Protokoll der Sitzung vom 23.01.2002

Sie haben hinsichtlich der Deutschkenntnisse oder der Fördermöglichkeiten in ganz kurzer Zeit eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen, die atemberaubend ist.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Kommen wir noch einmal zu dem Punkt, der Ihnen, Hamburgs Sozialdemokraten, mit Sicherheit sehr schmerzhaft ist, nämlich der Förderung der Haupt- und Realschulen und der damit zusammenhängenden Chancengleichheit. Ist es denn wirklich eine stolze Zahl, dass von Jahr zu Jahr erst 11, 12, 13 und dann 14,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen die Schulen ohne Abschluss verlassen? Ist das sozial? Das ist alles andere als sozial und hat nichts damit zu tun, dass wir in dieser reichen Stadt, in der Sie Jahrzehnte die Verantwortung getragen haben, heute Chancengleichheit haben. Es geht bei der Frage der Chancengleichheit nicht um Schnellschüsse, sondern darum, im Anschluss an die Schule auch Ausbildungsplätze zu finden, beispielsweise den praktisch begabten Auszubildenden, den schwächeren Jugendlichen eine Chance zu geben. Diesen Beweis sind Sie schuldig geblieben und dafür ist Frau Raab insbesondere kein gutes Beispiel.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Ich komme zu dem wichtigen Punkt, dass entsprechende Maßnahmen natürlich Geld kosten. Sicher ist es richtig, dass man aus Sicht der jetzigen Opposition hier und da noch mehr fördern könnte und müsste. Wir alle kennen aber die Wahrheit eines nicht ausgeglichenen Betriebshaushalts, den Rotgrün als Scherbenhaufen hinterlassen hat, plus die nach unten korrigierte Steuerschätzung, die – das will ich Ihnen zugute halten – zumindest nicht primär mit sozialdemokratischer Politik zu tun hat. Es ist aber noch nicht lange her, dass Sie vor einem Jahr 120 Lehrer

(Wilfried Buss SPD)

stellen in dieser Stadt gestrichen haben, die dem Spardiktat von Ortwin Runde und Co. zum Opfer gefallen sind. Das darf in dieser Debatte nicht unerwähnt bleiben.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Mehr Bildung, bessere Chancen, Ganztagsbetreuungsangebote ohne pädagogische Kräfte und ohne Lehrerstellen, geht nicht. Diese Gleichung geht nicht auf. Daher hat der Senat mit den 180 neuen Lehrerstellen, die Senator Lange erwähnt hat, ein ganz klares Zeichen gesetzt, wofür wir sind. Es geht uns darum, Chancengleichheit im Zeitablauf wieder herzustellen, damit Jugendliche auf dem Wege dahin einen Schulabschluss erreichen, und insbesondere auch um die ungleichgewichtigen Situationen zu beseitigen – wie die PISA-Studie feststellt –, damit auch Jugendliche aus sozial schwächeren Familien eine Chance haben, das Abitur zu machen. PISA und LAU 9 stellen übereinstimmend fest, dass es bei Schülerinnen und Schülern in Hamburger Schulen mit höheren Bildungsgängen leider keine Chancengleichheit gibt. Dieses wird ebenfalls ein Korrekturpunkt unserer Koalition sein. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Das Wort hat Frau Goetsch.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich möchte noch einige Ergänzungen zu diesen Ausführungen machen; Herr Lange ist jetzt wieder im Saal, so dass ich direkt antworten kann.

Die KMK schreibt dummerweise vor, dass man die Stunden erhöhen muss, insofern ist es keine neue Erfindung. Es ist doch klar, dass die Stunden erhöht werden müssen, wenn man das Abitur nach zwölf Jahren machen will.

Bei der PISA-Studie geht es aber nicht darum zu debattieren, wie viele Stunden es mehr oder weniger sein müssen, sondern darum, was tatsächlich inhaltlich passiert. Herr Lange, ich gebe Ihnen sofort Recht und würde mich sehr freuen, wenn Sie die wunderbaren Dinge, die schon alle angeschoben sind – Sie haben PROREGIO angesprochen –, weiter unterstützen. Die sechs weiteren Standorte waren jedoch im letzten Haushalt schon eingestellt und nur wir alle gemeinsam können es erreichen, wobei ich die Kontinuität begrüße. Ich begrüße es aber nicht, dass Sie gleichzeitig wieder an den Mittagstischen sparen. Das ist ein Widerspruch.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Ich möchte gern noch einmal auf die Inhalte zurückkommen und fragen, ob Sie die Kontinuität wie bei den Ganztagsschulen und bei PROREGIO auch bei den 1998 in Kraft gesetzten neuen Stundentafeln verfolgen und weiter betreiben werden – ich kann ja nur über das reden, was ich mitgetragen habe, was davor passiert ist, ist nicht unsere Sache, bei denen beispielsweise die Schüler-Grundstunden in den Hauptschulen erhöht wurden. Darüber wird auch debattiert und ich gehe daher davon aus, dass Sie das weiterbetreiben werden.

Dazu gehört auch die zentrale Frage der Standardsicherung. Eine Standardsicherung bekomme ich, Herr Drews, nicht mit alten Zöpfen weg, wie Noten in der Grundschule, sondern beispielsweise mit eingeleiteten Maßnahmen wie der Einführung von Vergleichsarbeiten und Abschlussver

fahren am Ende der Sekundarstufe I. Das sind Maßnahmen, die tatsächlich in die Qualität des Unterrichts einwirken. Dazu gehören die Bildungspläne, die einen verbindlichen Rahmen vorsehen, Projekte, die hier noch nie erwähnt wurden, aber durch LAU und TIMSS losgetreten worden sind. Es geht darum, die Rahmenpläne von Mathematik und eine korrespondierende Fachtagung zu initiieren, um eine Neuausrichtung des Mathematikunterrichts zu beginnen. Das alles ist in Angriff genommen worden und ich hoffe sehr, Herr Lange, dass Ihre Behörde und Sie das weiter fortsetzen.

Damit komme ich zu meinem Spezialthema, den Migrantenkindern, Herr Drews, und den bilingualen Grundschulen, die beispielsweise ein Weg sind und die – wie ich gehört habe – auch aus Ihrer Sicht weiter verfolgt werden sollen. Das kann ich nur begrüßen. Da geht es nicht um die 180 Grad Kehrtwende, sondern um den Weg zum Ziel und jetzt wieder zurück zu PISA.

Wenn Sie die Studie gelesen haben, wissen Sie, dass in allen anderen europäischen Ländern die Migrantenkinderförderung, die Integrationsförderung im frühen, vorschulischen Alter und in der Grundschule – immer unter Berücksichtigung der Herkunftssprache – durchgeführt wird. Das heißt, es geht um Deutschlernen, aber immer unter Berücksichtigung der Herkunftssprache. Insofern ist mir die 180 Grad Drehung nicht nachzuweisen. – Danke.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort hat Herr Dr. Schinnenburg.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Goetsch! Erst einmal wundere ich mich, dass Sie sich jetzt für die Migrantenkinder einsetzen.

(Krista Sager GAL: Das ist unverschämt!)

Ich kann mich entsinnen, dass unter Ihrem Senat gerade die Spracherziehung nichtdeutscher Kinder abgebaut und vernachlässigt wurde. Da hätten Sie mal anfangen sollen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive – Krista Sager GAL: Null Ahnung!)

Ansonsten haben Sie die typische Rede eines klassischen altgedienten Politikers gehalten. Sie haben mit Stichworten um sich geworfen. Ich zitiere: Schülergrundstunden, Standardisierung, Bildungspläne und so weiter. Ich gehe etwas simpler daran. Ich bin zum einen Vater eines schulpflichtigen Kindes und zum anderen bin ich Ausbilder. Ich habe gerade mal nachgezählt und glaube, ich betreue jetzt den neunten Lehrling in meiner Praxis. Ich frage mich, ob meine Kinder gut ausgebildet werden. Können sie später lesen, schreiben und rechnen und können das auch meine Lehrlinge? Ich muss Ihnen sagen, dass mich die PISA-Studie überhaupt nicht überrascht. Wenn darin steht, dass 24 Prozent der Fünfzehnjährigen in der Mathematik noch nicht einmal Grundkenntnisse haben, dann vermute ich – nach meinen eigenen, nicht repräsentativen Erfahrungen –, dass die Daten in Wirklichkeit sogar noch schlechter sind.

Wenn ich von Gewerkschaftsseite höre – auch die SPD ist immer munter dabei –, dass die bösen Arbeitgeber zu wenig Lehrlinge einstellen, dann muss ich sagen, dass sie den Arbeitgebern keine Chance geben, gute Lehrlinge zu bekommen; das ist der Punkt. Hamburger Handwerksmeis

(Wolfgang Drews CDU)

ter würden doch gern eine Menge mehr Lehrlinge einstellen, aber was sollen sie mit Jugendlichen aus dem Hamburger Schulsystem, die nicht einmal vernünftig rechnen und schreiben können. Man kann sie in vielen Berufen nicht weiter ausbilden.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Sie wissen genau so gut wie ich, dass es maßgeblich auf die kleinen und mittleren Unternehmen ankommt. Große Unternehmen können es sich vielleicht noch leisten, eigene große Bildungsabteilungen zu haben. Das können aber die kleinen und mittleren Betriebe nicht. Sie sind darauf angewiesen, gut vorgebildete und mit den Grundfertigkeiten ausgestattete Lehrlinge zu bekommen. Daran fehlt es und das ist in Hamburg sicher besonders schlimm, ich kann es selbst beurteilen.

Im ersten Beitrag von Frau Goetsch – was es im Einzelnen war, habe ich leider vergessen – wurde das Paarungsverhalten von Tieren angesprochen – welche waren es noch gleich? Aber das ist ja gerade das Problem, dass Sie so etwas ausführlich bis zum Letzten in Hamburger Schulen unterrichten; aber die, die sich da paaren, können nicht einmal zählen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive – Uwe Grund SPD: Ist Ihnen das nicht peinlich?)

Bildungssenator Lange wird mit seinem Senat dafür sorgen, dass in Hamburger Schulen Grundfertigkeiten von allen Schülern beherrscht werden. Auf diese Weise werden der gesamte Senat und die Regierungsfraktionen Hamburgs Kinder, die genau so plietsch sind wie alle anderen, wieder an die bundesweite Spitze führen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Entschuldigung, Frau Koop, ich habe Sie zwar zuerst gesehen, aber es gab auch eine Wortmeldung in der Reihe der anmeldenden Fraktion. Herr Bauer, Sie haben sich zu Wort gemeldet, dann haben Sie jetzt das Wort, danach Frau Koop.

(Michael Neumann SPD: Jetzt kommt die Geheim- waffe: Der innenpolitische Sprecher zur Schulpoli- tik!)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Reaktionen auf die PISA-Studie könnten zu der Schlussfolgerung verleiten, die verantwortlichen Bildungspolitiker hätten vorher gar nicht gewusst, wie miserabel unser Schulsystem im Vergleich zu anderen Ländern ist.

Dabei hätten Sie mal einen Handwerksmeister, einen kaufmännischen Ausbildungsbetrieb oder einen anderen x-beliebigen Menschen auf der Straße fragen müssen. Was ist zu tun? Als Erstes sollten wir Eltern schulpflichtiger Kinder den zuständigen wie verantwortlichen Politikern eine fristlose Kündigung schreiben. Das haben sie in Hamburg schon vorweg am 23. September 2001 getan.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der CDU)

Gerade weil der SPD-Wahlslogan „Gute Politik hat Zukunft“ stimmt, ist der rotgrüne Senat abgewählt worden, gehört rotgrüne Politik der Vergangenheit an.

(Barbara Duden SPD: Was hat das mit PISA zu tun?)

Denn PISA ist nicht die erste Studie, die unseren Schulen ein Armutszeugnis ausstellt. Passiert ist nichts oder sehr wenig.

Ich kann daher nur hoffen, dass wenigstens jetzt, nachdem andere Länder ihre Witze über uns machen und die PISAStudie 2003 und 2006 wiederholt wird, umfassende Reformen verabschiedet werden. Der neue Senat, insbesondere der Schulsenator, werden dafür die richtigen Weichen stellen. Neugierige können sich im Internet die Ergebnisse der Studie genauer ansehen. Auf Seite 29 finden Sie den vielleicht wichtigsten Satz:

„Offensichtlich gelingt es in Deutschland nicht so wie in anderen Ländern, die schwachen Schülerinnen und Schüler zu fördern.“

Dieses Fazit zielt im Wesentlichen auf die gesamte Hauptschule. Ein ganzer Schulzweig wurde über Jahre abgeschrieben und mangelverwaltet. Auch die Grundschule ist viel zu lange vernachlässigt worden.

Können wir es uns als große Industrienation leisten, ein Viertel aller Schüler mehr recht als schlecht durch die neunjährige Schulpflicht zu drücken, um sie dann der Perspektivlosigkeit zu überlassen? Die Arbeitsämter jammern, dass die Hälfte der über vier Millionen Arbeitslosen keine Ausbildung oder zu geringe Qualifikationen hat. Auf der anderen Seite entlassen wir Schülergeneration um Schülergeneration, die für die Berufswelt nur mangelhaft ausgebildet ist. Ist das Absicht oder Dummheit?

Deutschland ist leider gerade im Bildungswesen eine strikte Klassengesellschaft. Wenn Eltern aus unterem sozialen Milieu ihren Kindern erzählen, streng dich an und du wirst deine beruflichen Ziele erreichen, dann gilt dieser Satz gerade in Deutschland nicht. In keinem anderen Land entscheidet die soziale Herkunft derart stark über die künftige Schullaufbahn wie bei uns. Unten bleibt unten und oben bleibt oben. Nach der vierten Klasse wird sortiert, fertig. Nicht nur Kinder resignieren, auch deren Eltern. Dabei bin ich mir sicher, dass mit Fördermaßnahmen und einer teilweisen Aufhebung des Sortierens sowohl bei Eltern wie auch bei Schülern mit mehr Engagement gerechnet werden darf.