Protokoll der Sitzung vom 11.10.2006

"Wir rücken immer wieder voller Abscheu ab von den grauenvollen Verbrechen, die der Nationalsozialismus an den Juden und an Millionen Andersdenkender begangen hat. Das war schlimmer als ein Rückfall in finsterstes Mittelalter. Gerade Hamburg ist auf dem Gebiet der Wohltätigkeit, der Künste und Wissenschaften, des Handels und der Wirtschaft erfüllt von Zeugnissen großer Leistungen, die jüdische Mitbürger in Jahrhunderten in unserer Stadt vollbracht haben. Die Namen von Max Warburg, Albert Ballin, Heinrich Hertz, Mendels

sohn-Bartholdy und Ernst Cassirer werden niemals der Vergessenheit anheimfallen. Sie sind die Mitträger des Ruhmes unserer Stadt."

So Max Brauer.

Ich möchte dem heute hinzufügen: Dies gilt auch für die jüdischen Mitbürger, die sich um das Parlament und das politische Leben große Verdienste erworben haben: Gabriel Riesser, Isaac Wolffson, Anton Rée, Siegmund Hinrichsen, den Sozialdemokraten Herbert Pardo, der in der Emigration überlebte, und den Demokraten Max Eichholz, der in Auschwitz ermordet wurde. Sie alle werden gewürdigt in dem in diesem Jahr erschienenen, vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden herausgegebenen Lexikon "Das Jüdische Hamburg" und in der "Hamburgischen Biografie".

Wie Schönfelder bekannte sich auch Brauer zur Selbstständigkeit Hamburgs. "Drei Elendsquellen" gelte es angesichts des bevorstehenden Winters zu begegnen: Hunger, Wohnungsnot, Kälte und Brennstoffmangel. Brauer entwarf mit dem Wissen des erfahrenen Kommunalpolitikers und ehemaligen Oberbürgermeisters von Altona, mit den in Frankreich, China und den Vereinigten Staaten von Amerika erworbenen Kenntnissen und Einsichten, mit Freimut gegenüber der Besatzungsmacht wie den eigenen Landsleuten das Konzept eines Neuaufbaus der Stadt. Auch er bezog ausdrücklich die Universität ein:

"Ein Lichtblick möge uns auch immer mehr unsere Universität werden. Der gute Ruf, den unsere junge Alma Mater bis 1933 errungen hatte, wurde verdunkelt, als manche ihrer wertvollsten Kräfte der Lehrstühle beraubt wurden.

Wir wollen hohe Ansprüche an unsere Universität und unser kulturelles Leben stellen, wir wollen mit der falschen reaktionären Geschichtsauffassung Schluß machen und uns der wahren Freiheit des Geistes freuen".

"Nüchternen Sinnes und heißen Herzens, voll der Leidenschaft, die Not zu wenden, wollen wir einig zusammenstehen. Als Sohn des Hamburger Volkes rufe ich jeden von Ihnen auf, alle Kräfte für unsere Stadt und ihre Zukunft bereitzustellen, der auch wir uns alle mit letzter Hingabe widmen werden".

In dieser Haltung arbeiteten der von der SPD und FDP, bis 1948 auch von der KPD gebildete Senat, dem mit Paula Karpinski erstmals auch eine Frau angehörte, und die Bürgerschaft mit der CDU in der Opposition zusammen. Es gelang mit dem größten Kraftaufwand, die von Brauer und Schönfelder vorausgesagte Herausforderung des Winters 1946/47 zu bestehen und den Wiederaufbau voranzutreiben. Erich Lüth, damals Senatspressesprecher, und Kurt Sieveking, als Senatssyndikus enger Mitarbeiter Brauers, haben diese Zeit eindrucksvoll beschrieben. Zivilgouverneur Berry ordnete an, auch die Büros der Besatzungsmacht nicht zu heizen. Bei allen Konflikten, die es zwischen britischen und hamburgischen Behörden gab, waren es solche Gesten und die Bereitschaft, voneinander zu lernen, die die Grundlagen der europäischen Verständigung und Einheit schufen. Auch für die Arbeit der ersten gewählten Nachkriegsbürgerschaft gilt, was unser ehemaliger Kollege, der Historiker Walter Tormin, der Ernannten Bürgerschaft bescheinigte:

"Sie hat die Nöte der Bürger öffentlich artikuliert und sich bemüht, die schlimmsten Folgen der Gewaltherrschaft und des Krieges wenigstens zu mildern. Sie hat

politische Grundsatzfragen kontrovers diskutiert und damit Formen und Inhalte demokratischer Meinungsbildung vorgeführt. Sie hat zur Klärung der politischen Fronten in Hamburg beigetragen und sie hat den Hamburgerinnen und Hamburgern, insbesondere den Jüngeren, die das nie erlebt haben, praktisch demonstriert, wie in einer Demokratie Entscheidungen zustande kommen."

Neben Bürgermeister Brauer und seinem Senat waren auch die Parlamentarier am Wiederaufbau Hamburgs und der Neugestaltung des politischen Lebens beteiligt. Ältere wie Adolph Schönfelder und sein früherer Senatskollege Paul de Chapeaurouge, nun in der CDU, die Hamburg 1948/49 im Parlamentarischen Rat vertraten und das Grundgesetz mitgestalteten, Jüngere wie Erich Klabunde, Erik Blumenfeld und Edgar Engelhard, Frauen wie Martha Damkowski, Magda Hoppstock-Huth und Elisabeth Ostermeier. Schönfelder blieb bis 1960 Bürgerschaftspräsident. Als er 1966 starb, würdigte ihn Herbert Dau, der ihm nachgefolgt war und das Amt bis 1978 wahrnahm:

"Er suchte politische, soziale und menschliche Harmonie, mit anderen Worten: Gerechtigkeit für jedermann. In ihm vereinigen sich Schlichtheit und Würde, freiheitlicher Bürgersinn, menschliche Güte und ein alle Gegensätze immer glättender Humor."

Was vor 60 Jahren begann, trägt bis heute Früchte. Wenn die Bürgerschaft 2009 auf 150 Jahre parlamentarische Arbeit in Hamburg zurückblicken kann, sollte eine Bilanz der Zeit seit 1946, des Wandels vom Feierabendparlament zu einem modernen Landesparlament, das sich durch hohen Arbeitseinsatz, die Verbindung der Abgeordneten mit dem Alltags- und Berufsleben und durch eine vernünftige Diätenregelung auszeichnet, gezogen werden. Bei allem berechtigten Stolz auf das Geleistete bleibt die Demokratie immer wieder auf kritische Bestandsaufnahmen angewiesen. Herbert Dau hat dazu 1971 im Vorwort zu Erich Lüths Darstellung "Die Hamburger Bürgerschaft 1946 bis 1971. Wiederaufbau und Neubau" einen noch heute lesens- und bedenkenswerten Beitrag geliefert. Dau hielt es für überlebenswichtig, dass das "Wahlvolk mehrheitlich in den Stand" versetzt werde, "seine Wahl nach Gründen der Vernunft zu treffen und sie nicht als Schönheitswettbewerb aufzufassen". Was würde er heute angesichts der Personalisierung, ja Boulevardisierung von Politik sagen?

Parteien haben eine große Verpflichtung, über den Köpfen nicht die Programme und Sachthemen zu vernachlässigen. Politik ist in Gefahr, Teil eines seichten und oberflächlichen Entertainments zu werden. Hinzu kommt das permanente Schielen auf nicht selten fragwürdige demoskopische Ergebnisse. Politische Führung, das zeigen Persönlichkeiten wie Brauer und Schönfelder, darf sich nicht erschöpfen im Moderieren, Koordinieren und Krisen entschärfen. Politische Führung setzt konzeptionelle Kraft und das Zusammenführen der Ressorts und der Ressourcen voraus. Männer wie der Kaufmann und Aufklärer Georg Heinrich Sieveking und der Senator und Bürgermeister Amandus Augustus Abendroth haben schon 1791 und 1814 an "kleinlicher Autoritätssucht" und am "Departements-Geist", am besten als eine Mischung von eigensüchtigem Ressortdenken, unreflektiertem Festhalten am Herkommen und Schlendrian zu charakterisieren, scharfe Kritik geübt. Solchen Missständen muss

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jede politische Führung begegnen, ihnen muss die besondere Aufmerksamkeit der Parlamentarier gelten.

In der Zivilgesellschaft kann der Parteisoldat nicht der ideale Abgeordnete sein. Eigenständigkeit des Denkens, Erkennen von Zusammenhängen, von Ursachen und Wirkungen, Übereinstimmung von politischer Haltung und politischem Handeln, Kritikbereitschaft und die Fähigkeit zur Kontrolle von Regierung und Verwaltung sind die Eigenschaften, die auf Dauer für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie entscheidend sind.

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hat kürzlich in der Wochenzeitung "Die Zeit" mit selbstkritischem Blick auf sein Fach und die politische Praxis folgendes Resümee gezogen:

"Reform und Demokratie sind kein Gegensatz, aber Reformen ohne (mehr) Demokratie sind nichts. Die Planungsphilosophie hat den Akzent zu stark auf den 'Output' gelegt, also auf die Effizienz von Regierung und Verwaltung. Eine an demokratischer Beteiligung orientierte Politikwissenschaft ist näher beim Bürger und würdigt stärker dessen 'Input'. Wenn die Effizienz der staatlichen Exekutiven und die Glaubwürdigkeit von Parteien, Verbänden und selbst Nichtregierungsorganisationen leiden, müssen Risikogesellschaften neue Formen und Arenen reflexiver Selbstorganisation schaffen. Die Große Koalition hat die Kluft zwischen den Erwartungen der Bürger und der Leistungsfähigkeit der Eliten noch verstärkt und Mecklenburg-Vorpommern zeigt als jüngstes Beispiel, wie weit der Zweifel an der Demokratie schon reicht. Äußere Bedrohungen kommen hinzu. Für die Demokratie, wie wir sie kennen, wird es ungemütlich."

Soweit Leggewie.

Parteien und Parlamente müssen aus meiner Sicht alles ihnen Mögliche tun, um selbst wieder zu Foren und "Arenen reflexiver Selbstorganisation" zu werden. In der Wissens- und Informationsgesellschaft muss es aus politischen und ökonomischen Gründen mehr Transparenz, mehr Mitbestimmung geben, muss Demokratie zur Lebensform werden. In diesen Zusammenhängen steht die Bürgerschaft vor zwei großen Herausforderungen.

Zum einen wird sie über ein neues Wahlrecht zu entscheiden haben, für das sich die Hamburgerinnen und Hamburger ausgesprochen haben. Sie sollte sich diese Entscheidung nicht leicht machen, eventuelle Änderungen bedürfen einsichtiger und überzeugender Argumente. Die Bürgerinnen und Bürger, das zeigen jahrzehntelange Erfahrungen in Süd- und Südwestdeutschland, sind sehr wohl in der Lage, Personal- und Listenvorschläge der Parteien zu bewerten und zu gewichten. Ich bin überzeugt, dass es in der politischen Intelligenz und staatsbürgerlichen Verantwortung kein Nord-Süd-Gefälle gibt.

Auch aus der Sicht des Historikers ist es im Übrigen ein erheblicher qualitativer Unterschied, ob die Bürgerschaft über ein Votum der Bürgerinnen und Bürger zu einer Sachfrage oder über das Wahlrecht befindet. Wahlrechtsfragen, das wussten schon Bismarck und Lassalle, sind Machtfragen. Zum demokratischen Stil – dies mein Rat – gehört allerdings in solchen Fragen der größtmögliche Konsens.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Zweitens wird die Bürgerschaft verstärkt ein Forum, eine Arena sein müssen für die erfreulicherweise von den Parteien derzeit erarbeiteten, auf die ganze Stadt – und hoffentlich auch auf die Metropolregion Hamburg – bezogenen Konzepte der "Wachsenden Stadt", der "Menschlichen Metropole" und der "Kreativen Stadt". Die offene Auseinandersetzung mit solchen Konzepten ist eine große Herausforderung und Chance für Senat und Bürgerschaft, Parteien und Fraktionen, eine Chance, auch externen Sachverstand einzubeziehen.

Noch immer gilt, was Helmut Schmidt 1962 in seinem legendären, anonym in der Zeitung "Die Welt" erschienenen, Appell an die Hanseaten schrieb:

"Diese Stadt beherbergt ein unglaubliches Reservoir an weltweiter Erfahrung, an geistigem Potential, an realistischer Fähigkeit zur Kalkulation, an Toleranz und Prinzipientreue, an Weitblick und Wagemut."

An der Politik ist es, dieses Potential zu nutzen. – Danke.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und der GAL und vereinzelt bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Abweichend von der Empfehlung des Ältestenrats sind die Fraktionen gestern übereingekommen, den Tagesordnungspunkt 7, die Große Anfrage der GAL-Fraktion aus Drucksache 18/4914, nicht zu debattieren. Stattdessen soll der Tagesordnungspunkt 17 als vierter Debattenpunkt aufgerufen werden. Es handelt sich dabei um den Bericht des Verfassungsausschusses aus der Drucksache 18/4889. Mir ist mitgeteilt worden, dass hierzu aus den Reihen der GAL-Fraktion vor Eintritt in die Tagesordnung gemäß Paragraf 44 in Verbindung mit Paragraf 26 Absatz 4 unserer Geschäftsordnung das Wort gewünscht wird. Das ist der Fall. Der Abgeordnete Maaß hat es.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir hatten eigentlich nicht vor, hier noch einmal eine solche Geschäftsordnungsdebatte zu führen, wie wir sie beim letzten Mal geführt haben.

(Lachen bei der CDU)

Wir können uns auch eine schönere Situation vorstellen, als nach diesem grundsätzlichen Vortrag von Professor Kopitzsch zu diesem Klein-Klein überzugehen, zu Tagesordnungspunkt 17, dem Bericht des Verfassungsausschusses zum Wahlrechtsraub, der ein etwas anderer ist, als der von Professor Kopitzsch zweimal angesprochene von 1906.

Bis gestern Abend dachten wir, darauf verzichten zu können, diese Debatte hier noch einmal zu führen und einen Vertagungsantrag zu stellen. Aber dann erreichte uns ein Antrag der CDU-Fraktion, der nochmals Änderungen an diesem Gesetzentwurf, der bereits in erster Lesung beschlossen wurde, vorsieht. Wir sind uns einig, dass es sich hier um ein hoch strittiges, um ein hoch wichtiges und ein hoch komplexes Gesetzesgebilde handelt.

Nun sieht Ihr Antrag in drei Artikeln Änderungen an mehreren Stellen vor. Die CDU behauptet, es würde sich nur um redaktionelle Änderungen handeln, aber wir verlangen nicht zuviel, wenn wir sagen, dass wir wenigstens gerne überprüfen möchten, ob das, was Sie uns in letzter

Minute unterschieben wollen, auch tatsächlich keine wesentlichen Auswirkungen hat; das ist nicht zuviel verlangt.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Genau das ist doch der Punkt. Die CDU will heute eines der umstrittensten Gesetze der letzten Jahrzehnte verabschieden, wohlgemerkt nach einem halben Jahr Beratung. Die meisten Mitglieder der Bürgerschaft – ich glaube, da trete ich niemandem zu nahe – haben diesen Entwurf in der letzten Fassung, wie er heute beschlossen werden soll, weder gelesen geschweige denn verstanden. 60 Jahre nach den Nachkriegswahlen ist Ihr Umgang mit dem Wahlrecht und dem Parlament schlicht unfassbar. Wie tief wollen Sie eigentlich noch in Ihrem Umgang mit dem Wahlrecht und dem Parlament sinken?

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Hesse.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Maaß, Polemik ersetzt die Sachlichkeit nicht und das trifft Ihren Beitrag hier.

(Beifall bei der CDU)

In einem haben Sie recht, lieber Kollege Maaß. Die heutige Geschäftsordnungsdebatte ist nicht nur eigentlich nicht nötig, sie ist tatsächlich nicht nötig, denn es hat sich seit unserer letzten Bürgerschaftssitzung an den Grundpositionen der CDU zum Wahlrecht inhaltlich absolut nichts geändert. Was Ihnen heute vorliegt – Sie haben es schon richtig dargestellt –, sind reine Verweisänderungen und das, was Sie hier noch diskutieren wollen, ist nicht zu diskutieren, ist nicht zu prüfen. Es ist so eindeutig und klar, dass keinerlei Bedarf besteht, in irgendeiner Form eine Vertagung herbeizuführen.

(Beifall bei der CDU)

Ich habe bereits bei der letzten Geschäftsordnungsdebatte, lieber Kollege Maaß, dargestellt, dass es auch eine zeitliche Komponente für dieses Wahlrecht gibt. Diese zeitliche Komponente lässt sich nicht verschieben. Insofern versuchen Sie auch heute wieder mit einem ganz billigen Geschäftsordnungstrick, das Wahlrecht zu verhindern.

Es gibt die Notwendigkeit, dieses Wahlrecht heute zu beschließen. Die CDU wird dieses Wahlrecht heute auch so beschließen, denn es ist besser als das, was wir sonst bekämen. Wir werden daher Ihren Antrag ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Steffen.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Herr Hesse, Sie strafen Ihre eigenen Worte Lügen,