirksversammlung Harburg auf Forderung eines Jugendgerichts.