Protokoll der Sitzung vom 28.01.2015

Und wenn wir heute nach zehn Jahren bilanzieren, dann müssen wir feststellen: Hartz IV muss tatsächlich grundlegend reformiert werden. Meine frühere Kollegin, Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, heute Mitglied des DGB-Bundesvor- standes, hat das vor Kurzem in einem, wie ich finde, sehr treffenden Satz zusammengefasst. Sie hat nämlich gesagt: „Hartz IV ist kein Vorzeigemodell für Europa, sondern bleibt eine große Baustelle.“ Und wenn man sich seinerzeit die Reformen der Agenda 2010 und die Hartzreform anschaut und das einmal versucht, in den Kontext hineinzustellen zu der Frage oder zu der Tatsache, dass die Schere zwischen Arm und Reich auch in Deutschland immer stärker auseinandergeht, dann wird deutlich, wie stark der Reformbedarf an den Hartzgesetzen ist.

Ich fand übrigens sehr interessant, DIE LINKE hat das – mit einer auch für mich erstaunlichen Redezeit, ich kann jetzt 21 Minuten reden, das habe ich, glaube ich, noch nicht erlebt in diesem Parlament, ich werde das aber nicht nutzen – hier zum zentralen Tagesordnungspunkt gemacht. Sie hat das in der Dezembersitzung des Deutschen Bundestages schon mal gemacht, und zwar im Dezember 2014. Dort hat der Deutsche Bundestag auf Grundlage eines Antrages der LINKEN-Fraktion beraten. Ich fand in der Tat interessant, was sich da verändert hat. Bisher hat hier im Hause, aber auch auf Bundesebene die LINKE-Fraktion Hartz IV immer in Bausch und Bogen abgelehnt. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass in Ihrem Antrag, also im Antrag der Bundestagsfraktion im Dezember 2014, plötzlich eine differenziertere Forderung aufgemacht worden ist. Die bisherige Position, das Hartz-IV-System muss weg, ist aufgeweicht worden. Erstmals wird von „mittelfristig“ gesprochen und kurzfristig fordern Sie, so, wie wir das auch tun, eine Reform von Hartz IV. Ich halte das im Übrigen, auch vor dem Hintergrund pragmatischer Umsetzungsmöglichkeiten, für eine weise Veränderung.

(Torsten Renz, CDU: Die Frage ist, ob das für die Landtagsfraktionen auch gilt. Das müssen wir nachher erst mal sehen.)

Herr Renz, ob das hier für die Fraktion auch gilt, das weiß ich auch nicht,

(Torsten Renz, CDU: Wir werden sehen.)

aber da warten Sie wie ich noch auf die Aussagen von gefühlt noch sechs Rednern. Das werden wir dann sehen.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Ich wäre dafür, dass Sie nicht so viel zu reden haben.)

Das stimmt, Herr Ritter. Es stimmt. Ich bin da aber auch nicht neidisch,

(Peter Ritter, DIE LINKE: Ja, doch, ein bisschen schon, ein bisschen schon!)

aber ich wünsche mir natürlich, dass sich das noch mal ändert, dass wir mindestens so viel Redezeit kriegen, wie die Linksfraktion sie im Augenblick zur Verfügung hat. Dafür werden wir alles tun, dass wir uns da langsam annähern.

(Udo Pastörs, NPD: Ha, ha, ha!)

Aber ich finde, wenn man sich auch differenziert, und ich komme in der Abwägung dazu, die Hartzreformen in ihren Auswirkungen deutlich kritischer zu sehen als die Chancen, das Positive dort abzuleiten, wenn man sich damit beschäftigt, dann muss man sich auch darüber unterhalten, was will man denn reformieren. Ich will hier einige Punkte nennen, die wir für erforderlich halten:

Der erste Punkt ist, der Regelsatz ist mit den 399 Euro heute deutlich zu niedrig. Es reicht nicht für die soziokul- turelle Teilhabe und das muss dringend verändert werden. In dem Zusammenhang sage ich auch vor dem Hintergrund, dass Mecklenburg-Vorpommern mit 23,8 Prozent Kinderarmut an der dritten Stelle in negativer Hinsicht der Tabelle liegt, dass wir, glaube ich, gerade im Interesse dieses Landes dringend eine eigenständige, altersgerechte Anpassung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche brauchen.

Übrigens glaube ich, Frau Hesse, dass das von Ihnen jetzt auch zum wiederholten Male vorgetragene Mittel des Coachings von Familien ein durchaus geeignetes ist, aber ich glaube, dass es allein nicht ausreicht, wenn man die Komplexität sieht, der die Kinder in Familien ausgesetzt sind, die inzwischen in der dritten Generation in der Hilfeschlange sind.

Der zweite Punkt ist, Hartz IV muss entschlackt werden. Ich habe gesagt, das war der Einstieg in ein Grundsicherungssystem, aber es ist kein geeignetes Grundsicherungssystem, sondern es ist ein komplexes, überbürokratisiertes System der Grundsicherung und hier bedarf es deutlich der Vereinfachung. Ich sage mal ein Beispiel: Wenn Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen in einem Jobcenter damit beschäftigt sind, vor allem damit beschäftigt sind, Warmwasserkosten oder Ähnliches zu berechnen, statt Menschen zu beraten, dann geht das klar am Ziel vorbei, zumindest an dem, was wir uns seinerzeit vor zehn Jahren gedacht haben, und dann muss das deutlich entschlackt, vereinfacht, entbürokratisiert werden.

Drittens, und das ist aus meiner Sicht ein überaus zentraler Punkt, müssen wir endlich dafür sorgen, dass Menschen nicht dauerhaft im Hartz-IV-Bezug verweilen. Herr Koplin hat vorhin Zahlen genannt. Das ist besorgniserregend. Und wenn man sich die Langzeitarbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern anguckt, knapp 32.000 Men

schen nach der letzten Statistik sind in unserem Bundesland langzeitarbeitslos, dann ist das etwas, was wir nicht akzeptieren wollen. Aber da sage ich gleichzeitig, es ist etwas da, wo das Land aus eigener Kraft etwas tun kann.

In dem Zusammenhang, sehr geehrte Damen und Herren, finde ich zwei Dinge bemerkenswert:

Das Erste ist, es passt nicht dazu, wenn wir eine verstetigte Langzeitarbeitslosigkeit haben, dass die Fördermittel im Integrationstitel immer stärker reduziert werden, sondern wir müssen uns doch über eins bewusst sein: Die Menschen, die langzeitarbeitslos sind, die Menschen, die mit Mehrfachhandicaps konfrontiert sind, Vermittlungshemmnisse, mehrfache Vermittlungshemmnisse auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, die bedürfen einer besonderen, besonders intensiven Begleitung, um diese Situation aufzulösen. Was machen Sie denn mit jemandem, der drei, vier, fünf Jahre oder noch länger in Arbeitslosigkeit verharrt? Was ist das für ein mühsamer Weg, um einen solchen Menschen dann in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten. Da muss doch jedem hier klar sein, dass da der Aufwand, der zu betreiben ist, viel, viel größer ist als der für einen Menschen, der vielleicht nur ein, zwei oder drei Monate arbeitslos ist.

Und deshalb will ich hier zitieren, was meine Kollegin Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, vor Kurzem gesagt hat, ich glaube, im Rahmen der Debatte zum LINKEN-Antrag: „Wir müssen weg von einem Vermittlungsvorrang hin zu einem Investitionsvorrang. Wir müssen in die Arbeitslosen investieren, damit diese wirklich langfristig auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Sie brauchen Qualifikationen, die nachgefragt werden.“ Dieser Gedanke, zu investieren in die Fähigkeiten, in die persönliche Entwicklung von Menschen, muss sich in jedem Reformvorhaben, welches wir angehen, durchgängig durchziehen, denn wir brauchen für diejenigen, die keine Chance haben, langfristig im ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen – und auch dazu haben wir im Dezember hier im Landtag eine Debatte geführt –, für diese Menschen brauchen wir geschützte Sektoren.

Ich bin der festen Überzeugung, dass ein sozialer Arbeitsmarkt darauf die richtige Antwort ist. Die BadenWürttemberger, aber auch andere machen es vor. Ich nenne das Beispiel Passiv-Aktiv-Transfer. Bisher hat sich der Landtag in seiner Mehrheit einem solchen Gedanken verweigert. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn man in dieser Form herangeht. Es gehört …

(Torsten Renz, CDU: Ja, aber Baden- Württemberg setzt das ja auch nur als Projekt ein und ist nicht bereit, das zu verstetigen.)

Über die Baden-Württemberger, Herr Renz, können wir uns lange unterhalten. Die Anmerkung war gerade, die Baden-Württemberger setzen das nur als Projekt ein. Das, was im Augenblick passiert, das sind zwei Dinge. Das Erste ist, es wird im Augenblick der Projektzeitraum verlängert, weil man länger evaluieren will.

(Torsten Renz, CDU: Sehr richtig.)

Der zweite Punkt der Wahrheit ist, die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt für diejenigen, die dort angesprochen werden, liegt derzeit über 50 Prozent, aber es ist ein viel zu kurzer Zeitraum, in dem man …

(Torsten Renz, CDU: Da sind wir uns einig. Aber Sie fordern, das ja sofort zu verstetigen. Das ist doch der Punkt.)

Aber es deutet sich an, Herr Renz, es deutet sich an, dass dies durchaus ein erfolgreiches Modell ist, und das kann man nicht dadurch wegreden, dass man sagt, na ja, die brauchen länger, um das zu evaluieren. Ich finde, wir müssen mit großem Ernst nach Baden-Württemberg gucken, aber uns auch in anderen Bundesländern umsehen,

(Torsten Renz, CDU: Der Auffassung bin ich auch.)

wo sind erfolgreiche Modelle, die man auch für dieses Bundesland verstetigen kann.

Ich will an der Stelle eingrenzend sagen, das, was die Baden-Württemberger machen mit ihrer mittelständischen Wirtschaft, mit vielen, ich sage mal, experimentierbereiten Unternehmen, die dort angebunden sind, das ist nicht eins zu eins übertragbar auf das, was wir hier machen können. Das muss man ganz klar sagen. Aber ich sage gleichzeitig, es deutet sich an, dass dies ein Modell sein kann, das wir auch – mit Veränderungen – für unser Bundesland nutzen können.

Was mich ärgert an dieser Stelle aus der Debatte im Dezember, ist, dass wir bisher nicht den Schluss ziehen, dass wir an die verstetigte Langzeitarbeitslosigkeit wirklich mit geeigneten, von mir aus auch modellhaften Maßnahmen herangehen müssen, sondern wir nehmen das bisher schlicht und ergreifend zur Kenntnis. Das, was wir im Augenblick machen, wird nicht dazu führen, dass wir Langzeitarbeitslose aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausbekommen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich glaube, und das will ich jetzt noch mal zusammenfassen, dass zwei Dinge notwendig sind:

Das eine ist, wir brauchen dringend eine Reform in den Punkten, wie ich sie gerade genannt habe, aber auch weit darüber hinaus, der Hartzpakete und der Agenda 2010.

Der zweite Punkt ist, die Probleme, die wir hier vor Ort haben, Stichwort „Langzeitarbeitslosigkeit“, die müssen wir mit aller Entschiedenheit auch hier im Hause anpacken. Das tun wir bisher nicht. Und da ist es dringend notwendig, dass sich dieses Haus da anders entscheidet.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat nun der Abgeordnete Herr Heydorn von der Fraktion der SPD.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Das, was ich von dem Kollegen Koplin von der Linksfraktion vernommen habe, war keine differenzierte Betrachtungsweise. Ich habe so ein Stück weit den Eindruck, nach dem, was ich hier von den anderen Rednern vernommen habe, dass Sie sich dabei auf dem ideologischen Holzweg befinden.

Ich glaube, wir müssen uns alle ein bisschen differenziert die Ausgangssituation vor Augen führen, die wir im

Jahr 2004 noch gehabt haben. Wir hatten zwei unterschiedliche Leistungsbereiche. Das eine war der Bereich der Sozialhilfe, hier insbesondere der Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt, und auf der anderen Seite die Arbeitslosenhilfe in Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit. Für den Sozialhilfebereich waren zuständig die Kreise und kreisfreien Städte – das sind sie übrigens heute noch – und die Leistung erfolgte auf der Grundlage des Bundessozialhilfegesetzes.

Das Bundessozialhilfegesetz ist in Westdeutschland entwickelt worden Anfang der 1970er-Jahre. Es waren gute Zeiten und man ging davon aus, die Hilfen, die man anzubieten hat, sind von einem marginalen Leistungsumfang und für einen marginalen Personenkreis. Die Realität im Jahr 2004 und auch in den Jahren davor sah völlig anders aus. Kreise und kreisfreie Städte ächzten unter den Sozialhilfelasten. Die Leute haben sehr, sehr lange Leistungsbezüge gehabt. In dem Kontext stand die Frage im Raum: Was ist zu tun?

Und eins ist bis heute hier noch nicht angesprochen worden. Es heißt, das Thema „Hartz IV und die Hartzgesetze“ stand in einem unmittelbaren Kontext mit dem Thema „Entlastung der örtlichen Sozialhilfeträger“. Von Anfang an stand da ein Entlastungsvolumen von etwas über 1 Milliarde Euro im Raum, 1 Milliarde Euro Entlastung für die kommunale Ebene, und das ist auch gekommen. Wenn man eine differenzierte Betrachtung unter dem Gesichtspunkt durchführt, dann muss man sagen, das ist ein richtiger Erfolg. Das heißt, die örtlichen Sozialhilfeträger sind in erheblichem Umfang durch das Thema Hartz IV entlastet worden, indem der Bund die Kosten dafür übernommen hat.

Bleiben wir einmal bei der Sicht aus dem Blick der Sozialhilfeempfänger. Diejenigen, die als arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen haben, waren von den Arbeitsmarktinstrumenten völlig ausgeschlossen.

(Zuruf aus dem Plenum: So ist es.)

Sie hatten keine Möglichkeit, diese Arbeitsmarktinstrumente in Anspruch zu nehmen, sie waren ausgeschlossen und konnten nicht davon partizipieren. Diese Betrachtungsweise habe ich von keinem von Ihnen bisher hier gehört.

Wenn man sich die durchschnittliche Arbeitslosengeldbezugsdauer ansieht, dann muss man beide Seiten betrachten, man muss sich ansehen, was haben wir vorher im Arbeitslosenhilfebezug gehabt. Aber dann ist auch wichtig: Wie lange haben denn die Leute den Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt nutzen müssen? Wie lange haben sie diese Leistung erhalten? Deswegen gab es den Reformdruck und deswegen ist es auch richtig gewesen, diese Leistungen zusammenzuführen. Es war richtig, diese Leistungen zusammenzuführen. Das heißt also, die Leute, die vorher im Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt waren, haben sich an der Stelle verbessert.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Thema Hartz IV große Verunsicherung in die Gesellschaft gebracht hat, das ist heute hier schon mehrfach angesprochen worden. Also die Befürchtung, dass man nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in die sogenannte Grundsicherheit abrutscht, hat viele Menschen verunsichert und Befürchtungen geweckt, dass ihre soziale Existenz gefährdet ist, denn eins war klar: Ein Jahr Arbeitslosigkeit führte zu

Hartz-IV-Bezug, mit der Konsequenz des verstärkten Vermögenseinsatzes, mit der Konsequenz, dass man auf Angehörige geguckt hat und so weiter und so fort. Das heißt also, das hat gerade die SPD auch zu spüren bekommen, diese Form von Verunsicherung. Aber man muss das Ganze auch ein Stück weit in den zeitlichen Kontext und sich die Frage stellen: Wie war denn die Situation 2004 und 2005 in der Bundesrepublik Deutschland? Würde denn die Einführung eines solchen Gesetzes heute ähnliche Verunsicherungen auslösen? Ich habe da meine großen Zweifel.

2004/2005 – die Zahlen am Arbeitsmarkt und die Situation sind hinreichend beschrieben worden. Die Leute hatten Angst. Viele waren arbeitslos. Viele sahen keine Perspektive mehr und jeder war in irgendeiner Form verunsichert: Was kommt da auf mich zu? Wenn Sie sich die Situation heute ansehen, haben Sie eine andere Sicht. In Mecklenburg-Vorpommern fehlen an allen Ecken und Kanten qualifizierte Arbeitskräfte. Unternehmer sind händeringend auf der Suche nicht nur nach Auszubildenden, sondern auch nach Fachkräften – also eine völlig andere Situation. Die Zahlen, wie wir heute am Arbeitsmarkt dastehen, die sind genannt worden, und das ist ja letztendlich auch von keinem von Ihnen infrage gestellt worden.

(Torsten Renz, CDU: Doch, von Herrn Koplin.)

Und dann kommt ja immer …