(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE – Helmut Holter, DIE LINKE: Genau. – Torsten Renz, CDU: Gilt das für alle Anträge?)
jährlich erreichen ungefähr 1.000 Schülerinnen und Schüler den Abschluss der Berufsreife, aber für diesen Erfolg lernen sie länger als neun Jahre. Denn nur 15 Prozent dieser 1.000 Schüler, das sind 150 Jugendliche, erzielen den Schulabschluss nach neun Jahren. Nur 150 Jugendliche haben nach der Erfüllung der Vollzeitschulpflicht die Reife, eine Ausbildung anzutreten und in das Berufsleben zu starten. Hingegen erwerben die anderen 850 Absolventinnen und Absolventen ihren Berufsreifeabschluss erst nach zehn, elf oder zwölf Schulbesuchsjahren. Das bedeutet, dass 85 Prozent der Jugendlichen länger als neun Jahre die Schule besuchen, um eben diese Reife zu erwerben.
Allerdings dürfen sie nur in Ausnahmen länger lernen, denn die Eltern müssen Ausnahmegenehmigungen beantragen, damit ihre Kinder weiterhin die Schule besuchen können. Ausnahmegenehmigungen zum Lernen, das kann nicht unser Weg sein, wenn uns daran gelegen ist, die Zahl der Schülerinnen und Schüler zu erhöhen, die einen Schulabschluss in der regulären Schulzeit in Mecklenburg-Vorpommern erreichen.
Warum müssen Eltern darum bitten, dass ihre Kinder länger als neun Jahre zur Schule gehen dürfen? Warum akzeptieren wir nicht in ausreichendem Maße, dass sich Kinder entwickeln, dass es eben nicht ganz so zackig geht, wie man es sich manchmal wünscht. Wenn die Jugendlichen vorzeitig die Schule verlassen, verlassen sie damit die besten Bedingungen, die beste Chance eines Abschlusses. Dieses zu frühe Verlassen ist der
eine Augenblick, der nie wiederkommt, nämlich der Augenblick, der ihnen einen willkommenen Start in das Berufsleben ermöglicht.
Sehr geehrte Damen und Herren, bevor ein Kind eingeschult wird, wird die Schulreife in einer amtsärztlichen Untersuchung festgestellt. Erst, wenn diese Entwicklungsreife des Kindes gegeben ist, wird es eingeschult. Warum überprüfen wir dann nicht genauso am Ende der Schulzeit, ob das gleiche Kind über die Kernkompetenzen schulischer Bildung verfügt, ob es die persönliche Reife hat, um eine Ausbildung zu beginnen? Weshalb wird hier einfach nur ein Zeitabschnitt, aber kein Entwicklungsabschnitt zugrunde gelegt?
Niemand von Ihnen, sehr geehrte Abgeordnete, würde jemals auf die Idee kommen, von seinem Kind zu verlangen, nach zehn Monaten oder nach einem Jahr laufen zu können. Sie warten ab und Sie begleiten jeden Entwicklungsschritt Ihres Kindes. Zuerst wird es auf wackligen Füßen stehen, dann auf ganz festen, und Sie kommen niemals auf die Idee, Ihrem Kind Ihre Hand bei diesem Laufenlernen zu entziehen – und Schule sollte nichts anderes sein, nichts anderes. Wir müssen fördern und begleiten, bis sie alleine laufen können. Ein Jugendlicher darf erst aus der Schule entlassen werden, wenn er eben alleine durch das Leben laufen kann, wenn seine Kompetenzen so entwickelt sind, dass er in der Lage ist, einen Beruf zu ergreifen, und er damit auf seinen eigenen Beinen stehen kann. Dann, erst dann können und dürfen wir loslassen. Genau das sieht der Antrag meiner Fraktion vor, die Dauer bis zum Loslassen, also die Dauer der Schulpflicht der Entwicklung der Kinder anzupassen. Dafür schlagen wir die Überprüfung verschiedener Möglichkeiten vor.
Eine Variante ist die Erweiterung der Schulpflicht um ein Jahr, also auf insgesamt zehn Jahre. Das hätte den Vorteil, dass wir zahlreiche Jugendliche regulär im Schulsystem behalten würden. Wir würden diejenigen dort unterrichten, wo sie hingehören – in die Schule –, und zwar ohne Ausnahmegenehmigung, sondern immer mit der Maßgabe, sie zu fördern und zu unterstützen, bis sich ihre Berufsreife entwickelt hat. Damit hätten sich zahlreiche Ausnahmebedingungen und Sonderregelungen, von denen es im derzeitigen Schulgesetz unzählige gibt, erledigt. Wir würden dem Entwicklungsprozess der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragen und unserer Verantwortung zur Unterstützung und Begleitung der schulischen Bildung gerecht werden.
Allerdings verfolgen wir derzeit eine Strategie des Abschiebens, eine Strategie der Übertragung von Verantwortungen in unzählige nachgeordnete Maßnahmen außerhalb des Schulsystems. Momentan entlassen wir Schülerinnen und Schüler, obwohl wir wissen, dass sie straucheln werden und dass ein weiterer Bruch in ihrer Bildung ihren Lebensweg nachhaltig negativ beeinflussen wird. Es sind gerade die Kinder, die ihre Bildungsanstrengungen vorzeitig aufgeben, die eine mangelnde Motivation besitzen, denen Unterstützung und Halt fehlen, die soziale und familiäre Sorgen mit sich herumtragen, denen die Orientierung fehlt. Aber genau den Kindern, denen die Lehrerinnen und Lehrer, die Mitschüler und das System der Schule diese Orientierung geben, genau diesen Kindern muten wir eine weitere Schwierigkeit zu, indem wir ihnen unsere Unterstützung versagen. Eben diese Brüche im Bildungsweg der Schülerinnen und Schüler zu verhindern, die sich so nachteilig auf
Sehr geehrte Damen und Herren, eine andere Variante, Schülerinnen und Schülern eine gelingende Schulkarriere zu garantieren, ist das Modell der Hamburger Jugendberufsagentur. Dort ist die Trennung zwischen der Vollzeitschulpflicht und der Berufsschulpflicht aufgehoben worden und ein System des Übergangs ist entstanden, das nur noch sehr wenige Jugendliche zurücklässt. Die Schülerinnen und Schüler befinden sich in einem geschlossenen Bildungssystem mit zahlreichen Unterstützungsmaßnahmen, einem engmaschigen Bildungsnetz, das auffängt und behält.
Dass wir in Mecklenburg-Vorpommern genau hier einen enormen Nachhole- und Reformbedarf haben, verdeutlicht, dass die Einhaltung der Berufsschulpflicht momentan vom Land nicht umfänglich überprüft wird. Es gibt keine vollständige Übersicht über die Erfüllung der Schulpflicht, denn die Jugendlichen, die im Anschluss an ihre Vollzeitschulpflicht kein Ausbildungsverhältnis nachweisen, haben zwar eine Pflicht zum Besuch der beruflichen Schule, können sie aber umgehen, da an dieser Schnittstelle keine wirksame Kontrolle erfolgt.
Das Bildungsministerium beziffert die Anzahl dieser Jugendlichen mit jährlich mindestens fünf Prozent, das sind 500 Jugendliche. Mindestens 500 Jugendliche fallen jedes Jahr durch das Netz und erhöhen damit die Anzahl derer, die in Mecklenburg-Vorpommern keine Berufsausbildung absolvieren, ihrer Berufsschulpflicht nicht nachkommen, aber bisher nirgendwo erfasst werden und in keiner Statistik auftauchen. Wenn wir weiterhin diese Lücken und Unzulänglichkeiten in Kauf nehmen, werden wir weiter der Spitzenreiter bei Schulabbrüchen und Ausbildungsabbrüchen sein.
Sehr geehrte Damen und Herren, als die Schulpflicht in Mecklenburg-Vorpommern eingeführt wurde, hat sie die Gesellschaft positiv verändert, weil Bildung keiner privilegierten kleinen elitären Gruppe mehr vorbehalten war. Wenn wir in Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich eine erfolgreiche Bildung für die Schülerinnen und Schüler anstreben, dann müssen wir ein Bildungssystem der Möglichkeiten und der Chancengleichheit entwickeln. Gut Ding will Weile haben – sowohl Bildung als auch Veränderungen im Bildungssystem brauchen Zeit.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz zusammengefasst, glaube ich, lautet die Argumentation der Abgeordneten Oldenburg ungefähr wie folgt: Es gibt nur einen
überschaubaren Anteil der Schüler, die nach neun Jahren erfolgreich ihre Berufsreife erwerben. Die Mehrheit besucht länger das Schulsystem, entweder weil sie Abitur machen, die Mittlere Reife erwerben
oder länger im Schulsystem verweilen, um den Schulabschluss zu bekommen. Und wenn es nur noch eine kleine Minderheit ist, die nach neun Jahren die Berufsreife erwirbt, so jedenfalls habe ich den Antrag verstanden,
Ich hingegen finde die Schlussfolgerung nicht so zwingend. Ich stelle mir umgekehrt die Frage, wenn es Schüler gibt, die nach neun Jahren die Berufsreife erwerben und die vielleicht auch gar nichts anderes möchten, als die Berufsreife zu erwerben, um anschließend in die Ausbildung zu gehen …
Frau Oldenburg, das ist völlig egal. Dann haben wir 15 Prozent junger Menschen, die fast erwachsen sind, die in neun Jahren ihre Berufsreife erwerben, so, wie das eigentlich vorgesehen ist, und dann in den Beruf eintreten. Frage: Warum wollen Sie diesen jungen Menschen vorschreiben, dass sie zehn Jahre zur Schule gehen sollen,
Frau Oldenburg, gibt es Menschen in diesem Lande, junge Menschen, die in neun Jahren ihre Berufsreife absolvieren
Frage: Wenn es die gibt, warum wollen Sie diese 150 dazu zwingen, in Zukunft zehn Jahre zur Schule zu gehen,
die auch jetzt die Möglichkeit gehabt hätten, zehn Jahre zur Schule zu gehen? Sie haben sich dafür entschieden, es nicht zu tun.
Ihr Beispiel vorhin mit dem kleinen Kind, das gehen lernt, das war vielleicht symptomatisch. 15-, 16-jährige Menschen sind keine kleinen Kinder mehr, sie sind unmittelbar auf dem Weg zum Erwachsenwerden und, meine Damen und Herren, ich denke schon, dass wir diesen jungen Menschen auch die Entscheidung überlassen sollten, ob sie nach der Berufsreife, die sie nach neun Jahren erworben haben, in den Beruf eintreten wollen oder nicht. Das sind einfach Menschen, die nahezu erwachsen sind – und auf diesen Kernpunkt lässt sich der Antrag von Frau Oldenburg zuspitzen.
Meine Damen und Herren, ich will argumentativ gar nicht, muss ich sagen, in die Tiefe gehen, weil so einfach ist der Sachverhalt. Dem einen mag es einleuchten, was Frau Oldenburg vorträgt, mir leuchtet es nicht ein. Wenn jemand erfolgreich in neun Jahren die Berufsreife absolviert, muss ich ihn nicht zwingen, wenn er gar nicht will, zehn Jahre zur Schule zu gehen,
(Simone Oldenburg, DIE LINKE: Das ist doch Quatsch! Dafür gibt es jetzt schon Ausnahmeregelungen im Schulgesetz.)
zehn Jahre zur Schule zu gehen, Frau Oldenburg. Und für diejenigen, die das aber doch wollen, die länger als neun Jahre in der Schule sein wollen – entweder weil sie es müssen, um den Abschluss zu erwerben, oder weil sie weitere Abschlüsse erwerben wollen –, da haben Sie ja selber gesagt, gibt es sehr viele Möglichkeiten, dies zu tun.
Das Kernproblem ist doch nicht diese Frage, Frau Oldenburg, sondern das Kernproblem, das haben wir schon vor Monaten erörtert –