Protokoll der Sitzung vom 29.01.2003

Wir reden über die Auswirkungen der rot-grünen Politik. Und Herr Heydorn hat gerade darauf hingewiesen, dass es so manche Übereinstimmung gibt zwischen dem, was Ulla Schmidt sagt, tut und vorhat, und dem, was die CDU bislang gemacht hat. Ich sehe schon große Unterschiede. Es gibt aber auch Übereinstimmung, und zwar sehe ich eine Übereinstimmung in der Betrachtung der Ursachen, die ich für fehlerhaft halte. Die besteht darin, dass die Diagnose, die ausgesprochen wird, immer Kostenexplosion heißt. Aber wenn man sich mal die GKV-Ausgaben der letzten 20 Jahre anschaut, dann kann man nicht von einer Explosion sprechen, schon gar nicht über 20 Jahre hinweg. Sie liegt konstant gemessen am Bruttoinlandsprodukt bei etwa sechs Prozent. Und da frage ich: Ist das etwas Schlechtes, wenn die Kosten im Gesundheitsbereich nicht schneller steigen als das gesamte Wirtschaftswachstum? Was wir haben, das ist hier mehrfach gesagt worden, ist ein Problem der Einkommenserosion. Die Lohnquote sinkt als Folge struktureller Massenarbeitslosigkeit, Ausweitung von Minijobs et cetera. Es ist klar, wenn behauptet wird, dass die Kosten die Ursache allen Übels sind, wird der logische Schluss gezogen, diese müssen gedämpft werden.

Und nun sagt Herr Renz, klar Privatisierung, nicht zu viel Staat, Grund- und Wahlleistung. Ich halte das Wort Selbstbeteiligung für irreführend. Es führt deshalb in die Irre, weil es doch so ist, dass die Versicherten durch die Beiträge dauernd erheblich und zwangsweise an den Kosten schon beteiligt sind. Sie beteiligen sich also selbst. Die jetzige Regierung setzt auf Wettbewerb. Zum Fallpauschalensystem ist etwas gesagt worden, das hat viele Vorteile, zum Beispiel Transparenz in der Qualität, hat aber auch gewisse Gefahren in sich.

Ich hatte jüngst mit einem Ärztlichen Direktor aus dieser Region um Schwerin ein Gespräch. Dieser betreut vorzugsweise Unfallopfer und sagte mir: Wissen Sie, wir haben folgende Situation, die schwer verunfallten Menschen bedürfen teilweise 30 bis 40 Tage künstlicher Beatmung, neun Tage bekomme ich nach diesem Fallpauschalensystem aber nur bezahlt.

(Harry Glawe, CDU: Ja.)

Das ist eine Situation, in der sich das behandelnde Personal befindet. Natürlich schalten sie nicht ab, gar keine

Frage. Aber was passiert da? Was ist das für eine Auswirkung in einem System? Ich halte das für sehr bedenklich. In der Anhörung, die hier mehrfach angesprochen wurde, sagte Herr Dr. Diemer, zukünftig müssen so genannte teure Patienten regelrecht stationäre Behandlung suchen. Also ist es durchaus denkbar, dass ihn nicht jedes Krankenhaus annimmt.

Weitere fatale Auswirkungen, die wir erleben, sind die psychologischen. Patientinnen und Patienten wird oftmals ein schlechtes Gewissen eingepflanzt. Wenn du ins Krankenhaus kommst, bist du zu teuer. Wenn du Arzneimittel brauchst, bist du zu teuer. Wenn du älter wirst, bist du zu teuer. Ich halte das ganz einfach nicht nur für inhuman, es ist in der Sache auch oftmals falsch.

(Beifall Angelika Gramkow, PDS)

Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dass die Arzneimittelpreise steigen. Das ist ein echtes Problem. Sie steigen aber unter anderem, weil in dem System eine Systematik ist, dass die Pharmakonzerne die Möglichkeit haben, so genannte Dummys, also Testballons, am Markt zu platzieren, die bewirken, dass tendenziell das gesamte Preisniveau der Arzneimittel steigt. Es ist also vergleichbar mit dem Brot. Wenn ich ein Brot für 2,15 Euro kaufe, eins pro Woche brauche, habe ich im Monat etwa 8 bis 10 Euro Kosten für dieses Lebensmittel. Wenn die Preise dieses gleichen Lebensmittels steigen, ohne dass ich mehr Brot esse, sagen wir mal auf 12 Euro, da kommt doch keiner auf den Gedanken und sagt, du verbrauchst zu viel Brot, du isst zu viel Brot. Das ist nicht die tiefere Ursache.

(Beifall Angelika Gramkow, PDS)

Die tiefere Ursache steckt woanders.

Die Reform aus meiner Sicht, die wir brauchen, muss durch den Kopf durch. Die Reform – ich komme zum Schluss – darf nicht im Portemonnaie beginnen, sondern im Kopf. Und dazu ist es aus Sicht der PDS notwendig, die gesundheitspolitischen Ziele zu bestimmen:

1. Ausbau von Primärprävention, das ist gesagt worden,

2. qualitätssichernde Steuerung der Versorgung chronisch Kranker und

3. den Abbau sozialer Ungleichheiten.

Sehr geehrte Damen und Herren, volkswirtschaftlich kann man es drehen und wenden, wie man will, ich behaupte, nur Solidarität rechnet sich. – Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

Danke schön, Herr Koplin.

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 2: Zweite Lesung und Schlussabstimmung des Gesetzentwurfes der Landesregierung – Entwurf eines Gesetzes zum Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien, Drucksache 4/45, hierzu Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, Drucksache 4/169.

Gesetzentwurf der Landesregierung: Entwurf eines Gesetzes zum Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV) (Zweite Lesung und Schlussabstimmung) – Drucksache 4/45 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses – Drucksache 4/169 –

Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.

Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache nicht vorzusehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist es so beschlossen.

Wir kommen zur Einzelberatung über den von der Landesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien auf Drucksache 4/45. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 4/169, den Gesetzentwurf der Landesregierung entsprechend seiner Beschlussempfehlung anzunehmen.

Wir kommen zur Einzelabstimmung.

Ich rufe auf die Paragraphen 1 und 2 sowie die Überschrift in der Fassung des Gesetzentwurfes der Landesregierung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke schön. Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Damit sind die Paragraphen 1 und 2 sowie die Überschrift in der Fassung des Gesetzentwurfes der Landesregierung einstimmig angenommen.

Wir kommen zur Schlussabstimmung.

Wer dem Gesetzentwurf im Ganzen in der Fassung des Gesetzentwurfes der Landesregierung auf Drucksache 4/45 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke. Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 3: Erste Lesung des Gesetzentwurfes der Fraktion der CDU – Entwurf eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Drucksache 4/160.

Gesetzentwurf der Fraktion der CDU: Entwurf eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern (SchulG M-V) (Erste Lesung) – Drucksache 4/160 –

Das Wort zur Einbringung hat die Abgeordnete Frau Fiedler von der Fraktion der CDU.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Viele von Ihnen sind entweder selbst Eltern schulpflichtiger Kinder, Großeltern, Lehrer oder Berufsschullehrer oder haben eine mehr oder weniger große Affinität zur Schule. Stellen Sie sich bitte nun folgende zwei Szenarien vor.

Szenarium Nummer 1: Sie sind Lehrer zum Beispiel einer 8. Klasse und unterrichten an einer Hauptschule. In der Regel sind die Kinder dieser Klassenstufe zwischen 13 und 14 Jahre alt. Auf einen Teil der Klasse trifft dieses sogar zu. Ein weitaus größerer Teil hat schon ein bis zwei

Schulbesuchsjahre mehr auf dem noch jungen Buckel und dann gibt es in dieser Klasse Schüler, die altersmäßig und von ihrer körperlichen Entwicklung her locker mit 13-Klässlern mithalten können und so gar nicht in die Klasse passen wollen. Ihr Interesse am Unterricht ist gegen den Nullpunkt gesunken, sie beschäftigen sich lieber mit Dingen, die mit Schule nichts mehr zu tun haben, und machen das Unterrichten für Sie fast unmöglich und unerträglich. Sie stellen nun den Eltern dieser älteren Schüler anheim, ihre Kinder von der Schule zu nehmen, und hoffen auf ein besseres Unterrichtsklima, wenn die jüngeren Schüler unter sich bleiben können. Die Eltern haben keine Einsicht und die verschiedensten Gründe, genau dies nicht zu tun, und Sie keine entsprechende Handhabe. Es bleibt also beim alten Zustand. Dieses Szenarium hat zur Änderung des Schulgesetzes geführt, woraus sich das zweite Szenarium ergibt.

Szenarium Nummer 2: Sie haben ein Kind, welches zum Beispiel die 8. Klasse einer allgemein bildenden Schule besucht. Es hat, aus welchen Gründen auch immer, die 6. Klasse wiederholen müssen und die Berufsreife, die mit dem Abschluss der 9. Klasse erworben wird, noch nicht erreicht. Der Schulleiter konfrontiert Sie jetzt mit einer gesetzlichen Regelung, die besagt, dass Ihr Kind die Schule verlassen muss, weil es die Vollzeitschulpflicht, nämlich neun Jahre, bereits hinter sich hat. Aber er ist ein verantwortungsbewusster und guter Pädagoge, so dass er Ihnen rät, einen Antrag auf Weiterbeschulung zu stellen, denn er ist wie Sie der Auffassung, dass Ihr Kind durchaus in der Lage ist, die Berufsreife vergleichbar mit dem vorherigen Hauptschulabschluss zu erreichen, und das Jahr Wiederholung in der 6. Klasse seine Wirkung nicht verfehlt hat. Dass er es gut meint, ist außerdem daran zu erkennen, dass er Ihnen diesen Rat vorher gibt und nicht abwartet, bis Sie sich selbst im Schulgesetz schlau gemacht und eingelesen haben. Der Antrag ist gestellt. Der Schulleiter beruft die Klassenkonferenz zur Anhörung ein und lässt zu guter Letzt noch ein schulpsychologisches Gutachten erstellen. Alles geht gut aus, der Weg für die Weiterbeschulung Ihres Kindes ist frei. Sie können nun wieder beruhigt schlafen.

Meine Damen und Herren, für 30 Prozent aller Schüler in Mecklenburg-Vorpommern eines Schuljahrganges würde dieses zweite Szenarium zutreffen. Der Grund dafür ist die Neugestaltung des Paragraphen 56 Absatz 3 des Schulgesetzes Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen seiner Novellierung im Juni des letzten Jahres. Der Paragraph 56 regelt die Dauer des Schulbesuches und besagt, dass ein Schulpflichtiger, der die Vollzeitschulpflicht, also neun Jahre, erreicht hat, die Schule verlassen muss. Mit Bezug auf den Paragraphen 11 Absatz 2 Nummer 1 Buchstaben a) bis e) trifft das für jeden Schüler zu, der, egal welcher Art, die bei uns existierende allgemein bildende Schule mit Ausnahme der Förderschule besucht. Nur auf Antrag der Eltern und mit dem Durchlaufen des im zweiten Szenarium beschriebenen Prozederes ist eine Weiterbeschulung möglich.

Schon im Frühsommer des vergangenen Jahres hatte die CDU-Fraktion in ihrem Gesetzentwurf eine Regelung vorgeschlagen, die der eigentlichen Intention viel näher kam. Es sollte Abhilfe geschaffen werden in Fällen, wie ich sie im ersten Beispiel beschrieben habe, und den Schulleitern eine vernünftige Regelung an die Hand geben, ohne das Mitspracherecht der Eltern oder des volljährigen Schülers zu verletzen.

Mit dem neuen Schulgesetz müsste nun natürlich auch hier die Regionale Schule in den Gesetzestext entsprechend einbezogen werden. Aber die Koalitionsfraktionen waren zu Verhandlungen im Bildungsausschuss nicht bereit und haben ihren, wie sich herausstellte, handwerklich fehlerhaften Entwurf durchgepeitscht mit dem Resultat, dass die eigentliche Zielgruppe, nämlich die älteren Schüler in Klasse 8 und 9, nicht richtig definiert wurden und nun das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Auch wenn davon auszugehen ist, dass sich jeder verantwortungsbewusste Schulleiter diesen strengen und ungerechten Regelungen in Fällen wie in meinem zweiten Beispiel entziehen wird, so muss dieses Handeln doch auf eine gesetzlich legitimierte Grundlage gestellt werden, und es sind Eile, aber auch die notwendige Sorgfalt geboten. Der Paragraph 56 Absatz 3 würde bereits zum Ende des jetzt laufenden Schuljahres greifen. Davon einmal abgesehen halte ich die Durchführung schulpsychologischer Gutachten für 30 Prozent aller Schüler im Jahr für kaum realisierbar.

Meine Damen und Herren, es geht uns nicht um eine neue schulpolitische Grundsatzdebatte, aber die Klagen von Lehrern, Schulleitern und Schulräten über das neue Schulgesetz und insbesondere über seine Praktikabilität sind ernst zu nehmen.

(Beifall Dr. Armin Jäger, CDU, und Eckhardt Rehberg, CDU)

Längst hat hier Frust um sich gegriffen, der die Motivation ablöst. Gründe dafür gibt es viele. Ein Beispiel haben wir herausgegriffen und hoffen, dass Sie unseren Vorschlag zum Anlass nehmen, das Schulgesetz noch einmal gründlich zu überarbeiten. Wir bieten unsere Mitarbeit an. Zwingen Sie die Pädagogen in den Schulen nicht zur Improvisation am Gesetz vorbei. Die Schulen brauchen in der Praxis handhabbare und eindeutige Regelungen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU)

Das Aufspüren von Fehlern oder Lücken im Gesetz, die den Schulalltag erträglicher machen, kann nicht die Aufgabe der Opposition sein. Es ist Ihre Aufgabe, sehr geehrte Damen und Herren von der SPD und PDS. Sie haben mit Ihrer Mehrheit dieses Gesetz in und durch den Landtag gebracht. Wir begrüßen zwar die zukunftsweisenden Ideen des Bildungsministers, aber zunächst muss das Heute bewältigt werden im Sinne von Schule und im Sinne der Kinder und Jugendlichen, die den größten Entwicklungsabschnitt ihres Lebens hier verbringen.

(Beifall bei der CDU)

Danke, Frau Fiedler.

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 45 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Polzin von der Fraktion der SPD.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Offen gestanden kam bei der Beschäftigung mit dem vorliegenden CDUAntrag zum Schulgesetz die ganz große Begeisterung nicht auf. Dafür sind die Erinnerungen an den Marathon zum Ende der letzten Legislatur noch zu frisch. Aber wat mutt, dat mutt.

Es verblieb unter dem damaligen Zeitdruck – dankenswerterweise waren die Bildungspolitiker aller drei Fraktionen hoch motiviert –, für das neue Schuljahr Planungssicherheit zu schaffen. Aber ganz offensichtlich blieb die eine oder andere Unebenheit, die es zügig zu glätten gilt. Ich gehe davon aus, dass es in gemeinsamer Anstrengung gelingen wird, unbeabsichtigte Nebenwirkungen zu minimieren und in diesem Zusammenhang Übergangsund Ermächtigungsparagraphen einer erneuten Prüfung zu unterziehen.

Der neu gefasste Paragraph 56 Absatz 3 erfordert in der Sache – und das habe ich eben auch in der Einbringungsrede so wahrgenommen – mit Sicherheit keinen ideologischen Schlagabtausch, denn in der Intention waren sich alle Fraktionen einig. Schließlich – auch das wurde schon geschildert – sprechen wir über eine Änderung, die durch die CDU-Fraktion eingebracht wurde. In der Hoffnung, das folgende, nicht ganz ernst gemeinte Bild führt nicht dazu, dass Homer sich im Grabe umdreht, sei mir folgender Vergleich gestattet: Da stand es nun, das schöne Pferd mit dem klangvollen Namen Paragraph 56. Das passt gut in unsere Stadt, dachten die sorglosen Gesetzeshüter. Wo war Kassandras warnende Stimme? Geschwind die Mähne neu geflochten und ab damit ins Schulgesetz! Anstatt die berüchtigte Falltür zuzunageln, damit Risiken und böse Nebenwirkungen nicht entweichen können, rollte man mit vereinten Kräften die Gangway heran. Nun ja, das Schulgesetz liegt nicht wie Troja in Schutt und Asche, aber der entdeckte Riss im Fensterglas erfordert Taten.