Protokoll der Sitzung vom 17.12.2010

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE– Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Vielen Dank, Frau Borchardt.

Ich schließe die Aussprache.

Im Rahmen der Debatte ist beantragt worden, den Antrag der Fraktionen der CDU und SPD auf Drucksache 5/3965 zur federführenden Beratung an den Europa- und Rechtsausschuss sowie zur Mitberatung an den Sozialausschuss zu überweisen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Damit ist der Überweisungsvorschlag bei Zustimmung der Fraktion DIE LINKE und

der FDP, Gegenstimmen der Fraktion der SPD, der CDU und der NPD abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU und SPD auf Drucksache 5/3965. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um sein Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag der Fraktionen der CDU und SPD auf Drucksache 5/3965 bei Zustimmung der Fraktion der SPD und der CDU, Gegenstimmen der – jetzt muss ich noch mal fragen: Gegenstimmen? –, Gegenstimmen der Fraktion der NPD und einer Gegenstimme aus der Fraktion DIE LINKE, ansonsten Stimmenthaltung bei den Fraktionen DIE LINKE und FDP angenommen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 32: Beratung des Antrages der Fraktion DIE LINKE – Bericht zur Umsetzung des Artikels 24 des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung“, auf Drucksache 5/3889, hierzu ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 5/3916.

Antrag der Fraktion DIE LINKE: Bericht zur Umsetzung des Artikels 24 des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ (UN-Behindertenrechtskonvention-BRK) – Drucksache 5/3889 –

Änderungsantrag der Fraktion der FDP – Drucksache 5/3916 –

Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Herr Koplin für die Fraktion DIE LINKE.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Inzwischen ist die UNBehindertenrechtskonvention in der öffentlichen Debatte verwurzelt. Sie wird als ein komplexes Werk mit einer noch komplexeren Aufgabenstellung für die Bundesrepublik Deutschland und damit auch für MecklenburgVorpommern wahrgenommen und diskutiert. Sie regelt verbindliche Rechte von Menschen mit Behinderung in fast allen Bereichen des Lebens und auch in der Bildung. Sie stellt neue Bedingungen, erfordert neue Denkansätze und neue Maßnahmen.

Ich denke, niemand ist mit den Überlegungen zu den erforderlichen Maßnahmen bereits am Ende. Im Gegenteil, wir beginnen erst damit. Wir als LINKE sehen die Konvention als eine große Chance für die Gesellschaft und ihre Entwicklung, denn von der Durchsetzung der Rechte behinderter Menschen profitieren alle. Ich will hier nur das Stichwort der „Barrierefreiheit“ erwähnen. Üblicherweise verbinden wir die Forderung nach einem barrierefreien Zugang mit baulichen Konstruktionen. Im Kopf haben wir oft beispielsweise den Rollstuhlfahrer, der an einer Bordsteinkante scheitert oder eine Treppe nicht bezwingen kann. Das wird aber auch für einen Menschen mit einem Gipsbein oder einem neuen Hüftgelenk schwierig. Für eine schwangere Frau kann das Fehlen eines Fahrstuhls oder einer Rolltreppe genauso ein Hindernis sein wie für einen Menschen mit einer Beinprothese.

Es geht aber nicht nur um Bewegung, es geht auch um Lesen, Hören und Fühlen. Eine barrierefreie Umwelt ist deshalb für alle Menschen wichtig, unabhängig davon ob sie zeitweise oder ständig mit einem Handicap leben müssen. Sieht man die UN-Konvention unter diesen Gesichtspunkten, dann ist sie die einmalige Chance zur Gestaltung einer lebensfreundlichen und lebensgerechten Umwelt.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nun kann man einwenden, warum hat DIE LINKE mit ihrem Antrag lediglich den Teil der Bildung herausgegriffen. Das taten wir deshalb, weil wir der Meinung sind, dass hier ein relativ abgegrenzter Bereich für Handlungsmöglichkeiten besteht, der zudem in weiten Teilen in gesamtstaatlicher oder landespolitischer Verantwortung liegt. Dafür sehen wir folgende Gründe:

Bildung ist für jeden Menschen eine wesentliche Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.

Behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind über viele Jahre in das Bildungssystem eingebunden, da sie der Schulpflicht unterliegen.

Bildung beginnt in den ersten Lebensjahren, zum Beispiel durch den Besuch einer Kindertagesstätte, führt über die Schule zur Berufsausbildung oder zum Studium und danach zur Weiter- und Fortbildung.

Nicht umsonst legt die UNO im Artikel 24 sehr dezidiert dar, welche Ansprüche zu erfüllen sind. Lassen Sie mich deshalb den Artikel 24 Absatz 1 zitieren. Dort heißt es:

„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel,

a) die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;

b) Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen;

c) Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.“

Ende des Zitats und so weit die Grundsätze. Die folgenden Absätze untersetzen das mit einzelnen spezifischen Maßnahmen.

Die zentrale Forderung ist die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems. In der amtlichen deutschen Übersetzung der UN-Konvention wurde das Wort „Inklusion“ einfach durch das Wort „Integration“ ersetzt. Das aber ist eine sachlich falsche Übersetzung. Zwischen beiden Begriffen liegen Welten. Die Auseinandersetzung um die Folgen dieses absichtsvollen Übersetzungsfehlers würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, darum nur so viel:

„Integration“ nimmt zuerst die Unterschiede wahr. Es wird erst unterschieden, um dann gesonderte Personen später wieder in das System einzugliedern. Darum gibt es zum Beispiel Förderschulen.

„Inklusion“ hingegen heißt, die Verschiedenheit der Menschen im Gemeinsamen anzuerkennen, und das ohne Ausnahme. Sie werden nicht mehr in Gruppen eingeteilt.

(Udo Pastörs, NPD: Das sollte man bei den Ausländern auch machen, keine Integration.)

Auch hier wird deutlich, dass der Ansatz der UNO viel weiter geht als der Ansatz der Integration. Das ist zwar im internationalen Maßstab nicht neu, aber für Deutsch

land mit seinen Sonderungsmechanismen bedeutet das eine bildungspolitische Revolution. Schon die Forderung nach einem wirklich integrativen Bildungssystem, wie in der Übersetzung ausgewiesen, ist für viele konservative und liberale Bildungspolitiker pädagogisches Teufelszeug. Das riecht in ihren Augen nach Gleichmacherei und Leistungsnivellierung und teuer wird es auch noch.

Die Ausgestaltung eines eigentlich inklusiven Bildungssystems heißt im Kern, dass wir unser antiquiertes Bildungssystem aus dem vorvorigen Jahrhundert grundlegend reformieren müssen. Ich bin sehr gespannt, wie das politisch umgesetzt wird.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland hat die UN-Konvention 2009 ratifiziert und sich damit zu ihrer Umsetzung verpflichtet. Im nächsten Jahr wird der erste Bericht über die bisherige Umsetzung fällig. Auch hier darf man gespannt sein, welche Ergebnisse dann vorgelegt werden. Mit Blick auf die bisherigen Bildungsberichte der OECD zur Situation in Deutschland bin ich eher skeptisch.

Die Wirtschaft, die Gewerkschaften und die Presse werden die Ergebnisse kritisch bewerten – das ist jedenfalls zu vermuten. Die Bundes- und die Landesregierung werden je nach ihrer Rolle ihre vermeintlichen Erfolge darstellen oder unter Berufung auf die finanzielle Situation wohl Besserung geloben. Und das wars dann wohl bis zum nächsten Mal.

Nun ist es mit der UN-Konvention etwas anders. Sie regelt rechtsverbindliche Ansprüche – zunächst nur zum Zugang zu Bildung, aber selbst das ist in Deutschland schon ein Problem und bei Weitem nicht nur für Menschen mit Behinderung. Ich verkenne nicht, dass die Umsetzung der Konvention auch im Bildungsbereich einen längeren Zeitraum erfordert.

Neben den erforderlichen Einzelmaßnahmen ist eine der zentralen Schwierigkeiten das föderale Bildungssystem in Deutschland. Man wird sich in der KMK wieder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Bestrebungen, das klassische Förderschulsystem zu retten, sind bereits unverkennbar.

(Vizepräsidentin Renate Holznagel übernimmt den Vorsitz.)

Ein zweites Problem ist die Trennung der inneren und äußeren Schulangelegenheiten. Zum Beispiel: Barrierefreie Schulen und barrierefreie Lehr- und Lernmittel erfordern erhebliche finanzielle Mittel. Wie sich das die Schulträger mit chronisch defizitären Haushalten leisten sollen, ist höchst fraglich.

Mit beiden Problemen hängt dann noch das Kooperationsverbot des Bundes zusammen, das ja noch immer grundsätzlich fixiert ist. Das heißt, dass mit den Kosten die Bundesländer und die Kommunen allein sind. Damit wird es wieder Unterschiede in den Möglichkeiten der Umsetzung nach der jeweiligen Finanzkraft der Länder und Kommunen geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt eine komplexe Aufgabe vor uns. Sie wird einen langen Atem, viel Engagement und erhebliche Finanzmittel erfordern. Beginnen sollten wir mit einer Bestandsaufnahme, darauf zielt unser Berichtsersuchen ab. Wir müssen unsere Ausgangslage bestimmen und die nächsten Schritte festlegen. Dazu ist der Maßnahmenplan zur Inklusion zumindest eine grobe Orientierung.

Ohne Frage, es sind erste Maßnahmen eingeleitet in unserem Land. Hier gilt es, sie zielgerichtet weiterzuentwickeln und damit aus den bisherigen Integrationsbemühungen inklusionsgerechte Bildungs- und Erziehungskonzepte zu formen.

Ich nehme an, dass der Bildungsminister ausführlich über die bisherige Entwicklung berichten wird. Ich würde aber trotzdem darum bitten, einen Bericht bis zum 28. Februar nächsten Jahres zu beschließen, weil dann ohnehin ein Resümee gezogen werden muss, da die Bundesregierung selbst berichten muss, und diese wird das ja wohl nicht ohne eine Beteiligung der Bundesländer tun. Ich halte, wollen wir diesen Prozess politisch mitgestalten, eine mindestens jährliche Berichtspflicht gegenüber dem Parlament für durchaus sinnvoll und bedanke mich an dieser Stelle für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE)

Danke schön, Herr Koplin.

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 60 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur Herr Tesch.

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Mit richtiger Rede! – Minister Henry Tesch: Die ist immer richtig.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung hat Bewegung in die deutsche Schulentwicklung gebracht, so viel kann man schon mal feststellen, und sie gilt seit dem 26. März 2009 in Deutschland und somit auch in Mecklenburg-Vorpommern.

Die Konvention fordert die Anerkennung des allgemeinen Menschenrechts auf inklusive Bildung, insbesondere für die Gruppe von Menschen mit Behinderung. Das Menschenrecht auf Bildung kennt keine individuellen Vorleistungen oder Ausnahmen. Es ist nur an eine einzige Bedingung geknüpft – das Menschsein.

Im schulischen Bereich verpflichtet uns die Konvention zur Überwindung des separierenden allgemeinbildenden Schulwesens und zur Weiterentwicklung der Schulen zu inklusiven Schulen. Inklusive Schulen sind Schulen, die alle Kinder ohne jegliche Etikettierungen aufnehmen und niemanden aussondern. Sie lassen sich nicht mehr davon leiten, wie leistungs- und funktionsfähig ein Kind sein muss, damit es als integrationsfähig gilt, sondern beschreiben, was ein Kind braucht, um eine bedarfsgerechte individuelle Förderung zu erfahren. Dabei gilt für mich der Grundsatz: Kein Kind beschämen, kein Kind zurücklassen, denn jedes Kind zählt und verdient unsere Unterstützung.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der FDP – Hans Kreher, FDP: Richtig.)

Kinder unterscheiden sich auf vielfältige Weise. Sie sind Mädchen oder Jungen, Einzelkinder oder Kinder mit Geschwistern, Kinder aus verschiedenen Familienformen, Kinder von arbeitslosen oder gut verdienenden Eltern. Kinder haben verschiedene Muttersprachen und kulturell voneinander abweichende außerschulische Bil

dungserfahrungen. Es gibt gesunde und kranke Kinder, schwerfällige und sportliche, langsamer und schneller lernende Kinder.