Protokoll der Sitzung vom 02.06.2010

Wichtiger noch als Vergleichszahlen ist allerdings der Trend und der ist positiv. Wir ruhen uns nicht aus und können feststellen, dass die Situation sich deutlich verbessert hat. Es wird behauptet – wir haben es vorhin auch in der Aktuellen Stunde gehört –, es gäbe eine soziale Spaltung in der Stadt und die Schere gehe auseinander. Wer das behauptet, geht an den Realitäten vorbei oder hat sich nicht die Mühe gemacht, die Antworten auf

(Dr. Dorothee Stapelfeldt)

unsere Anfrage zu lesen. Das ist so nicht der Fall, wie es behauptet wird. Wir haben keine Spaltung und die Schere geht nicht auseinander.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Keine Spaltung?)

Der Anlass für diese Anfrage war, dass wir in der EU das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung haben. Da war es an der Zeit zu schauen, was Hamburg leistet. Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, was wir noch besser machen können. Die Definition des Armutsbegriffs ist EU-weit Konsens. Ab einem Einkommen von dauerhaft 60 Prozent unter dem Durchschnittseinkommen sprechen wir von relativer Armut. Das ist die Definition, damit wir wissen, worüber wir hier überhaupt reden.

Unser Grundsatz ist, Armut nicht zu alimentieren, sondern – das ist uns wichtig – Armut zu überwinden. Daher ist neben der Grundsicherung und Vergünstigungen für Menschen mit niedrigen Einkommen ein aktivierender Ansatz von großer Bedeutung. Ziel muss die Herauslösung aus dem Transferleistungsbezug sein. Dazu sind beispielsweise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Umschulungen, Qualifizierungen und Kombi-Lohn-Modelle zu nennen. Auch die gezielte Förderung, um Problemlagen zu überwinden, gehört dazu. Hamburg hat in diesem Bereich ein umfangreiches Hilfeangebot. Ich kann gar nicht alles nennen. Es gibt die verschiedensten Beratungsangebote, Fachstellen für Wohnungslose, Schuldnerberatung, das Integrationszentrum und, und, und. Wir haben also ein breit aufgestelltes Beratungs- und Hilfesystem.

Wichtig ist es aber auch, Kompetenzen zu fördern. Wir wollen, dass die Menschen eigenverantwortlich für ihr Leben handeln können, deswegen ist gerade Bildung ein ganz wichtiger Punkt. Hilfsangebote für Familien, niederschwellige Familienhilfe, der Allgemeine Soziale Dienst, Hilfen zur Erziehung, all das fällt in diesen Bereich.

Ich will das Stichwort Bildung noch einmal aufgreifen. Gerade der Bildung kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Das ist auch einer der Hintergründe, warum wir uns soviel Mühe geben mit der Bildungsoffensive in Hamburg. Wir wollen Armut überwinden, Risiken verringern und vermeiden, aber klar ist auch, wer Hilfe braucht, dem wird geholfen. Unser Ziel ist es, die Eigenverantwortlichkeit zu stärken und Hilfe zur Eigenverantwortlichkeit zu geben und da sind wir auf einem guten Weg.

Ich sehe hier durchaus einen unterschiedlichen Ansatz bei der Opposition, wo ich eher die Worte vernehme: mehr, mehr, mehr. Was allerdings dahinter steckt, bleibt unklar. Insofern ist es vielleicht gar nicht so schlecht, dass wir in Hamburg eine Koalition von CDU und GAL haben, weil wir da einen ähnlichen, aktivierenden Ansatz haben. Wir

wollen den Menschen helfen und Mut zu mehr Eigenverantwortlichkeit machen.

Es gibt verschiedene Risiken. Das Hauptrisiko ist mangelnde Bildung; deshalb unsere Hamburger Bildungsoffensive. Ich freue mich auch in diesem Zusammenhang über den Hamburger Bildungskonsens. Es ist klar, dass jeder eine faire Chance erhalten soll.

Weiteres Risiko: alleinerziehend mit Kind oder, präziser gesagt, weiblich, alleinerziehend mit Kindern. Auch da ist der Wiedereinstieg in den Beruf ganz wichtig. Das gelingt immer besser, aber das ist ein Bereich, an dem wir noch arbeiten wollen.

Die Details können wir im Ausschuss noch vertiefen. Insofern halte ich die Anregung der SPD für sehr sinnvoll. Wir hätten sonst selber beantragt, das im Ausschuss weiter zu behandeln. Wir werden diese Diskussion gern gemeinsam mit Ihnen vertiefen. Ich möchte aber nicht enden, bevor ich in diesem Zusammenhang nicht die gute Nachricht des Tages genannt habe. "Die Welt" titelte heute:

"Hamburger Arbeitsmarkt erholt sich im Rekordtempo"

In Hamburg ist die Zahl der Arbeitslosen um 4038 auf 75 000 gesunken. Das sind 0,5 Prozentpunkte weniger als im Vormonat. Wir haben damit den stärksten Rückgang seit 1997 und eine Arbeitslosenquote von nunmehr 8,1 Prozent. Das sind durchaus sehr gute Zahlen, die der Arbeitsmarkt hat. Positiv ist auch, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen um 1 Prozent gestiegen ist. Wir liegen damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Ich bin darüber wirklich froh, denn ich hatte wesentlich Schlimmeres befürchtet. Dass der Arbeitsmarkt so gute Zahlen hat, ist auch insofern von Bedeutung, weil er gerade auch, was die sozialen Systeme angeht, von großer Bedeutung ist. Ich möchte daher abschließend sagen, dass es uns auch in schwierigen Zeiten gelingt, die Balance zu halten. Wir wollen, dass Hamburgs Zukunft gesichert wird und in unserer schönen Stadt auch in schwierigen Zeiten die soziale Gerechtigkeit gewahrt wird.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Das Wort bekommt Herr Kienscherf.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr von Frankenberg, Sie haben uns ein großes Sammelsurium hier vorgestellt und ganz richtig darauf hingewiesen, dass wir im Sozialausschuss sicherlich noch entsprechend Zeit haben werden, das ausgiebig aufzudröseln und zu diskutieren. Ich finde es allerdings schon bezeichnend, dass Sie auf den Anlass Ihrer Großen Anfrage und des Europäischen Jahres zur Bekämpfung

(Egbert von Frankenberg)

von Armut und sozialer Ausgrenzung eigentlich gar nicht richtig eingegangen sind.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Doch, er hat gesagt, gibt es alles nicht!)

Es geht doch nicht darum, hier eine Art Leistungsshow zu machen und der Selbstzufriedenheit Raum zu geben. Das Europäische Jahr ist geschaffen worden, damit wir alle unser Bewusstsein schärfen für die Folgen von Armut und sozialer Ausgrenzung. Politik, aber auch Unternehmen und Bürger sollen alles daransetzen und gemeinsam eine Strategie entwickeln, um Armut und sozialer Ausgrenzung wirksam zu begegnen. Das ist der Sinn des EU-Jahres und es wäre eigentlich ganz schön, wenn das bei Ihnen auch deutlich werden würde.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Ich will noch einmal zwei, drei Dinge ansprechen, die mir wichtig erscheinen.

Der Bürgermeister hat in der letzten Woche davon gesprochen, dass es nun darum gehe, die volle Wahrheit aufzudecken und Herr Kerstan will – wir haben es gerade vernommen – die Bürger zu mehr Ehrlichkeit zwingen. Es ist wichtig, offen und ehrlich über die Situation in dieser Stadt zu sprechen, gerade in einem so schwierigen Bereich wie der Sozialpolitik. Dazu gehört auch, offen und ehrlich über die Daten zu sprechen.

Herr von Frankenberg, Sie haben ausführlich ausgeführt, dass die von Ihnen abgefragten Daten ganz eindeutig dafür stünden, dass Hamburg spitze sei. Es gibt eine recht interessante Situation. Da stellt die CDU-Fraktion in ihrer Großen Anfrage gleich als erstes die Frage, wie sich die Armutsgefährdungsquote in Hamburg in den letzten Jahren entwickelt hat. Das ist eine so allgemeine Frage, dass jeder Statistiker nachfragen würde, was denn eigentlich genau gemeint sei. Der Senator hat in seinem Hintergrundgespräch im Februar und auch jetzt als Kennziffer die Armutsgefährdungsquote im Vergleich zum Bund gewählt und daraufhin festgestellt, Hamburg sei spitze. Das kann man so machen. Allerdings weiß jeder, und das sagt auch das Statistische Bundesamt, für solch eine Diskussion zwei Kennziffern entscheidend sind. Als Vergleichsgröße dient einmal der Bund und – viel entscheidender, wenn es um soziale Spaltung und Armut in einer Stadt geht – das durchschnittliche Einkommen in der jeweiligen Region. Was stellt das Statistische Bundesamt nun 2009 in einer Pressemitteilung fest? Gemäß dieser letzten Kennziffer erreicht Hamburg mit 16,8 die negativsten Werte, gefolgt von Bremen. Im letzten Jahr hält Bremen den Negativrekord, aber Hamburg nimmt immer noch eine Spitzenstellung ein.

Wenn wir zwei Kennziffern haben, dann seien Sie doch bitte so ehrlich und sagen Sie dieser Stadt ganz deutlich, dass insbesondere die Kennziffer

hinsichtlich der sozialen Spaltung unserer Stadt negativ ausfällt und sich auch nicht positiv entwickelt. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir uns das einmal anschauen, erkennen wir, dass es keinen einheitlichen positiven Trend gibt. Immer noch sind 26 Prozent der Unter-16-Jährigen armutsgefährdet und immer noch sind 40 Prozent der Alleinerziehenden armutsgefährdet. Wir erkennen auch, dass die Zahl der armutsgefährdeten Erwerbslosen in den letzten vier Jahren bis 2008 – bis dahin geht die Statistik – deutlich angestiegen ist, von 47 Prozent auf 55 Prozent. Und da reden Sie von einem positiven Trend. Ich weiß nicht, woher Sie das nehmen.

(Beifall bei der SPD)

Das eigentlich Erschreckende ist, dass diese Entwicklung vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Boomjahre stattgefunden hat. Die Jahre 2005 bis 2008, jedenfalls bis 2007, waren wirtschaftliche Boomjahre. Wir alle in Hamburg, zumindest die verantwortungsvollen Sozialpolitiker, mussten aber feststellen, dass wir es in diesen Boomjahren nicht geschafft haben, bestimmte Bevölkerungsgruppen und Stadtteile zu erreichen. Die sind abgekoppelt und das ist negativ; da müssen wir nachbessern und dürfen nicht in Selbstzufriedenheit versinken.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen betrachten es viele schon fast als einen Skandal, dass sich der Senat auf die Anfrage der CDU-Fraktion hin eine Kennziffer heraussucht und nicht einmal darauf hinweist, dass es eine weitere Kennziffer gibt, die man genauso hätte nehmen können, sogar eher hätte nehmen müssen, und dass auch bei Hintergrundgesprächen des Senators nur eine der Kennziffern genannt wird. Das ist keine offene, ehrliche Politik und damit werden Sie dem Ziel des Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung nicht gerecht. Hier gilt es, einen anderen Kurs zu fahren.

(Beifall bei der SPD)

Wir merken an vielen Stellen, dass die Bürgerinnen und Bürger dazu bereit sind. Es wird über soziale Spaltung diskutiert – zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Gängeviertel oder der Initiative "Eine Stadt für alle" – und darüber, dass wir neue Wege gehen und Politik und Gesellschaft gemeinsam für ein besseres Hamburg kämpfen müssen. Wir Sozialdemokraten sind dabei, aber wir wollen eine offene und ehrliche sozialpolitische Diskussion. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort bekommt Herr Lieven.

(Dirk Kienscherf)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut – es ist in der Tat, da gebe ich Herrn Kienscherf recht, schade, dass wir ein so wichtiges und großes Thema haben und die Reihen im Parlament nicht so gefüllt sind, wie ich es mir wünschen würde, und zwar durch die Bank bei allen Fraktionen. Nichtsdestotrotz will ich versuchen, die Diskussion hier hineinzutragen, denn das ist ein zentrales Thema.

Das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut ist eine Aktion der EU, die auf Bewusstseinsbildung setzt. 17 Millionen Euro sind europaweit für Veranstaltungen, Informationen und Diskussionen zur Verfügung gestellt worden. Aber gut, Bewusstseinsbildung ist auch wichtig.

Drei Themen hat die EU in den Mittelpunkt gestellt: Zugang zu Bildung – jedes Kind ist wichtig –, mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden und Integration statt Ausgrenzung. Diese drei Bereiche sind auch für Hamburg ganz wichtige und elementare Themen, die wir thematisieren wollen und die in der Großen Anfrage auch thematisiert werden.

Und ich muss Ihnen widersprechen, Herr Kienscherf. Die Armutsgefährdungsquote ist, wenn man nicht ein statistisches Werk aufbauen will, indem verschiedene andere Indikatoren, die auch möglich sind, aufgeblättert werden, ein sehr geeigneter Indikator, um Hamburg mit dem Bund zu vergleichen, um verschiedene Städte und Länder miteinander zu vergleichen und auch verschiedene Typen von Haushalten und von Lebenslagen miteinander vergleichbar zu machen. Die Armutsgefährdungsquote entspricht da absolut dem Stand der Diskussion.

Herr von Frankenberg sagte bereits, dass in Hamburg die Armutsgefährdungsquote von 2005 bis 2008 gegenüber dem Bundesdurchschnitt überproportional gesunken ist um 2,6 Prozent, bundesweit um 0,3 Prozent. Das ist auf der Basis der Aussagefähigkeit dieses Indikators ein sehr guter Wert. Man muss sehen, dass Hamburg auch gegenüber den Stadtstaaten besser dasteht. Es lohnt sich aber auch, einen Blick hineinzuwerfen und zu sehen, wie die Problemlagen sind, denn es werden zum Beispiel Haushaltstypen, Alterstypen, auch die Frage des Migrationshintergrunds und des Bildungsstands unterschieden. Generell ist in der ganzen Bundesrepublik die Gruppe der Alleinerziehenden diejenige mit der höchsten Armutsgefährdung. Darauf folgt die Gruppe der Haushalte mit drei und mehr Kindern. Dieses sind die am meisten gefährdeten Gruppen. Dies in Verbindung gesehen mit dem Hauptthema des Europäischen Jahres, so ist Zugang zu Bildung ein Merkposten, den ich erst einmal setzen will.

Ein anderer wesentlicher Punkt ist: Wenn man das Qualifikationsniveau und die Armutsgefährdung im Zusammenhang betrachtet, dann sieht man, dass

Geringqualifizierte ein fünfmal höheres Risiko haben, von Armut gefährdet zu sein als Hochqualifizierte. Hier besteht ein sehr starker Zusammenhang. Für Menschen mit Migrationshintergrund ist die Armutsgefährdung zweieinhalb Mal so hoch wie für Menschen ohne Migrationshintergrund. Das ist in ganz Deutschland so.

In Hamburg ist dies grundsätzlich nicht anders. Eine insgesamt niedrigere Armutsgefährdungsquote geht einher mit einer etwas höheren Jugendarmut, einer etwas niedrigeren Altersarmut, hier steht Hamburg im Bundesvergleich sehr gut da. Mit einer niedrigeren Armutsgefährdungsquote bei Alleinerziehenden auf der einen Seite, auf der anderen Seite mit einer etwas höheren Armutsgefährdungsquote bei großen Familien und auch beim Migrationshintergrund ist die Situation stärker ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt. Dafür gibt es Erklärungen. Dies ist metropolenspezifisch und liegt beispielsweise auch an den Strukturen der Haushalte.

Positiv gilt festzustellen, dass es uns offenbar besser gelingt, Alleinerziehenden Lebenschancen zu bieten, als dies in anderen Flächenländern, aber auch in anderen Stadtstaaten gelingt. Das nennt man Gelegenheitsdichte, die Möglichkeiten, hier durch gute Kinderbetreuung Familie, auch alleinerziehende Familie, und Beruf miteinander in Einklang zu bringen

(Carola Veit SPD: Wenn das bezahlbar ist!)

und Einkommen zu erzielen. Das ist ein positiver Faktor.

(Carola Veit SPD: Ja, wenn das bezahlbar ist!)