Protokoll der Sitzung vom 27.10.2010

Da bedanke ich mich auch ganz herzlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich finde es ganz schön, Herr Senator, dass Sie die Debatte auf eine etwas andere Ebene gehoben haben als Ihr CDU-Redner.

(Ekkehart Wersich CDU: Vor allem als Herr Kienscherf!)

Nein, ich meinte jetzt schon den CDU-Redner. Das war meiner Meinung nach dieses Hauses nicht würdig.

Ich will jetzt gar nicht auf die Aktionswoche eingehen, sondern auf den Gedanken, der auch bei Ihnen dahinterliegt. Der Ansatz, den Sie verfolgen, haben Sie einmal in einem Interview im "Hamburger Abendblatt" folgendermaßen zum Ausdruck gebracht – ich zitiere –:

"[…] Nämlich eine neue Balance zu finden zwischen professionellen Helfern und staatlichen Leistungen auf der einen Seite, Verantwortung in Zivilgesellschaft und Nachbarschaft auf der anderen Seite."

Und dann – wieder Zitat –:

"Der Staat soll erst nachrangig eintreten – wenn ein Mensch darauf angewiesen ist, weil soziale Netzwerke nicht greifen."

Ein wichtiges Feld, auf das ich mich einlassen möchte, ist der Pflegebereich. Wir waren einmal gemeinsam auf einer Veranstaltung, auf der Professor Dörner geredet hat – ich habe die Rede noch in Erinnerung – und man kann sagen, dass zum Beispiel der demografische Wandel die Gesellschaft unbestreitbar vor große Herausforderungen stellt. Erst heute stand im "Hamburger Abendblatt" zu lesen, dass es in den nächsten 20 Jahren im Pflegebereich einen Fachkräftemangel von 950 000 Pflegekräften geben wird. Hier ist die Öffentlichkeit, ist der Staat gefordert, ausreichende

öffentliche Leistungen und Einrichtungen bereitzustellen. Diese Verantwortung für Daseinsvoraussetzung kann und darf nicht ansatzweise auf Familie, Nachbarschaft und andere soziale Netzwerke abgeschoben werden, denn sie können nämlich die wirklich großen, tiefen Probleme nicht lösen.

Diese Probleme sind eine Folge des modernen Lebens. Im Lauf der Herausbildung der Großstädte haben Familie und Nachbarschaft wichtige Versorgungsfunktionen – vor allem im Bereich der Kindererziehung und der Pflege – an die Öffentlichkeit, an die Städte, an den Staat abgetreten. Dieser Prozess ist unumkehrbar. Er ist die Voraussetzung für eine moderne Lebensweise, Voraussetzung für Arbeitsteilung, Berufstätigkeit der Frauen, Individualisierung und für die Befreiung aus engen Zwängen und aus der sozialen Kontrolle dörflicher und also zwangsnachbarschaftlicher Gemeinschaften.

Hinzu kommt als jüngere Entwicklung, dass Haushalte große räumlich-zeitliche Koordinationsleistungen erbringen müssen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn in einer innerstädtischen Grundschule Kinder zur Schule gehen, die zu mehr als zwei Drittel nicht im Einzugsbereich wohnen, dann können Sie sich ausmalen, was das für die Familien heißt. Sie bringen die Kinder morgens hin, holen sie abends ab, sie sind auf ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten angewiesen und müssen ihre Wege und Zeiten exakt koordinieren. Sie dürften in der Regel nur schwer in der Lage sein, Zeit für die Pflege nachbarschaftlicher Netzwerke zu erübrigen, auch wenn sie es wollten.

Der geschichtliche Prozess der Übertragung zentraler Versorgungsfunktionen an öffentliche Einrichtungen ist deshalb nicht zurückzudrehen. Trotzdem und vielleicht auch gerade deshalb spielen Nachbarschaften für viele, wenngleich nicht für alle Menschen in der Großstadt eine wichtige Rolle. Für ältere Menschen, Alleinerziehende, Erwerbslose können funktionierende Nachbarschaften, die Nothilfe, Kommunikation, Sozialisation organisieren, eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung des Alltags sein.

Aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen spielen nachbarschaftliche Bestrebungen eine Rolle. Zum Beispiel haben die neuen sozialen Bewegungen seit den Siebziger-, Achtzigerjahren neue integrative Lebensformen, beispielsweise Wohngruppenprojekte, hervorgerufen und somit alternative Lebensstile ermöglicht. Ein Leuchtturmprojekt zivilgesellschaftlichen nachbarschaftlichen Engagements war die Hafenstraße. Auch das sich zäh behauptende Schanzenfest kann man als ein wichtiges Symbol nachbarschaftlicher sozialer Netzwerke verstehen, die alternative Lebensweisen ermöglichen. Da wäre ich jetzt dankbar, wenn der Senat hier etwas weniger Staatsgläubigkeit hätte und

(Senator Dietrich Wersich)

nicht immer auf Polizei und Anmeldung bestünde; da haben wir entschieden wenig Staatsgläubigkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Nachbarschaften unterschiedlicher Intensität haben gerade in der anonymen Großstadt als Selbsthilfenetzwerke und Solidargemeinschaften eine wichtige Funktion. Deshalb sagen auch wir, ihre Förderung und Unterstützung ist eine Aufgabe von Politik, und zwar vor allem von Stadtplanung und Stadtpolitik. Wir können Nachbarschaften nicht planen; wir können sie fördern, von mir aus auch durch solche Aktionswochen, aber sie können sich letzten Endes nur freiwillig entwickeln. Aber wir können sicherstellen – und darüber würde ich wirklich gerne von Ihnen mehr hören –, dass sich die infrastrukturelle Ausstattung der Stadt und soziale Dienstleistungen auch daran orientieren, wie zum Beispiel Wohnquartiere nachbarschaftsfähig gemacht werden und welche Bedingungen das soziale Miteinander im Alltag vorfindet. Hinsichtlich dessen ist die Kürzungspolitik, die der Senat eingeschlagen hat, außerordentlich kontraproduktiv und meiner Meinung nach sind ganz andere Dinge gefordert. Ich möchte jetzt zwei ganz kleine, lapidare Beispiele nennen.

(Glocke)

Dafür habe ich keine Zeit mehr. Dann schönen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort bekommt Herr Müller.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen erkältet. Herr Kienscherf, warum so missgünstig? Ich muss ganz ehrlich sagen, ich fand Ihren Redebeitrag sehr unangemessen.

(Ingo Egloff SPD: Alles andere hätte uns auch gewundert!)

Auch wenn Sie hier sagen – ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört –, dass dieses Thema nicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden darf und sich dann ein, zwei Maßnahmen dieses Projektes herauspicken und es der Lächerlichkeit preisgeben, verhöhnen Sie alle, die an diesem Projekt mit sehr viel Engagement teilgenommen haben.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Ich möchte Sie nicht als Nachbar haben, wenn ich ehrlich bin.

(Beifall bei der CDU und der GAL – Dr. An- dreas Dressel SPD: Unterste Schublade! – Glocke)

Erste Vizepräsidentin Barbara Duden (unterbre- chend): Herr Müller, wir sind kein katholisches Mädchenpensionat, das ist schon wahr, aber meine Aufgabe ist es auch, Mitglieder des Hauses vor solchen direkten Vorwürfen zu verteidigen. Deshalb sollten Sie sich das noch einmal überlegen.

– Ich werde es berücksichtigen, Frau Präsidentin.

Aber weiter haben Sie eben gesagt, Herr Kienscherf – und das fand ich auch bedenklich –, dass alle, die Initiatoren und die Menschen, die an der Aktion teilgenommen haben, etwas durchaus Kreatives eingebracht hätten, dessen Wirksamkeit und Hintergrund Sie hinterfragt haben, um dann dafür zu plädieren, dass wir so etwas hier zukünftig thematisieren. Da pocht, wie Sie es nennen, wieder einmal Ihr sozialdemokratisches Herz,

(Christiane Schneider DIE LINKE: Da pocht wenigstens noch etwas!)

weil Sie offensichtlich nicht wirklich damit umgehen können, dass es Dinge gibt, die aus der Bevölkerung heraus geplant werden und auf die Sie keinen Zugriff haben.

(Karin Timmermann SPD: Herr Müller, das kann doch nicht Ihr Ernst sein!)

Genau das wollen wir nicht. Lassen Sie mich noch einmal ganz kurz darauf eingehen. Frau Schneider, Sie haben sehr viel durcheinandergeworfen. Es ist vollkommen unstrittig, dass es staatliche professionelle Hilfe in vielen Bereichen geben muss, ob das Stadtteilkultur ist, ob das Pflege ist, ob das Soziales ist, eben ganz allgemein. Aber es gibt etwas, das können Sie nicht kaufen und das können Sie auch nicht staatlich verordnen. Das ist unter anderem Solidarität, das ist nachbarschaftliche Hilfe und das ist Respekt untereinander und voreinander und solche Projekte treiben so etwas voran. Wenn dies funktioniert und mittel- oder langfristig vielleicht einmal den Effekt hat, an staatlichen finanziellen Mitteln sparen zu können, dann können wir alle glücklich sein. Aber ich für meinen Teil wäre froh, wenn wir solche Aktionswochen wiederholen könnten, wenn wir die Menschen zu noch mehr Initiativen bewegen könnten, mögen sie Ihnen noch so lächerlich erscheinen. Wichtig ist doch, dass die Menschen vor Ort es akzeptieren und es für gut befinden, endlich einmal ihren Nachbarn oder eine Familie in der Nachbarschaft kennengelernt zu haben, die möglicherweise einmal eine Stunde auf das eigene Kind aufpasst, wenn man selbst etwas Dringendes zu erledigen hat und nicht auf eine Kita zurückgreifen kann. Ich bitte Sie einfach, das nicht nach dem Motto, wir müssten alles staatlich reglementieren, zu betrachten. Wir können die Initialzündung geben und solche Projekte auch weiterhin befördern und dabei sollten Sie mit an einem Strang ziehen. – Vielen Dank.

(Christiane Schneider)

(Beifall bei der CDU und bei Andreas Wal- dowsky GAL)

Das Wort bekommt Herr Kienscherf.

Also zur Wohnung: Herr Müller, wir sind immer für Integration und Sie könnten oder dürften auch mein Nachbar sein. Von daher würden wir Ihnen da entgegenkommen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Aber Sie haben ein paar Punkte angesprochen, auf die ich eingehen will. Ich fand den ersten Beitrag von Herrn Frankenberg nicht angemessen. Ich halte das Thema Nachbarschaft für sehr wichtig. Dort, wo wir eine erfolgreiche Koalition in den Bezirken haben – das ist in Hamburg-Mitte mit Rot und Grün der Fall –, haben wir den Slogan "Gute und starke Nachbarschaften" und das wird dort auch gelebt und zeigt, dass es für uns, die Sozialdemokraten und die Grünen, wichtig ist. Was wir aber nicht brauchen, sind Fensterreden oder eine Aktionswoche.

Ich will auf ein paar Punkte eingehen, Herr Wersich, die Sie bewusst falsch verstehen wollten. Zum einen finde ich es immer noch erstaunlich, was für eine gemeinsame Werteorientierung Sie haben. Dass Sie über Werte reden, wo wir doch heute eigentlich über das Thema HSH Nordbank reden wollten und darüber, wie mit dem Haushalt in den letzten Jahren umgegangen worden ist und wie Sie ihn ausgeplündert haben, ist doch ein Widerspruch in sich.

(Beifall bei der SPD)

Wir begrüßen natürlich die Beteiligung der Bürger an Treppenhausfesten und an was weiß ich noch allem, was in Ihren Flyern angekündigt war oder stattgefunden hat. Doch wenn man sich Ihren Veranstaltungskalender einmal anguckt, machen solche guten Bürgerveranstaltungen nur einen Bruchteil aus, während die Tatsache, dass ECE in seinen Einkaufszentren anlässlich verkaufsoffener Sonntage Veranstaltungen macht, aus unserer Sicht nichts mit guten Nachbarschaften zu tun hat. Das ist Punkt eins.

Punkt zwei – und das finde ich allerdings bedenklich – kommen Sie wieder auf Ihre neue Sozialpolitik zu sprechen. Ich glaube, die Menschen in dieser Stadt haben eine Sehnsucht nach einem handlungsfähigen Staat. Die letzten Jahre haben doch gezeigt, was die Menschen wollen und verlangen.

(Ingo Egloff SPD: Die wollen die alte Sozial- politik zurück!)

Sie wollen nicht alleine gelassen werden, sie wollen nicht den freien Marktkräften überlassen werden, sondern sie wollen eine Politik, die handeln will.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen kann ich Ihnen nur Folgendes sagen: Natürlich brauchen wir Eigenverantwortung und natürlich brauchen wir Impulse aus den Nachbarschaften, aber wir als Politik haben dafür zu sorgen, dass Grundvoraussetzungen geschaffen werden. Das sind klare Konzepte und langfristige Finanzierung und das ist zum Beispiel im Bereich Arbeitsmarktpolitik, die auch im Rahmen der integrierten Stadtentwicklung in den Stadtteilen wirkt, dass wir dort keinen Kahlschlag zulassen dürfen, sondern dass wir alle gemeinsam – und da sind Sie gefordert, Herr Sozialsenator – alles dafür tun müssen, damit sich letztendlich diese Nachbarschaften auch entwickeln können. Dazu kann nicht alleine so eine Aktionswoche dienen, sondern dazu brauchen wir notwendigerweise durchfinanzierte Konzepte und nicht alle paar Wochen einen PRGag des Sozialsenators, der medienwirksam sein mag, letztendlich aber den Bürgerinnen und Bürgern und der Stadt mittel- und langfristig nichts bringt.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)