Protokoll der Sitzung vom 04.06.2015

Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn die Bundesregierung auf die Idee käme, eine elektronische Fußfessel für jeden Mann und jede Frau einzuführen, dann wäre hier in Deutschland aber ein Riesenaufstand.

(Michael Andrejewski, NPD: Oder auch nicht.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, natürlich kann man argumentieren, dass die Vorratsdatenspeicherung bei der Strafverfolgung Vorteile bringt, aber niemand käme doch auf die Idee, eine elektronische Fußfessel für alle Menschen in Deutschland einzuführen, weil man mit einer elektronischen Fußfessel prophylaktisch hinterher nachschauen kann, wo welche Personen zugegen waren,

(Michael Andrejewski, NPD: Das kommt auch noch. – Zuruf von Udo Pastörs, NPD)

wer tatsächlich beim Raubüberfall vor Ort war, wer bei der Oma als Enkelbetrüger vor der Tür gestanden hat. Natürlich könnte man das alles machen, aber niemand würde auf die Idee kommen, das zu fordern, weil es unverhältnismäßig ist.

(Udo Pastörs, NPD: Noch! Noch ist es unverhältnismäßig.)

Aber genau das, meine Damen und Herren, machen wir jetzt mit der Vorratsdatenspeicherung.

Vielleicht kommt jetzt als Einwurf, von der CDU insbesondere: Na ja, so dramatisch ist es nun auch nicht, Herr Saalfeld. Aber für mich gilt der Ansatz: Wehret den Anfängen! Natürlich ist die Vorratsdatenspeicherung, wie sie jetzt eingeführt werden soll, eine stark abgespeckte Variante von dem, was wir schon mal kurze Zeit hier in Deutschland hatten und was die Verfassungsgerichte zu Fall gebracht haben. Aber ich sage Ihnen: Wehret den Anfängen! Und ich will Ihnen Beispiele nennen.

Können Sie sich noch erinnern, als die Mautbrücken an der Autobahn angebracht wurden für die Lkws? Die scannen die ganze Zeit die Kfz-Kennzeichen. Da wurde auch gesagt, das ist aber gefährlich, dass man da auf einmal permanent so eine Art Kfz-Kennzeichenüberprüfung macht. Und da wurde gesagt: Nein, das ist vom Gesetz ausgeschlossen, dass das jemals zur Strafverfolgung oder wie auch immer gegen die Bürgerinnen und Bürger verwendet wird. Man hat die Mautbrücken aufgebaut und es dauerte nicht lange, bis unter anderem auch Herr Caffier gefordert hat: Na ja, wenn die Mautbrücken nun schon stehen, kann man doch auch die Daten für andere Zwecke verwenden, wenn es nun schon angeschafft ist. Und genau das wird mit der Vorratsdatenspeicherung auch passieren.

Momentan wird die Infrastruktur eines Überwachungsstaates technisch vorbereitet, und wir wissen nicht, in wessen Hände sie irgendwann fallen wird – das müssen wir aber heute berücksichtigen, wenn wir das entscheiden –, und das finde ich gefährlich. Auch die CDU kann nicht garantieren, dass in Zukunft alle Behörden, alle Parteien und alle Regierungen gesetzeskonform und so,

wie wir uns das heute gedacht haben, mit diesen Techniken und Möglichkeiten umgehen werden. Und deswegen habe ich da große Bedenken. Wir wissen durch die BNDAffäre, durch die Geheimdienstaffären, die uns momentan erschüttern, dass selbst unsere Behörden teilweise mit ihren Kompetenzen, die wir ihnen im Vertrauen gegeben haben, nicht ordnungsgemäß umgehen, und zwar heute schon.

Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, und zwar können Sie sich vielleicht erinnern, dass die Kontodatenabfrage auch im Rahmen der Terrorismusbekämpfung eingeführt wurde. Damals wurde gesagt, da müssen sich die Bürger keine Gedanken machen, das wird nur gegen ganz, ganz schwere Straftaten eingeführt. Da geht es um Geldwäsche und da geht es um terroristische Vereinigungen, das betrifft den normalen Bürger nicht. Na ja, dann hat man gesagt, gut, wenn es so ist, dann führen wir die Kontodatenabfrage halt ein. Und siehe da, wenige Jahre später wurde das Gesetz geändert und auch für Gerichtsvollzieher geöffnet. Jetzt lesen wir im Monatstakt, dass die Abfragen von Kontodaten immer mehr durch die Decke gehen, die Tendenz steigend ist. 2013 waren es noch 142.000 Abfragen, 2014 waren es dann schon 230.000 Abfragen, Tendenz steigend, wir haben im ersten Quartal schon 76.000 Abfragen. Wir haben auch schon den ersten Skandal gehabt, wo ein Finanzbeamter mal geguckt hat, was der Liebhaber seiner Frau auf seinem Konto macht, und so weiter und so fort.

Also, meine sehr geehrten Damen und Herren, natürlich gibt es heute gute Möglichkeiten, auch die Vorratsdatenspeicherung in die eine oder andere vernünftige Bahn zu lenken, wobei ich das bezweifeln möchte. Aber wir müssen auch als Politiker in die Zukunft schauen und sagen: Was passiert mit dieser Technik in Zukunft? Ich sage Ihnen, es wird auch die CDU sein, die heute wie der böse Wolf bei den sieben Geißlein Kreide gefressen hat und sagt, na ja, das ist doch alles verfassungskonform, die dann in wenigen Jahren sagt, na ja, nun ist aber die Technik angeschafft, nun sammeln wir die ganzen Daten, nun können wir sie doch auch mal für das und das einsetzen und noch für jenes einsetzen.

Also der Spruch, der in der Bibel steht: „Wehret den Anfängen“, der ist ganz wichtig, ganz, ganz wichtig.

(Udo Pastörs, NPD: Das stimmt. Aber nicht nur in dem Fall.)

Ich frage mich, ob der CDU insbesondere bewusst ist, dass sie gewollt oder ungewollt momentan die Infrastruktur eines Überwachungsstaates aufbaut.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Terroranschläge, die uns in der letzten Zeit auch in Europa getroffen haben, scheinen den Druck zu erhöhen, solche Maßnahmen einzuführen. Aber was wir eben auch an diesen schlimmen Terroraktionen und Vorfällen gesehen haben, ist, dass uns die Vorratsdatenspeicherung davor nicht schützen konnte. Vielmehr haben wir hinterher immer wieder festgestellt, dass uns die Täter vorher bekannt waren, dass sie sogar in unseren eigenen Gefängnissen gesessen haben, wie zum Beispiel in Frankreich, in Paris bei Charlie Hebdo. Da haben sich die Täter in den staatlichen Gefängnissen radikalisiert.

Und wenn ich wirklich effektiv so etwas bekämpfen möchte, dann fange ich doch bei meinen eigenen Institu

tionen, nämlich den Gefängnissen an, um zu schauen, dass dort nicht noch Schlimmeres passiert als das, was sozusagen eh schon vorhanden ist. Das verstehe ich unter effektiver Kriminalitätsprävention und Kriminalitätsbekämpfung. Aber das Ausspionieren, zumindest das Abspeichern von Telekommunikationsdaten auf Vorrat, das geht mir definitiv zu weit. Wie gesagt, mit einem zusätzlichen Sicherheitsgewinn lässt sich vieles argumentieren, aber die Frage ist: Ist es verhältnismäßig? Würden Sie, weil es einen Sicherheitsgewinn für die Gesellschaft darstellt, freiwillig alle eine elektronische Fußfessel rund um die Uhr mit sich herumtragen? Ich glaube, nicht. Wir müssen ein gesundes Maß einhalten und hier vernünftig, mit gesundem Menschenverstand agieren und reagieren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat festgestellt – Herr Ritter hat es schon vorgetragen –, dass die Vorratsdatenspeicherung auf die Aufklärungsquoten in den EU-Mitgliedsstaaten praktisch keine Auswirkungen hat. Nach einem Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das sich auf die Zahlen des Bundeskriminalamtes beruft, steigt die Aufklärungsquote mit der Vorratsdatenspeicherung um marginale 0,006 Prozent. Das sind die Erfahrungen aus dem eigenen Land.

Geht man von der Studie „Schutzlücken durch Wegfall der Vorratsdatenspeicherung? Eine Untersuchung zu Problemen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung bei Fehlen gespeicherter Telekommunikationsverkehrsdaten“ des Max-Planck-Instituts aus, so zeigt die Untersuchung der deliktspezifischen Aufklärungsquoten für den Zeitraum 1987 bis 2010, dass sich der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung damals in Deutschland nicht als Ursache für Bewegungen in der Aufklärungsquote abbilden lässt. Obwohl also keine gesicherten empirischen Erkenntnisse darüber vorliegen, ob mit der flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung das Ziel der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung überhaupt erreicht werden kann, soll in das Telekommunikationsgeheimnis von 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern eingegriffen und eine die Demokratie ausmachende freie und offene Kommunikation gefährdet werden.

Wir fordern die Landesregierung daher auf, sich dafür einzusetzen, dass dieser Gesetzentwurf gestoppt wird. Legen Sie zum Beispiel im Bundesrat Ihr Veto ein und sagen Sie: Das geht nicht einfach nur durch den Bundestag, sondern das betrifft auch die Sicherheitsbehörden vor Ort, gerade wenn es um Gefahrenabwehr geht! Und das soll ja wahrscheinlich die nächste Ausbaustufe sein. Ziehen Sie sich das in den Bundesrat, stoppen Sie es dort!

Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, fordert übrigens auch eine ganze Reihe Ihrer Parteifreunde. Ich will jetzt nicht zu sehr drauf rumreiten. Ich kenne Ihre missliche Situation, wünsche Ihnen aber mehr Kraft, Ihre Position auch durchzusetzen.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Die haben wir, Herr Saalfeld. Da brauchen wir Ihre Wünsche nicht.)

Ihrem Aufruf „Keine Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und Europa“ haben sich mehr als 100 Landes- und Bezirksverbände der SPD angeschlossen, unter anderem

der Ortsverein Schwerin-Südstadt. Ich hege daher die Hoffnung, dass Sie unseren Antrag annehmen und im Bundesrat das Gewicht von Mecklenburg-Vorpommern in die Waagschale werfen. Das ist nämlich nicht ganz klein, wir haben immerhin drei Stimmen. Nordrhein-Westfalen hat, glaube ich, nur fünf oder sieben Stimmen. Wir haben da eigentlich verhältnismäßig ein ganz gutes Gewicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. Und ich bitte Sie, wehret den Anfängen, denn wir wissen nicht, wohin sich diese Technologie entwickeln wird. Dass sich diese Überwachungstechnologie zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger entwickelt, das haben wir schon an diversen Beispielen – ich wiederhole noch mal: Mautbrücken, Kontodatenabfrage – nachgewiesen, das haben wir schon erlebt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Aussprache. – Vielen Dank.

(Beifall vonseiten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marc Reinhardt, CDU: Bitte.)

Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine verbundene Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Ums Wort gebeten hat zunächst der Minister für Inneres und Sport Herr Caffier.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete!

Kollege Saalfeld, ich hoffe jedenfalls, dass die Frage der inneren Sicherheit nie – weil Sie hier über Hände sprachen – irgendwie in die Verantwortung der GRÜNEN fällt, weil ich glaube, dann wäre in Deutschland die Sicherheit in der Tat gefährdet und die Polizistinnen und Polizisten wären zu bedauern.

(Marc Reinhardt, CDU: Dann wären sie verraten und verkauft.)

Denn wenn man Ihre Anforderungen sieht und wenn Sie hier Angst mit der elektronischen Fußfessel machen – Sie legen sich die ja selber an. Wovor machen Sie denn Angst? Wenn ich Ihren Twitter-Account aufmache, kann ich fortwährend sehen, wo Sie sich gerade bewegen, was Sie gerade machen und tun.

(Zurufe von Ulrike Berger, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, und Johannes Saalfeld, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen sich selbst mal fragen!

Wissen Sie, Sie malen hier immer den Teufel an die Wand. Ich kenne einen Bundestagsabgeordneten Ihrer Fraktion, der vehement gegen jegliche Überwachung ist, auch Videoüberwachung. Als ihm das Fahrrad vor dem Bundestag geklaut wurde, ist er als Erstes in die Videoüberwachungszentrale gegangen und wollte das Band haben, wer denn möglicherweise sein Fahrrad gestohlen hat.

Wo leben wir denn? Wir müssen uns doch einmal entscheiden, was wir wollen, nicht immer das eine fordern und dann das andere nutzen.

(Beifall Michael Silkeit, CDU)

Das ist doch wohl unerhört, was Sie hier vortragen! Und das gehört dann eben einfach auch zu der Gesamtfrage. Ich werde im Rahmen der Ausführungen selbstverständlich auch auf die Vorratsdatenspeicherung kommen und auf die Verhinderung von Straftaten an ganz speziellen Beispielen. Ich werde Sie fragen, ob Sie bereit sind, zu den betreffenden Eltern zu gehen und zu sagen: Es tut mir leid, dass Ihr Kind missbraucht wird. Ich wüsste an und für sich, wer das ist, aber ich kann das leider nicht ermitteln, weil wir auf die Vorratsdaten nicht zurückgreifen dürfen. Das ist eine Frage, die müssen Sie dann ganz konkret beantworten können.

(Udo Pastörs, NPD: Vielleicht ist das der Hintergrund.)

Die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung waren in ihrer Ausgestaltung bisher nicht rechtskonform. Das haben das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof 2014 beziehungsweise 2010 in der Tat festgestellt. Beide Gerichte haben aber immer betont, die gesetzliche Festlegung von Mindestspeicherfristen ist nicht grundsätzlich verfassungs- beziehungsweise europarechtswidrig. Trotzdem laufen Sie beziehungsweise die Kollegen von den LINKEN nun mit diesen Urteilen los und wollen die Vorratsdatenspeicherung in jeglicher Form für immer verbannen, auch in Mecklenburg-Vorpommern. Im Gleichschritt wurden zwei Anträge gestellt, die Landesregierung soll alles in ihrer Macht Stehende tun, um die neue Initiative, die neue Gesetzgebung der Bundesregierung zu verhindern. Ein kleiner Tipp: Ein gemeinsamer Antrag hätte möglicherweise eine erhöhte Wirkung. Aber das müssen Sie ja nun entscheiden.

Dann muss ich zu Ihrem Bedauern mitteilen, das haben Sie ja wahrscheinlich mitbekommen, …

(Heiterkeit bei Peter Ritter, DIE LINKE: So müssen sie zweimal ablehnen.)

Ja.

(Heiterkeit bei Johannes Saalfeld, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

… das haben Sie ja wahrscheinlich mitbekommen: Wir werden das Gesetz der Bundesregierung zur Wiedereinführung der Speicherfristen allein schon deswegen nicht verhindern, weil wir gar nicht zuständig sind. Der Bundesrat muss dem Gesetz nicht zustimmen und in dem Fall wird es auch gar nicht in den Bundesrat gehen.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den LINKEN und GRÜNEN, Sie wissen ja, wenn wir mit zuständig wären, würden wir dem Gesetzentwurf ja wohl zustimmen, zumindest was den Bereich der Verbrechensbekämpfung betrifft,

(Peter Ritter, DIE LINKE: So?)

denn wir brauchen eine gewisse Sicherheit bei der Frage der Vorratsdatenspeicherung.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Ist das die Koalitionsmeinung oder wäre auch eine Enthaltung möglich?)