Protokoll der Sitzung vom 10.06.2009

Meine Damen und Herren, wenn keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, stelle ich fest, dass die Bürgerschaft von der Großen Anfrage der Fraktion der SPD aus der Drucksache 19/2915 Wohnungsbestand von SAGA GWG in Hamburg, Wegfall der Sozialbindung, Modernisierungen und Mieterhöhungen Kenntnis genommen hat.

Ich rufe dann auf den Punkt 62 der Tagesordnung, Drucksache 19/3255 Interfraktioneller Antrag, Änderung der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg.

[Interfraktioneller Antrag: Änderung der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg – Drs 19/3255 –]

Wer wünscht das Wort? Herr Müller.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Durchbruch ist gelungen. Hamburg erhält das modernste und bürgerfreundlichste Wahlrecht aller Bundesländer. Wir entscheiden heute in erster Lesung über die dazu erforderliche, umfangreiche und gewichtige Verfassungsänderung. Künftig wird das Wahlrecht nur noch mit Zweidrittelmehrheit zu ändern sein, einerseits hier in der Bürgerschaft und andererseits vom Volk draußen.

Damit beenden wir den jahrelangen Streit um die Frage, wer letzten Endes über die personelle Zusammensetzung der Hamburger Bürgerschaft und der sieben Bezirksversammlungen in dieser Stadt entscheidet; das Volk oder die Parteien. Die Parteien geben heute den Wählerinnen und Wählern ein Stück ihrer Macht ab. Der angekündigte Wahlrechtsvolksentscheid wird somit überflüssig. Ich möchte mich daher für die konstruktiven Verhandlungen zwischen Volksinitiative, CDU und SPD und uns und den LINKEN sehr herzlich bedanken.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der CDU)

Beide Seiten kamen aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Sowohl CDU und SPD als auch die Volksinitiative standen sich anfangs eher skeptisch gegenüber. Wir Grüne haben in den letzten Jahren immer für mehr Wählereinfluss in Hamburg gestritten. Mit der jetzt vorliegenden Einigung geben die Parteien unmittelbar Macht ab. Bislang entscheiden die Wählerinnen und Wähler nur darüber, wie viele Abgeordnete pro Partei in die Bürgerschaft oder in die sieben Bezirksversammlungen einziehen. Zukünftig entscheiden sie auch ohne Wenn und Aber darüber, wer einzieht.

Ich bin daher tatsächlich sehr glücklich, dass wir diesen Weg so gegangen sind und dass es rechtzeitig und noch vor der Sommerpause zu einer Wahlrechtseinigung gekommen ist. Wir Grüne sind der festen Überzeugung, dass diese Einigung die richtige Antwort auf Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung ist. Ich erinnere an die Debatte, die wir vorhin geführt haben. Zukünftig kann in Hamburg niemand mehr behaupten, zu wenig zu sagen zu haben. Liebe Hamburgerinnen und Hamburger! Ab sofort ist es an Ihnen, zu entscheiden,

(Andy Grote)

wer hier sitzt. Sie sind das Volk, machen Sie etwas daraus.

(Vereinzelter Beifall bei der GAL)

Die Einigung ist nicht nur ein sehr gutes Paket für die Wählerinnen und Wähler in dieser Stadt, sie sichert, und das ist auch ein wichtiger Aspekt gewesen, der zu dieser Einigung geführt hat, auch den Frieden in dieser Frage. Mit der Absicherung, die wir heute in der Hamburger Verfassung für das Wahlrecht in Zukunft machen, wird ein jahrelanger Streit beigelegt, der noch jahrelang in den Medien und vor dem Hamburger Verfassungsgericht hätte weitergehen können. Dass wir diesen Streit heute beenden, bedeutet aber auch, dass wir alle in dieser Stadt wieder mehr Zeit für andere wichtige Fragen haben. Es sind nicht wenige, zum Beispiel die Wirtschafts- und die Klimakrise oder die Bildungsherausforderungen dieser Stadt. Dafür wird wieder mehr Zeit sein und die Bürgerinnen und Bürger können daran mitwirken. Das ist das Signal, was aus diesem Haus heute in die Stadt geht.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der CDU)

Wir alle wissen, dass wir in sehr kurzer Zeit diese Verfassung an ganz entscheidenden Punkten ändern. Wir haben erst vor knapp einem halben Jahr die Verfassung in puncto Volksentscheid und Verbindlichkeit geändert. Auch das war ein großer Schritt. Volksentscheide sind nun verbindlich in dieser Stadt und jetzt das Wahlrecht. Beide Verfassungsänderungen zusammen sind von historischer Tragweite und werden das Machtgefüge in dieser Stadt nachhaltig verändern. Mit beiden Verfassungsänderungen erhalten die Menschen mehr politische Mitbestimmung, so viel wie nirgendwo in diesem Land. Beide Verfassungsänderungen appellieren auch an die Selbstverantwortung unserer Bürgerinnen und Bürger und damit bekommt Hamburg eine Demokratieplattform, die es so bisher in Deutschland nicht gibt.

Wir alle wissen, dass ein Gemeinwesen, weil es vom Mitmachen lebt, umso attraktiver wird, je mehr Menschen etwas zu sagen haben. Hamburg legt also heute, wir Abgeordneten legen heute alle den Grundstein dafür, dass die Anziehungskraft durch ein vitales Gemeinwesen, das wir in Hamburg haben wollen, insgesamt steigt. Das ist ein Punkt, den Menschen, wenn sie die Auswahl haben, wo sie hinziehen, wo sie ihre Familie gründen oder einen Job haben wollen, durchaus miteinbeziehen in ihre Entscheidung.

Diese Verfassungsänderungen belegen aber auch, dass das parlamentarische System lernfähig ist. Lernfähig aus einem jahrlangen Streit zwischen der Bürgerschaft, dem Volk draußen und dem Verfassungsgericht. Dieses Signal wäre nicht möglich gewesen, wenn wir weiter an einer lagerübergreifenden Koalition gehangen hätten.

(Glocke.)

Verzeihung, Herr Müller. Ich bitte um etwas mehr Ruhe im Saal. Sie können Ihre Gespräche gerne draußen fortsetzen, aber hier möchte ich ein bisschen mehr Ruhe. Fahren Sie bitte fort.

Ich werde etwas lauter reden, vielleicht kommt es ja nicht so an.

(Glocke.)

Meine Damen und Herren! Wenn Sie leiser sind, braucht der Redner auch nicht lauter reden. Fahren Sie fort, Herr Müller.

Machen wir uns nichts vor. Dass wir mit großen Mehrheiten zu diesen Verfassungsänderungen kommen, haben wir auch der lagerübergreifenden Konstellation Schwarz und Grün zu verdanken. Hätte Rot-Grün die Mehrheit gehabt, hätte die CDU nicht mitgemacht. Hätte die CDU die Mehrheit gehabt und Rot-Grün wäre in der Opposition gewesen, wäre ein lagerübergreifender Konsens wesentlich schwerer gewesen. Vor diesem Hintergrund wurde hier etwas ermöglicht, um das es jahrelang Streit gab. Auch das ist ein Teil dieser Wahrheit.

In dieser Verfassungsänderung heute ändern wir nicht die Einzelheiten des Wahlrechts. Dieses Gesetz wird heute von allen Fraktionen eingebracht und steht am 24. Juni zur Abstimmung. Dass wir diesen Wahlrechtsfrieden haben, ist eine Sternstunde der Bürgerschaft und ein Zugewinn für diese Stadt. Wir können uns alle freuen, auch wenn wir, und ich weiß den Weg der Kolleginnen und Kollegen aus den größeren Fraktionen zu schätzen, alle dafür einen weiten Weg gehen mussten und sicherlich nicht immer mit allem einverstanden sind, was im Einzelnen auf uns zukommt. Ich danke trotzdem und hoffe auf Ihre Zustimmung. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und teilweise bei der CDU)

Das Wort hat der Abgeordnete Heinemann. Ach so. Sie haben getauscht. Gut, Frau Ernst hat das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Herr Kollege Müller! Für meine Fraktion war das ein bisschen zu viel Pathos, deshalb auch die Unruhe.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

(Farid Müller)

Es gehört aber zum Thema, dass wir uns einander von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten angenähert haben und das soll die Debatte dann auch zeigen. Der heutige Beschluss der Bürgerschaft zur Verfassungsänderung und derjenige in zwei Wochen zu den Wahlgesetzen könnte der Schlusspunkt zu einer sehr langen Geschichte über die Einführung eines neuen Wahlrechtes in Hamburg sein. Zu dieser Geschichte gehören schon die Debatten in den 90er-Jahren, als man über die Einführung von Wahlkreisen diskutiert hat, die aber nicht zu entsprechenden Beschlüssen in der Bürgerschaft geführt haben. Den Hamburger Parteien war dies damals nicht gelungen. Sogar als es im Prinzip schon Mehrheiten für die Einführung von Wahlkreisen gab, wurden sie nicht eingeführt. Sie scheiterten nicht am Ob, sondern mehr am Wie, an der Frage, wie viele Wahlkreise sollen es denn sein, wie viele Stimmen soll es geben und wo könnten die Wahlkreisgrenzen liegen. All das waren zentrale Fragen, die zu einer Blockade geführt haben. Zu dieser Geschichte gehört aber auch ein Volksentscheid im Jahr 2004, bei dem der Vorschlag der Initiative Mehr Demokratie eine Mehrheit fand, während der von SPD und CDU unterstützte Vorschlag diese Mehrheit verfehlte.

Zu dieser Geschichte gehört auch der Missbrauch politischer Macht durch die CDU in der letzten Legislaturperiode. Nach dem Erfolg des Volksentscheids über das Wahlrecht hat die CDU mit ihrer absoluten Mehrheit in der Bürgerschaft dieses Wahlrecht verändert. Die Möglichkeit, auch bei den Landes- bzw. Bezirkslisten zu kumulieren und zu panaschieren, wurde abgeschafft. Statt zweimal fünf Stimmen wie es der Volksentscheid vorsah, gab es nur noch einmal fünf Stimmen und einmal eine Stimme für die Listen. Die CDU hat den Einfluss der Wählerinnen und Wähler weit zurückgeschraubt und sogar vor dem Verfassungsgericht dafür eine Niederlage erlitten – auch das gehört dazu.

Nach der Missachtung des Volksentscheids gegen den Verkauf des Landesbetriebs Krankenhäuser war dies der zweite Fall schwerster Ignoranz gegenüber dem Willen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich sogar in einer Abstimmung in Hamburg durchgesetzt hatten.

(Beifall bei der SPD)

Ihr Verhalten ist zu Recht als Wahlrechtsraub beschrieben worden. Sie haben damit Politikverdrossenheit geschürt, obwohl doch Volksentscheide gerade zum Gegenteil beitragen sollen, und Sie haben der Demokratie in Hamburg insgesamt schweren Schaden zugefügt.

(Beifall bei der SPD)

Bei den letzten Wahlen zu Bürgerschaft und Bezirksversammlung haben wir immerhin erstmalig auch in Wahlkreisen gewählt.

Die Initiative Mehr Demokratie hat nun in dieser Legislaturperiode einen neuen Anlauf genommen. Sie hat ihre Ursprungsforderung nach der Entkoppelung der Wahlen zu den Bezirksversammlungen mit der der Bürgerschaft und den Wegfall der Fünf-Prozent-Klausel bei den bezirklichen Wahlen erneut zur Abstimmung gestellt. Auch die Forderung, dass Bürgerinnen und Bürger auf den Listen der Parteien Personen wählen können, wurde wieder erhoben, allerdings mit einer ganz wesentlichen Änderung gegenüber dem Volksentscheid 2004. Nach dem Volksbegehren sollte die Möglichkeit, eine Partei zu wählen, künftig vollständig entfallen. Diese Forderungen waren Anfang des Jahres in einem Volksbegehren erfolgreich.

Die Hamburger SPD hält diese zentralen Forderungen aus dem Volksbegehren für falsch. Eine Entkoppelung der Wahlen zur Bürgerschaft und zur Bezirksversammlung führt zu einer ganz deutlichen Absenkung der Wahlbeteiligung bei der Wahl der Bezirksversammlung. Für uns ist es nicht mehr, sondern weniger Demokratie, wenn die Geschicke der Bezirke künftig von weniger Bürgerinnen und Bürgern mitentschieden werden.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Gleichermaßen sind wir gegen die Abschaffung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Bezirke. Jeder weiß, dass dadurch rechtsextremistische oder rechtsradikale Personen in die Bezirksversammlungen gewählt werden. Auch das ist kein Zugewinn an Demokratie, sondern begünstigt diejenigen, die unsere demokratische Verfassung ablehnen und bekämpfen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Der Wegfall der Möglichkeit, bei den Listen auch eine Partei zu wählen, ist für uns überhaupt nicht zu akzeptieren. Wir wissen um die Bedeutung von überzeugenden Politikerinnen und Politikern für eine wache und lebendige Demokratie. Wir wissen aber genauso gut, dass viele Bürgerinnen und Bürger ihre Wahlentscheidung anhand von Grundwerten oder Sachentscheidungen treffen und dies tun, indem sie eine bestimmte Partei wählen. Die letzte Bürgerschaft hat das auch noch einmal gezeigt. In den Wahlkreisen konnten Bürgerinnen und Bürger ihre Stimmen sowohl Parteien als auch Personen geben und die Mehrheit der Stimmen sind nach wie vor für Parteien und nicht für Personen gegeben worden. Deshalb muss diese Wahlmöglichkeit auch in Zukunft erhalten werden.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Wahlkreisabgeordneten, auch ihre Kandidatinnen und Kandidaten, am besten persönlich kennen. Das ist aber in der Realität nicht der Fall. Wir se

hen, dass ein personalisiertes Wahlrecht an Grenzen stößt, wenn diese Schranke entfallen würde, vielleicht nicht so sehr in Wahlkreisen, aber vor allen Dingen bei den Landes-und Bezirkslisten. Eine Abschaffung der Parteistimme an dieser Stelle würde niemandem gerecht, weder den Kandidaten, die sich bekannt machen noch den Wählerinnen und Wählern, die sich ein Bild von der Gesamtzahl der Kandidatinnen und Kandidaten machen wollen. Wir haben auch verfassungsrechtliche Bedenken, ob bei einer Landtagswahl so verfahren werden kann, und wir sehen, dass diese nicht ignoriert werden dürfen.

Nun gibt es aber eine Verständigung, die zum Teil heute zur Abstimmung steht, zum Teil in zwei Wochen. Bei dieser Verständigung ist die Möglichkeit erhalten worden, bei den Listen zur Bürgerschaft, zur Bezirksversammlung, eine Partei zu wählen. Ich will deutlich sagen, ohne diese Möglichkeit hätte es mit der SPD diese Verständigung nicht gegeben und daher finden wir gut, dass die Initiative sich an diesem Punkt bewegt hat.

(Beifall bei der SPD, der GAL und bei Dora Heyenn DIE LINKE)

Bei der Frage, in welchem Verfahren die Kandidatinnen und Kandidaten aufgrund der Partei- oder Personenstimme gewählt werden, haben wir uns an dem Bremischen Verfahren orientiert. Wir sind außerdem froh, dass es bei den Wahlen zu den Bezirksversammlungen weiterhin eine Sperrklausel, immerhin von drei Prozent, geben soll. Im Wahlkreis wird künftig auf die Parteistimme verzichtet, die Zahl der abgegebenen Stimmen auf die Person ist unmittelbar ausschlaggebend.

Heute steht auf der Tagesordnung der Teil der Verfassungsänderung. Wir werden heute beschließen, dass künftige Wahlrechtsänderungen an sehr, sehr hohe Hürden gebunden sein werden. Die Bürgerschaft wird sich so weit binden, dass künftige Wahlrechtsänderungen nur mit einer Zweidrittelmehrheit hier im Haus verändert werden können. Gleichzeitig werden wir durch einen sogenannten fakultativen Volksentscheid Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, durch ein vereinfachtes Verfahren zu erzwingen, dass Entscheidungen, die wir hier getroffen haben, auch den Wählern vorgelegt werden.

Ein weiterer Teil dieses Kompromisses ist es aber auch, dass künftige Volksentscheide zum Wahlrecht quasi in Verfassungsrang gehoben werden und auch nur durch eine Zweidrittelmehrheit verändert werden können. Es sind hohe Hürden und es war nicht der prioritäre Wunsch der SPD, diese Hürden so hoch anzusetzen. Wir hätten uns sehr gut vorstellen können, Wahlrechtsfragen auch künftig mit einfacher Mehrheit auf allen diesen beschriebenen Ebenen zu verändern. In den Gesprächen war aber deutlich, dass dann ein Kompromiss nicht zustande gekommen wäre. Wir hatten den

Eindruck, dass die Initiative die Hürden wollte, weil sie sich vor den Parteien fürchtete und vielleicht aus den Erfahrungen der letzten Legislaturperiode mit der CDU auch Recht hatte, hier misstrauisch zu sein.