Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Unterbrechung: 20.06 Uhr

Wiederbeginn: 20.18 Uhr

(Glocke – Präsidentin Carola Veit übernimmt den Vorsitz.)

Meine Damen und Herren! Wir setzen die Sitzung fort, nehmen Sie bitte Platz. Ich sage das jetzt einmal für alle: Wir haben uns im Ältestenrat darauf verständigt, dass die Debatte fortgeführt wird, ohne dass weitere Details aus etwaigen Eingabenakten hier vorgetragen werden. – Das Wort erhält Herr Voet van Vormizeele.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war einmal eine neue Erfahrung: Ich habe noch kein Wort gesagt, komme nur nach vorne und schon tagt der Ältestenrat. Das ist eine Wirkung, die ich mir nie zu erhoffen gewagt hätte.

(Heiterkeit bei allen Fraktionen)

Bei dieser Debatte reden wir über Menschen und ihre Schicksale und da sind Emotionen nachvollziehbar, aber wir als Bürgerschaft sollten bei allen berechtigten Emotionen gelegentlich überlegen – das gilt für alle bisher an dieser Debatte Beteiligten –, ob die Art und Weise, wie Emotionen geäußert worden sind, richtig ist. Ich habe Respekt vor den Kollegen von GAL und der LINKEN, die hier das Schicksal von Menschen angesprochen haben. Ich würde Sie dafür nicht dem politischen Kalkül aussetzen wollen, ich würde aber auch nicht sagen, dass die Kollegen im Eingabenausschuss, ganz egal welcher Fraktion, leichtfertig über das Schicksal von Menschen entscheiden. Ich gehe davon aus, dass dieser Ausschuss, den wir alle gemeinsam gewollt und gewählt haben, seine Arbeit richtig macht.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP)

Alles andere wäre unserem eigenen Selbstverständnis gegenüber nicht angemessen. Worüber

(Ekkehard Wysocki)

wir uns ein bisschen streiten, denn wir haben diese Debatte vor wenigen Wochen schon einmal in diesem Hause geführt, ist letztendlich der richtige Weg. Es ist unbestritten, dass es menschliche und soziale Härten gibt für diejenigen, die in diese Länder zurück müssen. Es ist aus meiner Sicht und der Sicht meiner Fraktion aber auch unbestritten, dass der Ansatz, ein generelles Abschiebeverbot auszusprechen, sei es auch nur befristet, nicht der Lösungsweg ist. Frau Möller, Sie haben das selbst ganz gut nachgewiesen. Sie haben auf diverse temporäre Abschiebestopps hingewiesen. Sie alle haben das Problem nicht gelöst und sie werden auch weiterhin keine Problemlösung sein. Wir haben in der Debatte, die wir hier vor wenigen Monaten geführt haben, deutlich gemacht, dass wir, wenn wir etwas ändern und Lösungen herbeiführen wollen, es dann in den Heimatländern machen müssen. Und wir glauben, Probleme nicht einfach dadurch lösen zu können, indem wir einen Abschiebestopp aussprechen. Wir müssen weiterhin im Eingabenausschuss – ich betone: weiterhin – Einzelfälle sorgfältig prüfen und dort, wo Härten auftauchen, müssen wir der Aufgabe des Eingabenausschusses gerecht werden. Aber es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, eine solche strukturelle Lösung wie einen grundsätzlichen Abschiebestopp zu beschließen.

Ein letztes Wort – mehr als ein letztes Wort passt kaum noch zu dem Antrag – zu dem, was die Kollegen der FDP vorgelegt haben. Frau Möller hat es so schön mit dem Wort "absurd" tituliert und mir fehlte in diesem Konglomerat von verschiedenen Themen eigentlich nur noch ein Passus zur Steuererleichterung.

(Dora Heyenn DIE LINKE: Genau! und Bei- fall – Beifall bei Jens Kerstan GAL)

Mit Verlaub, wer dieses ernste Thema damit beantwortet, indem er vollkommen sachfremde Erwägungen zusammenschreibt, die irgendwie um das Wort Ausländer kreisen, der wird der Ernsthaftigkeit dieses Themas nicht gerecht. Wir werden diesen Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Das Wort hat nun Herr Jarchow.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Bürgerschaft befasst sich heute erneut mit dem Schicksal von Angehörigen der Volksgruppe der Roma. Die erste Feststellung, die ich nach der Lektüre Ihres Antrags treffen muss, ist, wie unterschiedlich doch die Schlüsse sind, die aus der Innenausschusssitzung, in der wir uns vor Kurzem umfassend mit dem Thema Abschiebestopp für Roma befasst haben, gezogen werden. Unser Fazit war damals: Es besteht Konsens, dass befristete Abschiebestopps keine be

friedigende Lösung bringen. Der Innensenator hatte außerdem seinerzeit darauf hingewiesen, dass Abschiebestopps für Roma in keinem Bundesland diskutiert werden. Aus diesem Grund ist diese Initiative aus unserer Sicht entbehrlich.

Eine erneute Diskussion über einen befristeten Abschiebestopp verstellt den Blick auf die wirklich wichtigen Fragen im Bereich des Aufenthaltsrechts. Dies wurde bereits bei der letzten Beratung deutlich. Befristete Regelungen im Aufenthaltsgesetz und der Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz führen auf Dauer nicht weiter. Zwar haben die obersten Landesbehörden die Möglichkeit, befristete Abschiebestopps zu verhängen, Sinn der betreffenden Regelung ist es, den vollziehenden Länderverwaltungen die Möglichkeit zu geben, kurzfristig auf besondere aktuelle Lagen zu reagieren. Dafür müssen dann aber auch entsprechende Fakten vorliegen. In Ihrem eigenen Antrag gelingt es Ihnen aber nicht, die entsprechenden Fakten zu liefern, die über allgemeine Mutmaßungen und Nicht-ausschließen-Können hinausgehen. Für die Fälle, in denen konkrete humanitäre Fakten vorliegen, vertrauen wir Liberale auf die bewährten Instrumente von Eingabenausschuss und Härtefallkommission, die in besonderen Einzelfällen entsprechende Entscheidungen fällen können.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren! Uns ist durchaus bewusst, dass unser Zusatzantrag formal über den Antrag der GAL hinausgeht. Wer aber wirklich dauerhafte Verbesserungen für gut integrierte Menschen möchte, die lediglich aufgrund einer sogenannten Kettenduldung in Deutschland leben, muss nach unserer Vorstellung erneut einen Vorstoß zum Thema Änderung des Aufenthaltsgesetzes machen.

Unsere Kollegen aus dem Landtag in Kiel haben eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, die am Problem selbst ansetzt. Sie haben die schwarz-gelbe Landesregierung zu einer Bundesratsinitiative aufgefordert, die sich derzeit in Vorbereitung befindet. Mit einer entsprechenden Änderung des Aufenthaltsgesetzes soll erreicht werden, dass Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, die seit vielen Jahren in Deutschland leben, einen solchen erlangen können, wenn entsprechende Voraussetzungen für eine ausreichende Integration vorliegen.

Diesen Ansatz begrüßen wir Liberale nachhaltig, gilt es doch, eine rechtsstaatliche Lösung mit gleichen Bedingungen für alle zu schaffen anstatt Abschiebungsaufschübe und uneinheitliche Regelungen in den verschiedenen Bundesländern. Wir bitten daher die übrigen Fraktionen des Hauses, unseren Antrag anzunehmen und den Senat damit hoffentlich zu einer Unterstützung des überfälligen Vorstoßes aus Schleswig-Holstein zu bewegen.

(Kai Voet van Vormizeele)

(Beifall bei der FDP)

Mit einer Überweisung an den Innenausschuss können wir gut leben. So könnten wir diesen Tagesordnungspunkt heute nutzen, um die Vorbereitung einer Entscheidung der Bürgerschaft in der Ausschussberatung auf den Weg zu bringen, damit wir diese dann bis zur erfolgten Einbringung der Bundesratsinitiative zeitnah treffen können. – Danke schön.

(Beifall bei der FDP)

Das Wort erhält Frau Schneider.

Meine Damen und Herren! Ich möchte anfangen mit einem Zitat des SPD-Bundestagsabgeordneten Egloff, der am 23. März 2011 die Unternehmenspolitik von GAGFAH als unmenschlich und kurzsichtig kritisierte. Hatte Herr Egloff die Absicht, dass Brandsätze gegen GAGFAH fliegen? Was Sie hier behauptet haben, Herr Wysocki, ist ungeheuerlich. Sie haben etwas ins Spiel gebracht, woran ich nicht einmal gedacht habe, und ich finde, mir stehen starke Worte der Kritik zu, wenn die Kritik tatsächlich berechtigt ist. Sie ist in meinen Augen berechtigt und Sie haben es nicht widerlegen können.

(Beifall bei der LINKEN und bei Antje Möller GAL)

Ich möchte weiter Herrn Petersen zitieren. Er hat in einer Pressemitteilung am 30. August 2006

(Robert Bläsing FDP: Da haben Sie aber tief gegraben!)

die Abschiebepolitik des CDU-Senats – da ging es um Afghanistan – mit den Worten kritisiert:

"Stattdessen schiebt sie Herr Nagel [also die Afghanen] in ein vom Krieg zerrüttetes und gefährliches Land ab, in ein Land, in dem Tag für Tag kriegerische Handlungen [stattfinden] […], [das] ist menschenverachtend."

Was Sie hier gemacht haben, ist eine gefährliche Eskalation. Sie haben etwas ins Spiel gebracht, woran wir mitnichten gedacht haben, und wenn etwas passiert, dann fällt das auf Sie zurück.

(Beifall bei der LINKEN und bei Antje Möller GAL)

Wir sprechen hier über einen Minimalantrag, ein Minimalantrag deshalb, weil wir nicht aufhören werden, dafür einzutreten, dass die in Hamburg lebenden Roma nicht abgeschoben werden dürfen und dass Deutschland den Roma und Sinti ein bedingungsloses Bleiberecht schuldig ist. Die Gründe dafür kennen Sie alle.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie, Herr Wysocki, verschanzen sich hinter Bundesgesetzen, die Ihre Partei selbst mit zu verantworten hat. Sie können sich nicht dahinter verschanzen. Wenn Sie meinen, diese Bundesgesetze, die Ausländergesetzgebung und die Asylgesetzgebung, die Sie mit zu verantworten haben, seien schlecht, dann tun Sie etwas.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Genau deswe- gen überweisen wir den Antrag!)

Wir finden sie auch sehr schlecht, aber Sie haben die Möglichkeiten und deswegen fordere ich Sie auf, etwas zu tun und sich nicht dahinter zu verschanzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir werden dem Antrag der GAL selbstverständlich zustimmen. Es ist ein Mindestgebot der Humanität, die Abschiebung wenigstens über die Wintermonate auszusetzen. Wir alle, die hier sitzen, wissen oder wir können wissen, in welch elendige Lage die Roma zurückgestoßen werden, wenn sie nach Serbien oder in die anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens abgeschoben werden. Und wer es nicht wissen will, der kann sich nicht herausreden, denn die Quellen sind öffentlich zugänglich. Vor genau einer Woche meldete Amnesty International, dass wieder 27 Roma-Familien die Vertreibung aus ihren Wohnungen in Belgrad droht. Seit dem Jahr 2000 werden immer wieder Roma-Gemeinschaften zwangsgeräumt, seit April 2009 massiv. So hat insbesondere in Belgrad ein Drittel der Roma keine andere Wahl, als in informellen und illegal errichteten Siedlungen zu leben, mit anderen Worten in Slums zu leben, weil sie keine andere Wohnung bekommen, hinter Kartons, Plastikplanen und Brettern, ohne Anschluss an Wasser und Kanalisation, oft ohne Strom. Sie werden, weil sie in informellen Siedlungen leben, auch nicht als Bürgerinnen und Bürger Belgrads anerkannt und sie haben deshalb keine Chance, Arbeit zu finden oder Sozialversicherung zu beziehen. Sie haben keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung. Werden sie zwangsgeräumt, landen sie unter der Brücke. Ich las einen sehr bedrückenden Bericht im Internet über 500 Leute, die nach ihrer Zwangsräumung unter einer Brücke leben. In ganz Serbien gibt es rund 600 illegal errichtete Siedlungen, Gettos an den Stadträndern. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind ausgestoßen von der Gesellschaft, rassistischen Angriffen rechter und nationalistischer Kräfte ausgesetzt und von der Polizei kaum geschützt und oft misshandelt. 80 Prozent der Roma in Serbien sind ohne Arbeit, fast die Hälfte lebt vom Sammeln von Altpapier und Müll. Insgesamt 84 Prozent haben kein geregeltes Einkommen und sind von Hunger und Krankheit bedroht. Viele haben keine Dokumente. Schulen weigern sich nicht selten, Roma-Kinder aufzunehmen; nur 4 Prozent der Roma-Kinder erreichen eine Mittelschule. Das alles weiß der Senat oder kann es

(Carl-Edgar Jarchow)

wissen und in diese Situation schiebt er ab, Kinder, Jugendliche, Kranke, unterschiedslos alle. Wir fordern den Senat auf: Halten Sie ein, prüfen Sie zumindest die Einzelfälle und verschonen Sie die Menschen. Schieben Sie sie nicht während des bitterkalten serbischen Winters in diese Situation ab.

Wir sind in der letzten Bürgerschaftssitzung von der GAL gescholten worden, keine Europäer zu sein – Frau Hajduk, Sie werden sich erinnern. Aber wer in dieser Situation Roma-Familien abschiebt, der handelt gegen alle Grundsätze, die den europäischen Gedanken tragen müssen, wenn er Bestand haben soll.

Jetzt sage ich etwas sehr Persönliches. Wir haben aus der Geschichte unserer Bewegung gelernt, dass es ein Recht auf Flucht geben muss, damit Menschen Situationen entkommen können, die für sie unerträglich sind und in denen sie keine Zukunftsperspektive haben. Die Roma, um die es hier geht, die schon abgeschoben wurden oder denen die Abschiebung droht, haben ihr Land verlassen, weil sie nicht im Verborgenen vor die Hunde gehen wollen. Die Situation der Roma ist überall in Ostund Südosteuropa katastrophal. Diese Roma kommen aus Serbien. Sie konfrontieren uns mit ihrem Elend und klammern sich an jede Möglichkeit, wenigstens ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, und uns fällt nichts anderes ein, als zu sagen: Weg mit euch und euren Kindern.

Das Grundrecht auf Freizügigkeit, das Recht auf Flucht ist ein Menschenrecht, es ist ein demokratisches Recht. Nur undemokratisch verfasste Staaten verweigern Menschen die Ausreise. Serbien hat den Roma ihre Ausreise nicht verweigert, obwohl die EU beschämenderweise Druck ausgeübt hat, sie an der Ausreise zu hindern. Aber was ist das Grundrecht der Freizügigkeit, das Menschenrecht auf Flucht wert, wenn kein Land die Flüchtlinge aufnimmt oder sie möglichst gleich wieder abschiebt? – Nichts.

Die Abschiebung der Roma aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, aus Deutschland, Frankreich, Italien und anderen Ländern missachtet ein grundlegendes demokratisches Recht und schafft oder verfestigt undemokratische Strukturen und Strukturen himmelschreiender sozialer Ungerechtigkeit in Europa. Diese rigorose Abschiebungspolitik begünstigt sehenden Auges den in Ost- und Südosteuropa weitverbreiteten militanten Rassismus.

Die Abschiebung der Roma aus Hamburg ist nicht sozial und sie ist nicht demokratisch, und wenn die SPD heute den Antrag der GAL niederstimmt, wenn sie nicht einmal Mindestanforderungen der Humanität achtet, dann sollte sie "sozial" und "demokratisch" aus ihrem Namen streichen

(Karin Timmermann SPD: Jetzt reicht's aber! Das ist ungeheuerlich! – Andy Grote SPD: Das ist eine bodenlose Frechheit!)