Protokoll der Sitzung vom 24.01.2002

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Das Wort bekommt die Abgeordnete Goetsch.

(Burkhardt Müller-Sönksen FDP: Aber nicht die PISA-Studie!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bildung in der frühen Kindheit – lassen Sie mir einen Exkurs zu, um diesen Antrag zu begründen, da doch eine Menge Hintergrund nötig ist, um zu Ergebnissen zu kommen –, Bildung in der frühen Kindheit ist ja keine neue Idee. Selbst Goethe bemerkte schon:

„Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies.“

(Karl-Heinz Ehlers CDU: Das droht uns heute nicht!)

Wir wollen ja weiter „Schätze heben“, Benachteiligungen aufheben und Bildung und Betreuung zusammenführen. Es geht mir nicht nur um die Migrantenkinder, es geht mir um alle fünfjährigen Kinder in Hamburg.

Schon in den siebziger Jahren – deshalb, Frau Freund, fangen wir hier nicht bei Null an – ist die Elementarerziehung, also die Erziehung vor der Grundschule, in die Bildungskonzepte aufgenommen worden als erste Stufe des Gesamtbildungswesens. Auch in Hamburg wurden zu dieser Zeit die Vorschulkonzepte nicht nur entwickelt, sondern die Vorschule wurde installiert und das Angebot ausgebaut. Und wenn Sie – ich habe das Buch dabei – die Richtlinien für die Erziehung in Vorschulklassen von damals lesen, dann meint man, es sei eine vorbildliche Antwort auf die Ergebnisse der PISA-Studie, wenn man einmal ausnimmt, dass damals Kinder anderer Muttersprachen noch nicht in dieser Zahl in unseren Schulen unterrichtet wurden.

Ich will nur drei von 24 Stichworten nennen, die dort als Ziele vorgegeben sind; ich finde es hochspannend. Da wird gesagt, sie sollen an Probleme herangehen und sie lösen wollen, sie sollen bereit und fähig zum Lernen und Leisten sein, sie sollen sich sprachlich, bildnerisch, musikalisch und pantomimisch ausdrücken wollen und können und vieles mehr. Nach wie vor aktuell ist für viele Kinder der Ausgleich von Benachteiligungen. Erschwerend ist die wachsende Armut in Großstädten, nicht nur in Hamburg. Diese Erscheinung in den letzten Jahren bedarf der Kompensation.

Zweitens haben – darauf ist natürlich ein Schwerpunkt zu legen – die Kinder anderer Muttersprachen zentrale Bedeutung, wobei die Sprachförderung natürlich nicht erst mit fünf Jahren losgeht. Das ist eine Aufgabe, die schon viel früher im Kindergarten beginnen muss. Es geht nicht allein um eine Kindergartenpflicht, denn 93 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund gehen in Hamburg in den Kindergarten, aber die Frage ist die der Konzepte. An der Betreuungsaufgabe, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren im Vordergrund stand, wollen wir auch weiterhin festhalten. Es waren sozialpolitische, familienpolitische, frauenpolitische Gründe, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Das wollen wir keinesfalls abbauen, im Gegenteil. Aber wir wollen Betreuung und Bildung zusammenbringen, das heißt den Übergang vom Kindergarten in die Schule optimal gestalten und deshalb das „Bildungsjahr Fünf Plus“.

Der Gesetzgeber sieht das längst vor. Im KJHG im Sozialgesetzbuch lautet der Auftrag für Kitas, nicht nur zu betreuen, sondern vorschulische Bildungsarbeit zu leisten. Umgekehrt bedeutet das für die Vorschule, die Kinder nicht nur mit Bildung zu beglücken, sondern auch verlässlich zu betreuen. Dieser Punkt ist mir ganz wichtig, denn eigentlich muss die Vorschule in die Verlässlichkeit der Verlässlichen Halbtagsgrundschule mit aufgenommen werden, damit wirklich Bildung und Betreuung in der Vorschule gewährleistet ist. Es soll kein Gegeneinander von Kita und Vorschule geben, sondern Bildung und Betreuung sollen gewährleistet werden, um die Anschlussbetreuung vor allen Dingen in der Vorschule besser zu garantieren.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Die öffentliche Debatte um die Bildung in der frühen Kindheit ist seit geraumer Zeit im Gange und das nicht erst seit PISA. Das Forum Bildung der Bildungsministerin hat, wie auch die Hans-Böckler-Stiftung, in den letzten Jahren Vorschläge zur frühkindlichen Bildung gemacht sowie Bundesstudien und BLK-Projekte, Bund/Länder-Projekte, in Auftrag gegeben. PISA trifft die Fachwelt also nicht ganz unvorbereitet und die vielzitierte Autorin Donata Elschenbroich tut mit „Weltwissen der Siebenjährigen“ das Restliche dazu. Aber wenn es gelingen soll, den Schatz der frühen Jahre zu heben, dann müssen auch neue Akzente in der gesamten Bildungspolitik gesetzt werden. Letztendlich geht es ja um die Finanzierung, auf die ich noch eingehen werde.

Die Frage nach dem Wie möchte ich folgendermaßen skizzieren. Frau Freund, was haben wir eigentlich in Hamburg, worauf wir aufbauen können? Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, Frau Freund, aber wir müssen in dem Punkt der Bildung im Vorschulalter mehr tun.

Erstens: Wir haben die Vorschulklassen, in die 38 Prozent der Hamburger Vorschulkinder gehen.

Zweitens: Wir haben die Möglichkeit der frühen Einschulung schon seit 1998. Herr Senator Lange, da muss ich Ihnen doch einmal Nachhilfe geben, weil Sie die immer noch frühe Einschulung gerne einführen wollen. Interessanterweise nutzen die Hamburger Kinder seit 1998 schon viermal mehr die frühzeitige Einschulung mit fünf Jahren.

Drittens: Wir haben die Kitas, in denen allerdings Nachholbedarf im Kontext mit dem verbindlichen Bildungsangebot besteht.

Zeitgemäße Frühpädagogik heißt aber nicht Verschulung. Die Ängste, dass die jetzt alle in Reih und Glied sitzen, was in der Grundschule Gott sei Dank gar nicht mehr der Fall ist, sind ja da. Aber es geht um eine Verknüpfung von altersgemäßem Wissenserwerb, Experimentieren, Forschen und den bewährten Elementen der Arbeit im Kindergarten. Die vorschulische Erziehung und Bildung in Hamburg sollte wie in den Vorschulklassen Vorbild für das „Bildungsjahr Fünf Plus“ in den Kitas sein.

Weiteres Vorbild ist die Reggio-Pädagogik. Das ist ein ganzheitlicher Ansatz, mit dem schon in vielen Kitas und Schulen gearbeitet wird, um projektorientiert Themen anzugehen.

Eine weitere Frage ist: Wer macht das „Bildungsjahr Fünf Plus“? Wer unterrichtet überhaupt in den Vorschulen. In der Vorschule arbeiten überwiegend Sozialpädagoginnen und Lehrerinnen, in den Kitas überwiegend Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen. Hier wird auch die Forderung einer besseren Qualifizierung der Erzieherinnen im Kontext

(Katrin Freund Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

mit der europäischen Ausbildung gestellt, denn da müssen wir uns nach oben angleichen und nicht nach unten, wie das sonst meistens der Fall ist; aber das müssen wir im Detail im Ausschuss diskutieren. Wir wollen dort die Expertinnen, die Betroffenen, hören und nach diesen Beratungen kann man sich entscheiden. Unser Antrag soll einen Anstoß zur Debatte geben. Uns ist es wichtig, die beste Lösung für den Übergang vom Kindergarten in die Schule zu finden, natürlich immer in Kooperation mit den Grundschullehrerinnen.

Nun zu den Kosten. Wir haben gestern ausführlich gehört, wie es in Hamburg mit den Finanzen aussieht. Es geht darum, nicht etwas zu fordern, was nicht realisierbar ist, sondern zu fragen, wo man Schwerpunkte setzt. Vorstellbar ist – das wird im Augenblick auch bundesweit diskutiert –, in einem ersten Schritt vier bis fünf Stunden in den Kitas für dieses Bildungsjahr vor der Schule kostenfrei anzubieten. Umgekehrt muss für die Kinder, die in die Vorschule gehen, die verlässliche Betreuung gewährleistet sein. Das wird einiges kosten, aber wir wollen uns dem Vergleich im europäischen Ausland stellen.

Ich möchte Ihnen einmal ein paar Beispiele aus anderen Ländern nennen, die uns vielleicht ein bisschen die Augen öffnen, wo wir eigentlich stehen. In Schweden stehen in der vorschulischen Erziehung für 20 Fünfjährige mindestens zwei Pädagogen vier Stunden am Vormittag zur Verfügung. Dann gibt es eine kostenlose Mahlzeit und anschließend noch einmal drei Stunden Anschlussbetreuung. In Frankreich ist der Besuch der École maternelle ab dem dritten Lebensjahr kostenfrei und ein Lehrer und ein Erzieher betreuen und unterrichten zu zweit jeweils 26 Kinder. Bei uns in Hamburg steht in der Schule eine Sozialpädagogin 25 Kindern gegenüber oder eine Erzieherin 20 Kita-Kindern, weil teilweise auch Teilungsstunden einfach gebraucht werden, um zu vertreten, wenn man ganz ehrlich ist. In Großbritannien gibt es diese vorschulische Erziehung nicht, da werden alle Fünfjährigen flächendeckend eingeschult. Aber da gibt es dann zusätzliche so genannte Early excellence centers und Sure-start-Programme für besonders – ich zitiere – „arme und bildungsverlassene Familien“.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Herr Senator Lange hat ein sehr schönes Beispiel auf dem gemeinsamen NDR-90,3- und „Abendblatt“-Forum gebracht. Er hat nämlich erzählt, dass eines seiner Enkelkinder in der ersten Klasse ist und sich langweilt und das andere Enkelkind eigentlich längere Zeit und mehr Förderung brauche. Das war für mich noch einmal die Bestätigung, dass jedes Kind das beste Angebot braucht, also nicht alle mit fünf Jahren einschulen oder alle in die Vorschule, sondern wir haben mit unserem Antrag einen Vorschlag gemacht, der der individuellen Förderung der Lern- und Begabtenpotenziale der Kinder entspricht. Nicht alle Kinder brauchen die Vorschule, nicht alle müssen mit fünf Jahren eingeschult werden. Aber alle Fünfjährigen brauchen Verbindlichkeit.

Deshalb wollen wir gerade in den Kitas das „Bildungsjahr Fünf Plus“ ermöglichen. Wir wollen den Auftrag ernst nehmen, Bildung und Betreuung zusammen zu denken. Das ist das Ziel für alle fünfjährigen Hamburger Kinder und deshalb „Bildung Fünf Plus“. – Danke.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort erhält die Abgeordnete Rogalski-Beeck.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nicht erst seit PISA ist bekannt, dass frühkindliche und vorschulische Bildung der erste Schritt zu lebenslangem Lernen ist. Bildung vor der Einschulung trägt wesentlich dazu bei, allen Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, und sie fördert, dies hängt eng miteinander zusammen, die soziale Integration.

Wenn PISA dem deutschen Schulsystem einerseits bescheinigt, soziale Benachteiligungen so schlecht wie kein anderes der OECD-Länder auszugleichen, und andererseits feststellt, dass unsere Kinder vergleichsweise spät eingeschult werden und im Verhältnis viel weniger in den Primar- als in den Sekundarbereich investiert wird, so liegt es nahe, zwischen beidem einen Zusammenhang zu sehen. Insofern ist es dringend nötig und richtig, sich des Themas Bildung im Vorschulalter anzunehmen.

Der vorliegende Antrag allerdings scheint mir dann doch mit der heißen Nadel genäht zu sein, auch wenn Sie, Frau Goetsch, jetzt schon versucht haben, einiges zu erklären. Aus dem Antrag selbst ging das meiner Meinung nach nicht hervor. Insofern bleibt für mich zum Beispiel unklar, wie das Verhältnis des vorgeschlagenen „Bildungsjahres Fünf Plus“ zur Vorschule sein soll. Soll es die Vorschulklassen ersetzen oder ergänzen? Für den erstgenannten Fall erhöbe sich die Frage, warum kann das, was Inhalt des „Bildungsjahres Fünf Plus“ sein soll, nicht in der Vorschule geleistet werden oder auch im Kindertagesheim? Oder besteht das Vorhaben darin, die Vorschule durch das „Bildungsjahr Fünf Plus“ zu ergänzen? In dem Fall würden wir also die Kinder schon im Vorschulalter in unterschiedliche Einrichtungen schicken.

Dabei hat PISA uns doch gerade erst ins Stammbuch geschrieben, dass die deutsche Manie, heterogene Gruppen in Bildungseinrichtungen möglichst zu vermeiden, Lernerfolge eher verringert als befördert.

(Beifall bei der SPD)

Unklar bleibt auch, wer die, wie es im Antrag heißt, „umsetzenden Institutionen“ für das „Bildungsjahr Fünf Plus“ sein sollen, Kitas, Vorschulen oder neu einzurichtende Schulen speziell für dieses Bildungsjahr? Woher sollen die benötigten Pädagogen kommen und wie und wo sollen diese ausgebildet werden? Denn nimmt man den Auftrag ernst, mehr in frühkindliche Betreuung und Bildung zu investieren, so bedeutet das auch, die hierfür notwendigen Pädagogen entsprechend auszubilden.

Zentral erscheint mir überdies die Frage der Verbindlichkeit der Teilnahme. Will man eine Einrichtung haben, die sich insbesondere um die Förderung von Kindern mit besonderem Lern- und Sozialverhalten sowie Kinder mit Migrationshintergrund kümmert – dies ist in der Tat dringend erforderlich –, so ist es wenig sinnvoll, sie lediglich als Angebot zu konzipieren, denn die Erfahrung zeigt nun einmal, dass viele Eltern mit Migrationshintergrund derartige Angebote eben gerade nicht annehmen. Insofern muss überlegt werden, wie wir diese Kinder erreichen.

So groß der PISA-Schock auch ist, er sollte uns nicht zu Aktionismus verleiten. Schnellschüsse wie diese bringen nichts. Einzelmaßnahmen sind problematisch und stiften Verwirrung bei allen Beteiligten. Stattdessen muss ein Gesamtkonzept für die frühkindliche Bildung erarbeitet werden, abgestimmt zwischen allen betroffenen Einrichtungen. Die SPD-Fraktion wird der Bürgerschaft im Februar einen Entwurf für ein Kinderbetreuungsgesetz vorlegen, in dem unter anderem der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen klar definiert wird.

(Christa Goetsch GAL)

Meine Damen und Herren! Ich bedauere sehr, dass ich im Rahmen dieser Rede gar nichts zur Politik der Regierungskoalition sagen kann. Der Grund: Die vorschulische Bildung kommt bei ihr nicht vor. Weder im Koalitionsvertrag noch in der Regierungserklärung tauchen die Begriffe „Vorschule“ oder „vorschulische Bildung“ auf. Lediglich von Sprachtraining beziehungsweise Sprachunterricht für kleine Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache ist die Rede. Damit aber springen Sie viel zu kurz, meine Damen und Herren der Regierungskoalition.

Sprachförderung ist zweifelsohne wichtig. Vorschulische Bildung aber ist weit mehr als das. Die angekündigte Mittelkürzung des Senats von 1,1 Millionen Euro im Bereich der Kindertagesbetreuung lässt es zudem als äußerst fraglich erscheinen, ob Sie auch nur ihre derart verkürzten Vorstellungen realisieren können.

(Unruhe im Hause – Glocke)

Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Rogalski-Beeck hat das Wort.

Ich bin gespannt darauf, wie Sie diesen verkürzten Spagat hinkriegen wollen.

Wir möchten, dass schnell mit der Erarbeitung eines Gesamtkonzepts für die vorschulische Bildung begonnen wird, das diesen Namen auch verdient, und beantragen deshalb, den Antrag an den Jugendausschuss und federführend an den Schulausschuss zu überweisen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Sodann erhält das Wort der Abgeordnete Drews.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Goetsch, Sie haben erwähnt, dass Sie insbesondere mit diesem Antrag alle Kinder im Visier haben und nicht unbedingt nur Kinder mit Migrationshintergrund, haben aber gerade in Ihrem ersten Punkt etwas anderes geschrieben. Insofern sind wir schon verwundert, wenn dort steht:

„Besonderes Augenmerk richtet sich auf die Sprachförderung der Kinder mit Migrationshintergrund.“

Damit haben wir schon einen Punkt, den wir zumindest anders sehen.

Frau Freund hat zu Recht erwähnt, dass es bei aller inhaltlichen Auseinandersetzung über den Antrag, die wir mit Ihnen im Schulausschuss führen wollen, merkwürdig ist, dass Sie diesen Antrag schon ein Vierteljahr nachdem Sie quasi von der finanzpolitischen Kette der SPD/GAL-Koalition gelassen worden sind, einbringen, der Millionen kosten wird. Wir sind uns im Grundsatz einig darüber, dass es, wenn wir in diesem Punkt ansetzen und Verantwortung übernehmen wollen, ganz einfach Geld kostet. Insofern ist zumindest interessant, welche Rolle Sie jetzt nach kurzer Zeit einnehmen, wenn man abwägt zwischen Konsolidierungszwang der alten Finanzsenatorin und dem Gestaltungswillen. Das sind in der Tat schon beachtliche Schritte, die Sie hier gemacht haben.