Protokoll der Sitzung vom 28.01.2015

Und dann kommt ja immer …

Ach so, Herr Koplin ging darauf ein und hat gesagt, das Sozialleistungssystem musste Wettbewerbsgesichtspunkten weichen. Ich frage mich: Welchen Wettbewerbsgesichtspunkten? Einer der Grundsätze ist ja, Hilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann oder wer die notwendige Hilfe von anderen erhält. Dieses ist bei den Sozialleistungen im BSHG immer ein Thema gewesen, also dieses Subsidiaritätsprinzip hat immer eine Rolle gespielt. Was man mit der Einführung von Hartz IV getan hat, ist, dass man diese Subsidiaritätsaspekte ausgeweitet hat. Das heißt also, dass die Empfänger von Arbeitslosenhilfe letztendlich eher in die Situation gekommen sind und dass man diese Maßstäbe an sie angelegt und zur Anwendung gebracht hat. Das ist das, was passiert ist. Aber das hat nichts damit zu tun, dass es keine sozialrechtlichen Leistungsansprüche mehr gegeben hat, sondern dass überprüfbare Kriterien letztendlich zur Anwendung kommen, nach denen man das bemisst.

Das Thema der Regelsätze, also was ist letztendlich notwendiger Lebensunterhalt, ist durch das Bundesverfassungsgericht überprüft worden und das Bundesverfassungsgericht kam bis auf die Kinderregelsätze zu dem Ergebnis, dass das nicht zu kritisieren ist. Ich darf an der Stelle darauf hinweisen, das hat die Ministerin schon ausgeführt, auch „Bildung und Teilhabe“ ist letztendlich für Kinder daraus erwachsen.

Dann kam das Argument, dass armutsprekäre Beschäftigungsverhältnisse durch Hartz IV stark zugenommen haben. Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Veröffentlichung hinweisen im „Böckler Impuls“, Ausgabe 15/2014, die klar sagt, das Wachstum des Niedriglohnsektors und die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen haben schon früher eingesetzt,

(Torsten Renz, CDU: Das könnte ja von mir sein.)

sie haben letztendlich mit den Hartzgesetzen nichts zu tun.

Ein paar andere Dinge, die hier vorgetragen werden, muss man auch mal erklären, nämlich die Frage: Inwieweit führt Hartz IV zu Dauerarbeitslosigkeit? Also Hartz IV ist doch kein Instrument, was letztendlich die Menschen in Arbeitslosigkeit festnagelt. Das Thema Dauerarbeitslosigkeit ist doch bei uns eher unter dem Gesichtspunkt zu sehen, wie qualifiziert sind letztendlich Leute, damit sie einer regulären Arbeit nachgehen können. Es ist doch nicht mehr so, dass qualifizierte Leute heute im Thema Hartz IV festhängen, weil sie keine Arbeit finden können, sondern die Leute, die heute im Hartz-IV-Bezug sind, haben in der Regel multiple Vermittlungshemmnisse.

Ich gebe Herrn Suhr völlig recht, man muss sich letztendlich darüber Gedanken machen, wie man diesen Menschen weiter hilft, wieder Beschäftigung zu finden. Das heißt, das Thema „arbeitsmarktintegrative Maßnahmen“ muss in der Form in den Fokus genommen und forciert werden, aber man kann doch nicht im Subtext rüberschieben, dass Hartz IV das Instrument ist, was letztendlich Dauerarbeitslosigkeit fördert. Das ist doch einfach nicht der Punkt und das war von Anfang an nicht so. Wir haben in den Jahren 2005, 2006 und 2007 noch eine ganz andere Situation am Arbeitsmarkt gehabt, und das ist der Grund gewesen, warum die Situation damals so war, wie sie war.

Einen Satz vielleicht noch zum Argument der Kinderarmut. Schön wäre es gewesen, Herr Suhr, wenn Sie gesagt hätten, wie Sie Kinderarmut definieren. Ich gehe mal davon aus, dass die Kriterien von Ihnen zugrunde gelegt worden sind, die die EU zugrunde legt, also 60 Prozent des Einkommemedians gelten als armutsgefährdet und unter 50 Prozent als arm. Es gibt ja Leute, die sagen, alles, was letztendlich Hartz IV ist, ist demnach arm. Wenn man diese Definition, die Sie zugrunde gelegt haben, zur Anwendung bringt, dann muss man sagen, im Laufe der letzten Jahre ist die Kinderarmut in Griechenland kontinuierlich zurückgegangen. Also das ist ganz klar, wenn das allgemeine Einkommen letztendlich stark fällt, dann fällt nach dieser Definition auch das Thema Kinderarmut, obwohl die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.

(Torsten Renz, CDU: Aber in Mecklenburg- Vorpommern ist das statistisch auch zurück- gegangen, das hat die Ministerin ausgeführt. – Jürgen Suhr, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Er hat das Gegenteil behauptet.)

Ja klar, sicher. Also das muss man dann auch sagen. Man muss immer gucken, welche Definition wird hier zur Grundlage gemacht und was bedeutet das letztendlich, wenn man es hier umsetzt.

Natürlich ist eine differenzierte Betrachtung der Hartz-IVLeistungen nötig, ob letztendlich die Leistungen, die ausgezahlt werden, unterhalb des Existenzminimums liegen. Also der Begriff „notwendiger Lebensunterhalt“ unterliegt im vollen Umfang der gerichtlichen Kontrolle, das kann man vor Gericht tragen. Und, wie gesagt, das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu dezidiert geäußert und hat gesagt, vom Prinzip her ist das, was hier ermittelt worden ist, von uns juristisch nicht infrage zu stellen. Der unbestimmte Rechtsbegriff „notwendiger Lebensunterhalt“ wird von denen, die letztendlich die Dinge festsetzen, korrekt umgesetzt.

(Jürgen Suhr, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Also wollen Sie daran nichts ändern.)

Was heißt, wollen wir nichts ändern? Da ist ja jede Regierung aufgefordert, den Fokus darauf zu haben, natürlich. Also deswegen unbestimmter Rechtsbegriff, weil er dem zeitlichen Wandel unterliegt. Vor 50 Jahren gehörte mit Sicherheit ein Fernseher nicht zum notwendigen Lebensunterhalt, das würde ich heute völlig anders bewerten. Es sind ja ganz andere Dinge noch dazugekommen, das Thema Internetgrundversorgung und so weiter und so fort, und das werden Dinge sein, die künftig auch in das Thema „notwendiger Lebensunterhalt“ werden einfließen müssen, weil es einfach so ist, wie es heute ist. Aber dass ich sage, man muss jetzt, wie das hier gefordert wird, diesen Regelsatz verdoppeln oder sonst etwas tun, also dafür muss man sich erst mal eine Grundlage erarbeiten. Ich bin sehr dafür, dass man eine ordentliche Grundlage erarbeitet und auf dieser Grundlage dann Festlegungen und Entscheidungen trifft.

Insgesamt muss man sagen, die Bilanz von Hartz IV ist differenziert, aber im Ergebnis ist das, was heute dabei herausgekommen ist, eher positiv zu bewerten. – Damit will ich es auch belassen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und CDU)

Das Wort hat nun der Abgeordnete Herr Andrejewski von der Fraktion der NPD.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre Hartz IV sind zehn Jahre grundgesetzfreie Zone.

Artikel 11 Absatz 1 Grundgesetz: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“ Ja, es sei denn, man ist Hartz-IV-Empfänger, dann muss man täglich auf dem Postweg erreichbar sein, es könnte ja eine Anweisung des Amtes im Briefkasten liegen, dass man am nächsten Tag zu erscheinen hat. Man ist an die Scholle gebunden wie ein mittelalterlicher Bauer und darf seinen Wohnort nicht länger als für einen Tag verlassen, wenn man keine Sanktionen riskieren will.

Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Alle Deutschen? Nicht, wenn sie Hartz IV beziehen, da wird diktiert, was man zu arbeiten hat. Zumutbar ist alles, bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit und der Kriminalität. Die Ein-Euro-Jobs sind oft nichts anderes als reine Ausbeutung.

Artikel 13 Absatz 1 Grundgesetz: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Es sei denn, der Sozialermittlungsdienst steht vor der Tür. Wenn jemand denunziert wird, er lebe in einer Bedarfsgemeinschaft, die nicht angemeldet worden sei, tauchen die Schnüffler unangemeldet auf. Wenn man sie nicht hereinlässt, streichen sie die Leistung wegen mangelnder Mitwirkung bei der Ermittlung der Bedürftigkeit, lässt man sie herein, spitzeln sie alles aus, bis auf den letzten Kleiderschrank.

Artikel 14 Absatz 1 Grundgesetz: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Doch wer jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, bekommt gerade einmal ein oder zwei Jahre Arbeitslosengeld,

dann werden seine Lebensersparnisse geplündert bis auf ein geringes Schonvermögen, während sich die Hartz-IVErfinder Schröder und Fischer hemmungslos bereichern.

(Beifall vonseiten der Fraktion der NPD – Torsten Renz, CDU: Das ist ein Umlagesystem.)

Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Wie passt dazu denn die Erbenhaftung aus Paragraf 35 Absatz 1 SGB II? Da heißt es: „Der Erbe einer Person, die Leistungen nach diesem Buch erhalten hat, ist zum Ersatz der Leistungen verpflichtet, soweit diese innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall erbracht worden sind und 1.700 Euro übersteigen.“ Diese Haftung ist begrenzt auf die Erbmasse, das heißt aber, dass das Amt den Großteil des Erbes kassiert und offenbar auch Todesanzeigen studiert, um zu sehen, ob da irgendwas zu holen ist.

(Udo Pastörs, NPD: Na sicher, da gibts doch Beispiele.)

Das ist nicht gerade sehr familienfördernd.

Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Ja, da kann ich nur George Orwell aus „Farm der Tiere“ zitieren: „Alle Tiere sind gleich, aber einige … sind gleicher.“

Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Das wird schwer, wenn man Hartz-IV-Empfänger und chronisch krank ist, denn Mehrbedarf für besondere Ernährung, etwa für Diabetiker, wurde gestrichen, weil die Staatsmacht der Meinung ist, diese besondere Ernährung gäbe es auch billig bei Aldi und wäre vom Regelsatz zu bezahlen.

Artikel 1 Absatz 1 Satz 1, das Kronjuwel des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

(Wolf-Dieter Ringguth, CDU: Dass Sie uns das vorlesen!)

Das hat sich leider noch nicht bis in die Jobcenter herumgesprochen, dort ist der Mensch ausschließlich Objekt arroganter Machtausübung. Die Jobcenter dienen allein dem Ziel, Vorwände für Leistungskürzungen zu finden und noch irgendwelche Vermögenswerte zu kassieren, die man vielleicht findet, am besten 100-Prozent-Sanktionen.

100-Prozent-Sanktionen sind immer noch geltendes Recht, das heißt, man kriegt auch keine Kosten für Unterkunft und Heizung und keine Krankenversicherung – eine klare Verletzung der Menschenwürde, was auch etablierte Juristen und höhere Richter schon zum Ausdruck gebracht haben. Hartz IV ist verfassungsfeindlich und seine Urheber sind Verfassungsfeinde, nichts anderes.

(Beifall vonseiten der Fraktion der NPD)

Das Wort hat nun der Abgeordnete Herr Foerster von der Fraktion DIE LINKE.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben ja eine differenzierte Betrachtungsweise von und zu Hartz IV angemahnt. Da sage ich, schön und gut, aber

schauen wir uns doch mal an, wie die Schlagzeilen, wenn man so will, im Jubiläumsjahr von Hartz IV, lauten. Dominant ist eine und die heißt: „Weniger Arbeitslose“, „Dank Hartz IV“.

Zahlreiche Arbeitsmarktexperten und auch Wissenschaftler haben sich die Frage gestellt, ob es diesen gern konstruierten Zusammenhang nun tatsächlich gibt. Nicht überraschend kommen viele auch zu dem Schluss, dass diese Behauptung eigentlich nicht haltbar ist, …

(Torsten Renz, CDU: Aber können Sie denn das Gegenteil beweisen?)

Das will ich gerne versuchen, Herr Renz.

(Torsten Renz, CDU: Na dann los!)

… denn betrachtet man die bundesweite Entwicklung beispielsweise der Erwerbstätigenzahlen, so stellt man fest, dass diese ihren historischen Tiefstand schon 1994 erreicht hatten und danach kontinuierlich wieder angestiegen sind. Folglich setzte dieser Trend bereits lange vor Einführung der Hartzgesetze ein. Es gab aber einen anderen Trend, der in diesem Zusammenhang wichtig ist, denn Vollzeitbeschäftigung ging spürbar zurück, während Teilzeitstellen und auch selbstständige Tätigkeiten zunahmen.

Das Arbeitsvolumen, also die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden, ist nicht gestiegen, das lag 2012 nicht höher als 1994. Die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss, ist, dass gesamtwirtschaftlich betrachtet die vorhandene Arbeit einfach nur auf eine größere Zahl von Erwerbstätigen verteilt wurde.

(Torsten Renz, CDU: Hatten wir denn 1994 noch die 40-Stunden-Woche, oder waren es 38 Stunden?)

Allerdings wirkte jetzt, wir sind ja heute bei Hartz IV, die mit den Hartzgesetzen einsetzende Deregulierung am Arbeitsmarkt wie ein Katalysator für ungleich schlechtere Lohnbedingungen und eine massive Ausweitung des Niedriglohnsektors. Ich werde das auch noch mit Zahlen belegen und falls Sie das im Detail nachlesen wollen,

(Torsten Renz, CDU: Nein.)

dann empfehle ich Ihnen die Studie von Gustav Horn und Alexander Herzog-Stein vom IMK.

Was passierte, ist, dass die soziale Fallhöhe stieg, und das hatte natürlich Konsequenzen. Das hat sich zum Beispiel nachhaltig auf die Bereitschaft der Menschen ausgewirkt, sich in ihren Unternehmen, im Betrieb zu artikulieren, die Einhaltung der zu ihren Gunsten geltenden gesetzlichen Bestimmungen einzufordern oder einfach auch nur Missstände offen anzusprechen. Im Zweifel hielten Beschäftigte mit Blick auf die drohende Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Gefahr, binnen weniger Monate und unabhängig von ihrer erworbenen Qualifikation und ihrem bisherigen beruflichen Werdegang in die Grundsicherung zu fallen, lieber den Mund. Anders als zuvor waren viele Beschäftigte bereit, für einen Arbeitsplatz, noch dazu in der Heimat, die regelmäßig die höchsten Arbeitslosenquoten aufwies, Zugeständnisse zu machen und im Zweifel selbst eine Entwertung ihrer Qualifikation in Kauf zu nehmen.

Und ich sage das durchaus auch selbstkritisch, die neuen Regelungen brachten natürlich auch die Gewerkschaften in Bedrängnis, nicht nur, weil ihnen viele Menschen übel nahmen, dass sie sich aus historischer Verbundenheit zur SPD während der rot-grünen

Regierungszeit still verhalten hatten, sondern auch, weil die wachsende Zahl prekärer Beschäftigter, ob nun in befristeter Anstellung, als Leiharbeiter, als Minijobber und so weiter, natürlich schwerer zu organisieren war und nach wie vor auch ist. Es war schließlich die Erkenntnis, unter diesen Rahmenbedingungen entweder gar nicht oder zumindest nicht zu guten Tarifabschlüssen zu kommen, die dazu geführt hat, dass von Beginn dieser Entwicklung an insbesondere die NGG und ver.di als die beiden Gewerkschaften, die schwerpunktmäßig für den Dienstleistungsbereich zuständig sind, zu den ersten Befürwortern eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes wurden.

(Torsten Renz, CDU: Aber das waren doch die, die 2004 mit dazu beigetragen haben, dass der Mindestlohn kommt!)