Herr Innenminister, gestatten Sie mir eine Zwischenfrage: „Mein Ziel ist es, 115 Meldebehörden mit einem Dokumentenprüfsystem auszustatten.“
Das ist der Unterschied. Es ist nicht ein Ziel, sondern bei mir habe ich es ausgelöst, und das ist der kleine Unterschied zwischen uns beiden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 7/3591. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. – Vielen Dank. Die Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Damit ist der Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 7/3591 durch die Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU, Freie Wähler/BMV und DIE LINKE abgelehnt, bei Zustimmung der Fraktion der AfD.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 40: Beratung des Antrages der Fraktion DIE LINKE: Existenzminimum sichern – Hartz IV überwinden, Drucksache 7/3595.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Manch einer mag sich ob der erneuten Befassung des Landtages mit dem Thema Hartz IV verwundert die Augen gerieben haben.
Im März sprachen wir zuletzt darüber. Aufhänger war seinerzeit das Sozialstaatspapier der Sozialdemokratie. Interessant waren die Reaktionen darauf. „Reichlich dünner Antrag“ und „durchschaubare Attacke in Richtung SPD“ sind mir als O-Töne noch erinnerlich. Aber was mich persönlich gewurmt hat, war, dass mancher den Eindruck erweckt hat, als gingen uns die mit Hartz IV verbundenen Probleme hierzulande gar nichts an, beziehungsweise, falls doch, dann könne man als Landesregierung ja eh nichts tun.
So geht es natürlich nicht und deshalb ist der Aufhänger für die erneute Befassung des Parlaments heute weder der jüngste Beschluss des SPD-Landesparteitages zur Abschaffung aller Sanktionen noch der zu Ende gehende Kommunalwahlkampf.
dass eine Überwindung von Hartz IV, wenigstens jedoch eine Reform, die diesen Namen auch verdient, vielen Menschen in unserem Bundesland helfen würde.
Und der Antrag zielt stärker auf die landespolitischen Stellschrauben ab als der in der vorletzten Landtagssitzung.
Meine Damen und Herren, im März 2003 soll der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einem Messerundgang gefragt worden sein, wann es denn nun mit Deutschland wieder bergauf gehe. Seine selbstgefällige Antwort soll gelautet haben: ab Freitag.
An jenem Freitag, dem 14. März 2003, stellte er dann dem Deutschen Bundestag seine Agenda 2010 vor, mit der er den Arbeitsmarkt umkrempeln und das Prinzip von „Fordern und Fördern“ etablieren wollte. Und seitdem wird von vielen auch hier im Haus das Hohelied auf den Wandel Deutschlands vom kranken Mann Europas zum Wirtschaftswunderland gesungen. Die Schattenseiten jedoch werden allzu oft ausgeblendet, sowohl mit Blick auf die Betroffenen als auch mit Blick auf die mit Hartz verbundene horrende Bürokratie. Schon das ist Grund genug, sich dem Thema immer wieder zuzuwenden.
Zunächst sei gesagt, dass im April 2019 in M-V 99.865 Frauen und Männer sowie 32.714 Kinder auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren. Das ist immerhin jeder zwölfte Einwohner unseres Bundeslandes. Die SVZ hat am vergangenen Wochenende mit der Schlagzeile „Bei Hartz IV jede dritte Klage erfolgreich“ aufgemacht. Von 960 Klagen, über die durch die Sozialgerichte des Landes seit Jahresbeginn zu entscheiden war, endeten 380, also fast 40 Prozent, vollständig zugunsten des Klägers. Selbst Thomas Letixerant, Mitglied der Geschäftsführung der Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit, räumte ein, dass dies juristisch sehr komplexen Fällen geschuldet sei und sich Fehler daher nicht restlos ausschließen ließen.
Ähnlich hoch ist übrigens die Quote der Widersprüche. Von 4.580 Widersprüchen, die im ersten Quartal dieses
Jahres in den Jobcentern unseres Landes eingingen, waren 1.380 teilweise oder ganz erfolgreich. Das sind um die 30 Prozent. Und dass so viele Widersprüche und Klagen erfolgreich sind, ist aus meiner Sicht auf zwei Dinge zurückzuführen:
Erstens sind die Antragsformulare für die Betroffenen unübersichtlich, und selbst wenn alles korrekt ausgefüllt und eingereicht wurde, erfolgt oft dennoch eine Ablehnung. Dann wird Widerspruch eingelegt und die Mühle beginnt zu mahlen. Juristen im Jobcenter prüfen die Widersprüche. Werden diese abgewiesen, dann bleibt den Betroffenen nur noch der Weg zu Gericht. Die schiere Masse der Klagen sorgt dann für unfassbar lange Verfahrenslaufzeiten. Seit 2008 haben sie sich, wie meine geschätzte Kollegin Jacqueline Bernhardt jüngst herausfand, auf fast zwei Jahre bei den Sozialgerichten und sogar zweieinhalb Jahre beim Landessozialgericht erhöht. Das sind Zuwächse von 38 beziehungsweise 66 Prozent. Hier kann und hier muss die Landesregierung durch weitere Personalaufstockung gegensteuern, wenn die Aktenberge einmal kleiner werden sollen.
Zweitens ist das SGB II bis heute voller Lücken. Es gehört wohl zu den Gesetzen in Deutschland, die am häufigsten angefasst und geändert wurden. Immer wieder wurden Rechtsvereinfachungen versprochen, umgesetzt jedoch wurde wenig. Die Folge ist, dass die Fehleranfälligkeit unverändert hoch liegt, am häufigsten geht es bei Widersprüchen und Klagen um die falsche Anrechnung von Einkommen oder Vermögen, die Aufhebung von Bescheiden oder Rückforderungen sowie die Kosten der Unterkunft. Und hier sagen wir, es gilt nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern einen neuen Dialogprozess zwischen Bund, Ländern und natürlich der Arbeitsverwaltung auf den Weg zu bringen, denn Beteuerungen aus der BA, dass die den Widersprüchen und Klagen zugrunde liegenden Fehler bedauerlich seien und nichts mit Härte gegen Hartz-IV-Empfänger zu tun hätten, helfen den Betroffenen nun wirklich nicht weiter.
Wenn wir über die Folgen von Hartz IV für die Betroffenen reden, sind wir schnell bei den Sanktionen. Der Erwerbslosenverein Tacheles e. V. hat zur Vorbereitung der Anhörung beim Bundesverfassungsgericht eine Onlinebefragung durchgeführt. Neben Leistungsbeziehern haben Anwälte, Sozialarbeiter und auch Jobcentermitarbeiter daran teilgenommen, insgesamt mehr als 21.000 Personen. 86,9 Prozent aller Befragten hielten Sanktionen für nicht geeignet, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu befördern. 80 Prozent waren der Auffassung, sie seien ein Instrument, um Menschen in prekäre Beschäftigung zu drängen. Für 70 Prozent sind die Sanktionen Ausgangspunkt von Verschuldungen. 69,6 Prozent hatten Kenntnis von Stromsperren und 64,9 Prozent bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, was Menschen aufgrund von Hartz IV erleiden müssen, und Harald Thomé, Hartz-IV-Experte von Tacheles e. V., spricht in diesem Zusammenhang von Menschenrechtsverletzungen.
Als LINKE haben wir uns von Anfang an gegen Hartz IV ausgesprochen, es als „Armut per Gesetz“ kritisiert. Wir haben hier im Landtag viele Anträge gestellt, in denen wir unsere Kritik untermauert haben. So hat meine Fraktion auch schon zweimal die Überprüfung der Regelsätze durch die Landesregierung gefordert. Beide Anträge wurden abgelehnt. Darauf wird meine Kollegin Bernhardt
in der Debatte später noch eingehen. Ich will an der Stelle nur darauf hinweisen, dass 42 Prozent der Hartz-IVEmpfänger in unserem Land vier Jahre und länger auf die Leistungen angewiesen sind. Der Sprung zurück auf den Arbeitsmarkt gelingt ihnen eben nicht zeitnah. Und deshalb sollte man sich das auch noch einmal genauer anschauen, am besten unter Beteiligung von Erwerbslosenbeirat, Landesarmutskonferenz und Beschäftigungsgesellschaften.
Und auch das ist nicht neu: DIE LINKE ist nicht die einzige gesellschaftliche Kraft, die die Regelsätze und ihr Zustandekommen seit Jahren kritisieren. So sprach der Paritätische Wohlfahrtsverband mit Blick auf die Ermittlung der Regelsätze von einem Skandal und forderte die Anhebung von 416 auf 571 Euro für Alleinstehende. Dessen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider verwies darauf, dass bestimmte Ausgaben, die für Berufstätige selbstverständlich seien, willkürlich gestrichen würden, und erinnerte daran, dass der Bedarf heute anhand der Ausgaben der unteren 15 Prozent der Einkommensbezieher ermittelt wird und eben nicht mehr wie vorher anhand der untersten 20 Prozent.
Und da will ich mal sagen, bezüglich der Ermittlung der Regelsätze und ihrer Angemessenheit kann und soll die Landesregierung also selbst tätig werden, und zwar nicht abstrakt über eine Initiative im Bundesrat, wo sie dann ja auch noch Unterstützer suchen muss aus anderen Bundesländern, sondern konkret durch ein Normenkontrollverfahren. Es gibt 132.579 Gründe dafür, das zu tun, nämlich die Menschen, die in unserem Land von Hartz IV leben müssen oder deren Sozialleistungen davon abgeleitet werden. Ich bin der Meinung, eine sich ernsthaft auf ihre Wurzeln besinnende SPD kann eigentlich keinen sachlichen Grund geltend machen, um ein solches Anliegen abzulehnen.
Und an die CDU gerichtet, Herr Ehlers, möchte ich vor allem mit Blick auf Ihre unsägliche Äußerung von gestern, dass Hartz IV ein Anreizsystem zur Arbeitsaufnahme sei, einmal Ihren ehemaligen und 2017 leider verstorbenen Generalsekretär Heiner Geißler zitieren. Der sagte einmal Folgendes: „Wenn ein 50-Jähriger oder eine 53-Jährige arbeitslos wird, dann landen sie, auch wenn sie ihr Leben lang Steuern gezahlt und Kinder großgezogen haben, spätestens nach einem Jahr bei Hartz IV … und müssen fast alles versilbern, was sie für sich und ihre Familie erarbeitet haben. Die werden behandelt wie ein 22-jähriger Alkoholiker, der noch nie einen Hammer in der Hand gehabt hat. Sie werden einer Lebenssituation ausgesetzt, die einfach unserer Gesellschaft, unserer Verfassung … unwürdig sind.“
Das trifft den Nagel auf den Kopf. Ich hoffe, es gibt sie noch, die CDU-Mitglieder, die sich eher in dieser Tradition sehen. Wir jedenfalls werden nicht müde werden, die Abschaffung und Überwindung von Hartz IV einzufordern, auch wenn es zuweilen ein Kampf gegen Windmühlen zu sein scheint. Es ist ein Gesetz, das die Gesellschaft spaltet, und deshalb will ich heute mit Brecht enden und sagen: „Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!“ – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag macht die Fraktion DIE LINKE erneut einen Rundumschlag im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder, wie es im Titel des Antrags heißt, „Hartz IV überwinden“. Was kommt nach Hartz IV? Man kann doch nicht behaupten, dass Hartz IV nicht eine Sozialleistung ist, die alle Steuerzahler der Bundesrepublik Deutschland sicherstellen. Das ist sozusagen die Grundsicherung im sozialen Netz. Ich wüsste nicht, dass das nicht ein Erfolg ist, Herr Foerster, dass jeder, der unverschuldet in Hartz IV gerutscht ist, aufgefangen wird.
Was Sie überwinden wollen, ist ja immer gut, aber Sie müssen dann auch sagen, was Sie insgesamt machen wollen, und Sie müssen dann auch die Finanzmittel bereitstellen und sagen, wo die neuen Finanzmittel herkommen, um soziale Grundrechte zu sichern. Wir sind ein Sozialstaat, und das zeichnet die Bundesrepublik Deutschland aus.
(Henning Foerster, DIE LINKE: Ich habe über konkrete Probleme gesprochen und gesagt, was wir dagegen tun können.)
Ja, ich kann Ihnen nur sagen, wir müssen auch grundsätzlich über die Frage nachdenken, wie soll sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihren sozialen Netzen einerseits entwickeln, und da sage ich Ihnen, die erste Aufgabe ist, auf dem ersten Arbeitsmarkt dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist die beste Sozialmaßnahme, die es überhaupt gibt.