Protokoll der Sitzung vom 27.09.2012

Es gibt nämlich sehr wohl die sogenannten Vorlaufklassen, in denen die Jugendlichen durch ein freiwilliges zehntes Schulbesuchsjahr einen Abschluss erzielen können. Aber von den circa 1.100 Förderschülerinnen und Förderschülern, die jährlich die 9. Klasse erreichen, gehen nur knapp 180 Jugendliche in diese 10. Klassen der Förderschulen über. Warum? Nein, es sind nicht ihre Fähigkeiten, denn diese sind nicht das Kriterium, die Vorlaufklassen zu besuchen, sondern die Zahl 33.

Kinder an Förderschulen dürfen nämlich ab der siebten Jahrgangsstufe nur dann in die sogenannte Vorlaufklasse, die sie zum Schulabschluss führt, wenn in der sechsten Jahrgangsstufe der Förderschule mindestens 33 Jun- gen und Mädchen beschult werden. Diese Vorlaufklasse würde den Schülerinnen und Schülern die erste Chance geben, in einem zehnten Schulbesuchsjahr nach den Rahmenplänen der Regionalen Schule unterrichtet einen Abschluss, der dem der Berufsreife gleichwertig ist, zu erreichen. Auf die unglückliche Bezeichnung dieses Abschlusses komme ich gleich noch zu sprechen.

Zusätzlich zur Zahl der 33 Jugendlichen wird dann auch noch die Anzahl der Schülerinnen und Schüler festgelegt, nämlich 11, die mindestens die Vorlaufklasse besuchen müssen. Ich kann mir diesen weit hergeholten Zusammenhang nicht erklären. Ich kann die Sinnhaftigkeit nicht erkennen,

(Regine Lück, DIE LINKE: Ich auch nicht.)

die dort bestehen soll, denn durchschnittlich besuchen 100 bis 120 Kinder jeweils eine Förderschule. Warum soll dann jährlich gerade ein Drittel oder ein Viertel dieser Kinder in der Jahrgangsstufe sechs sein? Kein Zusammenhang, keine logische Erklärung, da bleibt also nur die Änderung. Denn wichtig ist doch, dass wir den Kindern breite Möglichkeiten geben, einen Abschluss zu erlangen. Und das sieht der Antrag der Fraktion DIE LINKE vor. Wir beantragen die Streichung der Zahl 33 für eine Mindestschülerzahl einer Klassenstufe, um eine Vorlaufklasse zu bilden.

Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, es gibt in der sechsten Jahrgangsstufe nur 28 Schülerinnen und Schüler, und diese Zahl ist schon realitätsfern, dann gibt es für einen gesamten Schülerjahrgang nicht die Möglichkeit, einen Abschluss zu erlangen. Weil 5 Kinder fehlen, wird ein gesamter Jahrgang abgeschoben, ausgegrenzt, und wir sehen zu, wie die Anzahl der Jugendlichen ohne Abschluss konstant bleibt.

(Regine Lück, DIE LINKE: Das ist ein Skandal.)

Das kann nicht Ihr Wille sein, sehr geehrte Mitglieder der Koalitionsfraktionen, wenn Sie zu Recht behaupten, dass wir kein Kind zurücklassen dürfen.

Durch diese Festlegungen wurden allein in den vergangenen fünf Jahren 5.000 Jugendliche unseres Landes eigenverantwortlich und ohne fremdes Verschulden ab

geschoben. 5.000 Jugendliche wurden fahrlässig ausgegliedert, wissend, dass sie weder einen Schulabschluss haben noch damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sich erhöhen.

(Zuruf von Regine Lück, DIE LINKE)

Das ist nicht zu verstehen, das ist nicht nachzuvollziehen und das muss umgehend geändert werden. Wir bejammern die Anzahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss, anstatt die Zeit des Jammerns zu nutzen und eigene Fehler auszumerzen, die zu diesem katastrophalen Zustand geführt haben.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, diesen Zustand umgehend zu beenden. Die Jungen und Mädchen unseres Landes brauchen Perspektiven und wir sind dazu verpflichtet, ihnen diese zu eröffnen. Die Förderschülerinnen und Förderschüler haben ja derzeit nicht einmal Perspektiven auf ihrem Bildungsweg, denn ihre Schulzeit ist einerseits durch ihre individuellen Lebensumstände, andererseits durch die vom Land vorgegebenen bildungspolitischen Faktoren beeinflusst. Und genau an dieser Stelle können wir relativ einfach die Spirale der Ausweg- und Perspektivlosigkeit durchbrechen. Die Statistik unseres Bundeslandes beweist eindeutig: Jugendliche ohne Schulabschluss sind kein einmaliger Vorfall. Es passiert nicht aus Versehen, es ist schlicht ein Prozess, den meine Fraktion durch den vorliegenden Antrag beenden möchte.

Unser Bildungssystem benötigt dringend eine Strategie, die die aufeinander aufbauenden Maßnahmen erfasst, die zum Erlangen von Schulabschlüssen möglich und auch umsetzbar sind. Denn was nützen separat von- einander existierende Katastrophenschutzprogramme, wenn wir die Ursache der Katastrophe nicht beheben? Was nützen Programme, um bereits gestrauchelte Jugendliche unter Aufbringung von Hunderttausenden Euro wieder in eine Schullaufbahn zu lenken? Und diese Projekte nennen wir dann auch noch verlogenerweise zweite Chance. Wir geben ihnen ja nicht einmal eine erste Chance. Wir geben Ihnen nicht die Chance, ihren individuellen Lernbedingungen entsprechend während der regulären Schulzeit einen Abschluss zu erringen.

Sehr geehrte Damen und Herren, momentan produziert unser Schulsystem zu viele Bildungsverlierer, zu viele Kinder ohne Schulabschluss. Was nützt uns ein System der Schulbildung, das nicht ausreichend präventive Maßnahmen bereithält, sondern sich darauf konzentriert, die negativen Auswirkungen der Unzulänglichkeiten zu kompensieren? Warum gestehen wir den Förderschülerinnen und Förderschülern nicht zu, einen Schulabschluss zu erlangen? Warum ignorieren wir so sehr die tolle Arbeit der Sonderschulpädagoginnen und Sonderschulpädagogen, die speziell für das Unterrichten und Erziehen gerade dieser Kinder ausgebildet worden sind? Trauen wir ihnen nicht zu, durch ihre vielfältigen Methoden, durch ihren engagierten Einsatz für Kinder mit Beeinträchtigungen im Lernen diese Mädchen und Jungen auf einen Schulabschluss vorzubereiten? Wozu gibt es diese speziell dafür ausgebildeten Lehrkräfte? Warum geben wir die Kinder in ihre Hände, damit sich beide Seiten quälen, probieren und letztendlich verzagen? Ignorieren wir die Arbeit der sonderpädagogischen Lehrkräfte, weil wir glauben, sie führt sowieso nicht zum Ziel? Ich gehe fest

davon aus, dass die Lehrerinnen und Lehrer an den Förderschulen genau die Lernfortschritte bei ihren Kindern erzielen wie alle anderen Lehrkräfte an den allgemeinbildenden Schulen auch.

Sehr geehrte Damen und Herren, solange es Förderschulen gibt, solange müssen wir diesen dem Separatismus ausgesetzten Kindern mit einer ganz besonderen Fürsorge begegnen. Dieser Anspruch und die Aufgabe der Schule, die Entwicklung der Schüler zu handlungsfähigen, selbstständigen und eigenverantwortlichen Persönlichkeiten zu ermöglichen, führen die geltenden Be- stimmungen momentan ad absurdum. Denn falls es einer Förderschule mal gelingt, eine Vorlaufklasse zu bilden, was im Durchschnitt alle vier Jahre, aber nur an den größten Förderschulen des Landes vorkommt, dann werden diese Jugendlichen am Ende ihrer Schulbesuchszeit ein weiteres Mal ausgegrenzt. Sie erhalten nämlich lediglich einen Abschluss, der dem der Berufsreife gleichwertig ist. Sie erhalten keinen Abschluss der Berufsreife wie alle anderen Schülerinnen und Schüler an Regelschulen. Sie bekommen ein anderes Zeugnisformular und eine Umschreibung eines Abschlusses, der sie durch diese Formulierung wieder zu Ausgegrenzten werden lässt, denn jeder Arbeitgeber, jede Arbeitgeberin wird bei dieser Art von Zeugnis stutzig.

Daher beinhaltet der Antrag meiner Fraktion ebenfalls, hier eine Gleichwertigkeit der Abschlüsse herzustellen, egal an welcher Einrichtung sie erworben worden sind, Abschluss ist Abschluss.

Ein Antrag der Koalitionsfraktionen sieht berechtigterweise die Herstellung einer bundesweit besseren Vergleichbarkeit der Abschlüsse vor. Doch bevor wir keine landeseinheitliche Vergleichbarkeit hergestellt haben, ist es wenig sinnvoll, sich auf Bundesebene dafür zu engagieren. Das ist sicherlich jedem einleuchtend und daher ganz bestimmt auch zustimmungswürdig.

Sehr geehrte Damen und Herren, mit umfangreichen Mitteln des Europäischen Sozialfonds wurde in unserem Land ein System der sogenannten flexiblen Schulausgangsphase, das produktive Lernen, eingeführt. Inzwischen unterrichten 27 Schulen hier Kinder, denen das Lernen im ganz normalen Unterricht schwerfällt, die wesentlich besser in Verbindung von praktischen Tätigkeiten Lerninhalte aufnehmen und verstehen. Das Bildungsministerium lobt diese Art des Unterrichtens zu Recht als ein erfolgreiches Projekt zur Senkung der Schulabbrecherquote. Dann frage ich Sie allerdings, warum das produktive Lernen nicht auch für Förderschülerinnen und Förderschüler gilt. Das fordert meine Fraktion.

Sehr geehrte Abgeordnete der Koalitionsfraktionen, ich zitiere Herrn Reinhardts Pressemitteilung: „,Wirtschaft, Bildung, Kultur, Soziales –‘“ …

Frau Oldenburg, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

(allgemeine Unruhe – Peter Ritter, DIE LINKE: Ihre Pressemitteilung wollen wir noch hören, Herr Reinhardt. – Zuruf von Marc Reinhardt, CDU)

… „,wer die Presseverlautbarungen der Linken ernst nimmt, der traut sich ir

gendwann nicht mehr aus dem Haus. … Mit permanentem Schlechtreden verbreitet die Linke miese Stimmung, statt echte Lösungsansätze anzubieten.‘“

Herr Reinhardt, das ist ein echter Lösungsansatz meiner Fraktion,

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

der ist echt, der ist richtig und der ist sogar richtig gut.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ums Wort gebeten hat zunächst in Vertretung des Ministers für Bildung, Wissenschaft und Kultur die Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales Frau Schwesig.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Im Jahr 2009 ist unter Mitwirkung Mecklenburg-Vor- pommerns in der Kultusministerkonferenz der Beschluss aus dem Jahr 2007 bekräftigt worden, die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne anerkannten Schulabschluss bis zum Jahr 2012 zu reduzieren, wenn möglich, zu halbieren.

In Ziffer 194 der Koalitionsvereinbarung 2011 bis 2016 ha- ben die Koalitionspartner diese Zielstellung aufgegriffen,

(Peter Ritter, DIE LINKE: Siehste, Simone, und da kommst du mit so einem Antrag.)

„die Zahl von Schülerinnen und Schülern, die nicht mindestens die Berufsreife erwerben“, soll „deutlich“ reduziert werden. Dies soll „sowohl“ durch „Maßnahmen im Schulsystem“ als auch durch „eine ,Kultur der zweiten Chance‘“ geschehen. Daher hat die Landesregierung Maßnahmen zur Senkung der Anzahl von Schülerinnen und Schülern ohne Schulabschluss in den derzeit laufenden Reformprozess zur Inklusion eingeordnet.

(Simone Oldenburg, DIE LINKE: Das stimmt doch überhaupt nicht.)

Insbesondere gilt es, die Ergebnisse der Expertenkommission „Inklusive Bildung in Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2020“ abzuwarten und dann aufzugreifen. Sie sehen, sehr geehrte Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE, dass die Regierung die in Ihrem Antrag aufgeworfenen Fragen als Teil des derzeit begonnenen Veränderungsprozesses des Schulsystems betrachtet.

Durch welche Maßnahmen kann schon heute eine Schülerin oder ein Schüler, die beziehungsweise der eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen besucht hat, bisher einen anerkannten Bildungsabschluss erreichen?

Erstens. Seit dem Schuljahr 1996/97 können Vorlaufklassen an den Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen besucht werden. In diesen Klassen kann die Berufsreife durch ein zusätzliches zehntes Schuljahr an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen erlangt werden. 86 Schülerinnen und Schüler haben über diesen Weg die Berufsreife erlangt.

Das produktive Lernen ist seit dem 1. August 2009 in der Verordnung über die flexible Schulausgangsphase

(Simone Oldenburg, DIE LINKE: Das gilt nicht für Förderschüler.)

und im Erlass zum produktiven Lernen geregelt. Die erfolgreiche Pilotphase von 2005 bis 2008 hat die Landesregierung dazu veranlasst, das produktive Lernen ab dem Schuljahr 2008/2009 auf insgesamt 25 Schulstandorte im Land auszuweiten

(Simone Oldenburg, DIE LINKE: 27.)

und mit dem Schuljahr 2010/2011 um zwei weitere Standorte zu erweitern, sodass nunmehr 27 Schulen das produktive Lernen im Land anbieten. Ziel ist auch hier der Erwerb eines anerkannten Bildungsabschlusses.

Drittens. Die Berufsvorbereitungsjahre, einjährig und zweijährig, an beruflichen Schulen seit 1990/91, die in der Berufsschulverordnung geregelt sind, stellen eine weitere Möglichkeit dar, die Berufsreife zu erwerben.

Und viertens. Auch über die Produktionsschulen, die in Zuständigkeit des Ministeriums für Arbeit, Gleichstellung und Soziales liegen, kann die Berufsreife erworben werden. Produktionsschulen sind Einrichtungen der Jugendberufshilfe und stellen ein zusätzliches Angebot zu den Regelinstrumenten des Bildungsministeriums dar. Sie sind in Mecklenburg-Vorpommern ein wichtiger Baustein zum Übergang zwischen Schule und Beruf.

Zur erstgenannten Maßnahme im Landtagsantrag, zur Bildung von Vorlaufklassen, möchte ich Folgendes ausführen:

Gemäß Paragraf 11 der Förderverordnung Sonderpädagogik vom 02.09.2009 in der Fassung vom 17.09.2010 ist für kleine Förderschulen die Möglichkeit der schulübergreifenden Bildung von Vorlaufklassen zum Abschluss der Berufsreife geschaffen worden.

In Paragraf 11 Absatz 7 der Förderverordnung Sonderpädagogik ist bezüglich der festgelegten Mindestschülerzahl zwar geregelt, dass Vorlaufklassen an der Schule nur eingerichtet werden können, wenn eine Mindestschülerzahl von 33 in der Jahrgangsstufe 7 vorliegt, allerdings wird die Möglichkeit der schulübergreifenden Bildung von Vorlaufklassen eingeräumt. In der Praxis wird diese Möglichkeit noch zu wenig genutzt.

(Marc Reinhardt, CDU: Aha!)