Protokoll der Sitzung vom 12.03.2020

Und seit dem 31. Januar 2020 sind fünf Wochen vergangen – fünf Wochen ohne Handeln. Fünf Wochen hätten wir längst einen rechtlichen Rahmen schaffen können für die Aufnahme von Flüchtlingen. 5.000 Kinder, 1.700 Waisenkinder beziehungsweise unbegleitete minderjährige Ausländer/-innen, 16 Bundesländer – das sind 107 Waisenkinder pro Bundesland, 107 Waisenkinder über den EU-Verteilerschlüssel für M-V. Ich glaube, wir schaffen das. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und DIE LINKE)

Zwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 58 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen und ich eröffne die Aussprache.

Für die Landesregierung hat jetzt das Wort der Minister für Inneres und Europa. Bitte schön, Herr Caffier.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Die Situation an der griechisch-türkischen Grenze ist besorgniserregend – ohne Zweifel. Die Koalition in Berlin hat sich jetzt darauf verständigt, 1.000 bis 1.500 Flüchtlingskinder aus den griechischen Einrichtungen aufzunehmen. Es ist bedauerlich, dass bis zum heutigen Tag noch keine europäische Lösung gefunden wurde. Sie wissen, dass ich stets für diesen Weg plädiert habe und auch in Zukunft weiter für diesen Weg plädieren werde. Ich sage aber ganz deutlich, auch die Vereinbarungen der Großen Koalition in Berlin tragen wir ausdrücklich mit, das haben wir sehr intensiv auch mit der Ministerpräsidentin besprochen.

Die Herausforderung jetzt wird natürlich in der Umsetzung sein, die besonders schutzbedürftigen Kinder herauszusuchen. Der Bund ist hier an einer schnellen Absprache mit Griechenland interessiert. Das wird morgen im Rahmen des Rates für Justiz und Inneres diskutiert, und das ist auch die richtige Stelle. Zugleich gilt es, Griechenland zu unterstützen und die Situation vor Ort für die dort auffälligen Asylbegehrenden zu verbessern. Hier engagiert sich Deutschland bereits mit vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen, unter anderem mit Hilfe für die Infrastruktur und für die Verwaltungen. Wir werden unsere Partner in Athen nicht alleinlassen.

Für die kommenden Monate wird darüber hinaus entscheidend sein, wie sich die Mitgliedsstaaten auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem einigen können. Dies wird ein Schwerpunkt der ab Juli beginnenden deutschen Ratspräsidentschaft sein. Wichtig ist deshalb, dass Deutschland mit einer Stimme spricht. Alleingänge einzelner Länder helfen hier nicht und sind auch nicht im Zuständigkeitsbereich, denn der Zuständigkeitsbereich für die Verhandlungen der jeweiligen Quoten ist ausschließlich beim Bund. Alles andere – liebe Kollegin Larisch, das wissen Sie genau –, das schadet zum einen der Verhandlungsoption in Europa und gegenüber der Türkei ungemein.

Sobald ein Land oder mehrere Bundesländer aus der Reihe tanzen, wird eine Einigung in Brüssel und mit Erdoğan noch schwieriger, und genau dies geht dann zulasten der Menschen vor Ort an der griechischtürkischen Grenze. Gut gemeint ist eben noch lange nicht gut gemacht. Wir brauchen eine europäische Lösung und volle Unterstützung für die Bundesregierung. Allein schon deshalb ist der Antrag in der Form nicht zustimmungsfähig. Und ja, die Ministerpräsidenten – aber auch ich – haben gesagt, wir sind gerne bereit, zusätzliche Kinder aufzunehmen, aber nur, wenn es im Rahmen eines europäischen Kontextes erfolgt und der Bund vereinbart, zusätzlich Kinder aufzunehmen dann entsprechend der Vereinbarung, aber eben erst als Grundlage der Bundesabsprachen.

Bei nahezu jeder Flüchtlingsdebatte haben wir alle zusammen auch über die Fluchtursachen gesprochen. Dieser Punkt wird mir allerdings bei diesem Antrag ausgespart. Sicher, Erdoğan spielt falsch, sein Vorgehen ist menschenverachtend und unverantwortlich. Es ist schon einigermaßen dreist, die EU mit Drohungen und falschen Informationen erpressen zu wollen. Das dürfen wir Europäer uns nicht bieten lassen. Ich unterstütze daher die konsequente Haltung Griechenlands und der Europäischen Union beim Grenzschutz. Auch wir als Bundesland Mecklenburg-Vorpommern werden prüfen, ob wir noch zusätzliche Unterstützung vor Ort im Rahmen der Grenzsicherung geben werden.

Auf der anderen Seite muss man aber auch anerkennen, dass die Türkei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Das ist eine enorm logistische und vor allem auch politische Herausforderung für unsere NATO-Partner. Wir haben die moralische Pflicht, die Türkei dabei zu unterstützen, und machen dies auch mit dem sogenannten Türkei-Deal in Milliardenhöhe. Nun haben wir aber das Problem, dass der Flüchtlingszuzug in die Türkei trotz des erfolgreichen Kampfes gegen den IS nicht abreißt. Und dieses Problem, dass er nicht abreißt – das muss an dieser Stelle auch deutlich gesagt werden – geht einzig und allein auf das Verhalten von Herrn Assad und die Unterstützung von Herrn Putin im Zusammenhang der Dauerbombardements der Stadt Idlib zurück. Und hier müssen wir auch eingreifen.

Nach der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim und der kriegerischen Aggression in der Ostukraine hieß es immer wieder, dass wir den Dialog mit Russland weiterführen müssen. Den Weg unterstütze ich ausdrücklich, es gibt keine Alternative, doch dieser Dialog darf nicht dazu führen, dass wir vor dem Grauen in Idlib die Augen verschließen. Die russischen und die syrischen Streitkräfte sind dabei, die Stadt eben im Dauerbombardement zu bekämpfen.

(Zuruf von Jens-Holger Schneider, AfD)

Bomben auf Krankenhäuser, Bomben auf Schulen, Bomben auf Marktplatz – das ist eine unbeschreibliche, unhumanitäre Katastrophe, und sie wird eben weiter dazu führen, dass wir einen Flüchtlingszuzug in den türkischen Raum und dann in der Folge wieder einen Flüchtlingszuzug im Raum Griechenland mit den unsagbar schrecklichen Verhältnissen in den Lagern haben. Es wird unsere Aufgabe sein, möglichst zügig als Bund eine Lösung zu finden, dass wir Länder dann auch dementsprechende Aufnahmen von Kindern durchführen können.

In einem gebe ich Ihnen recht: 1.000 bis 1.500 Kinder sind, wer die Situation vor Ort kennt, und ich kenne sie einigermaßen, nicht nur der Tropfen auf den heißen Stein, das ist gar nichts. Alleine das Wer-darf-und-werdarf-nicht wird schon für diejenigen, die die Maßnahme durchführen, eine riesige Herausforderung. Und deswegen sind wir als Europäer gut beraten, hier dementsprechend auch eine Lösung zu finden, die dann langfristig trägt und die nicht andersherum ein Einstiegstor für die Schlepper ist, die dementsprechend sozusagen ein Geschäft machen, weil wir wieder die dementsprechenden Regelungen umgehen. Es muss eine einheitliche europäische Lösung geben. – Vielen Dank!

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weber?

Gerne.

Liebe Landsleute! Wertes Präsidium!

Sehr geehrter Herr Minister, ich gebe Ihnen in fast allem, was Sie gesagt haben, recht, ich würde nur gerne die Beantwortung auf die Frage haben, warum Sie das völkerrechtswidrige Eingreifen der Türkei in Syrien, um dort kurdische Milizen zu bekämpfen, nicht auch als Ursache erwähnt haben.

Dann haben Sie mich missverstanden oder Sie haben nicht genau zugehört. Ich habe eingangs gesagt, dass zunächst das Verhalten der türkischen Regierung oder der Türkei im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen an der Grenze nicht den entsprechenden Normen Rechnung trägt.

(Zurufe von Horst Förster, AfD und Jens-Holger Schneider, AfD)

Das ist vollkommen unstrittig, aber der Ausgangspunkt ist nach wie vor, ist nach wie vor, dass die Türkei zum heutigen Zeitpunkt schon über zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat und das Bombardement auf die letzte Hochburg in Syrien eben dazu führt, dass der Flüchtlingszuzug in der Türkei immer weiter zunimmt und dementsprechend eben auch wir am Ende der Kette mit der Frage der Kinder in den Flüchtlingslagern betroffen sind.

Die Rechtmäßigkeit oder die Zulässigkeit des türkischen Vorgehens wird von mir in keiner Form gutgeheißen, falls das die Frage war, dies sicherlich mit vielen anderen Dingen gleichzusetzen, über die ich hier auch auszuführen habe, was die Widersprüche in dieser gesamten politischen Situation betrifft.

Danke schön, Herr Minister!

Für die Fraktion der AfD hat jetzt das Wort der Abgeordnete Förster.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein sehr emotionales Thema – keine Frage, aber Politik muss mit Vernunft geschehen. Der Beschluss der Bundesregierung beruht nicht auf politischer Vernunft, sondern zeigt die Konzeptionslosigkeit der Migrationspolitik der Bundesregierung.

Zunächst muss einiges klargestellt werden, auch von den Begrifflichkeiten: Geht es nun um Kinder? Geht es um unbegleitete Minderjährige? Geht es, wie gesagt, um Kinder bis 14 Jahren oder geht es wie nach der EUKinderrechtskonvention bis zu 18 Jahren?

(Martina Tegtmeier, SPD: Es geht um Menschenleben.)

Die Zahlen sind eher irreführend. Die Kinder oder die diejenigen, die jetzt auf den griechischen Inseln sind – auch das muss man aktuell sagen –, kommen nicht direkt aus einem Bürgerkriegsgebiet, auch nicht aus brennenden Häusern, sie kommen aus einem zunächst sicheren Zwischenland, der Türkei, und sind von dort mit Schleusern auf die Inseln gekommen. Das ist die nackte Tatsache. Sie sind aus einem sicheren Zwischenaufenthalt in der Türkei, aus einem Nachbarland der Herkunftsländer per Schleusung auf die Insel gekommen.

(Karen Larisch, DIE LINKE: Kinder! Es geht hier um Kinder!)

DIE LINKE vertritt – das sage ich immer wieder – eine ganz grundsätzliche Position, die so aussieht, so wertet sie ja die Menschenrechte, wir sind alle gleich, es können alle kommen, wir lassen die Tore offen, und das heißt im Klartext, dass es keine Grenze nach oben gibt.

(Martina Tegtmeier, SPD: Erzählen Sie doch nicht so einen Blödsinn!)

Das ist konsequent, ist aber kompletter Irrsinn.

(Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE: Ach, hören Sie doch auf, hier solchen Schrott zu erzählen!)

Das wird Ihnen auch Frau Wagenknecht von der LINKEN erklären können.

(Beifall vonseiten der Fraktion der AfD – Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE: Das ist unglaublich.)

Ich muss auch eins ganz klar sagen, weil es immer um die Begrifflichkeiten geht: Wir sind ja – so meinen die meisten – ein Einwanderungsland. Auch das ist komplett falsch, eine Irreführung. Typisch für ein Einwanderungsland ist, dass das Einwanderungsland bestimmt, wer kommt. Diese Einwanderungsländer wie Kanada und ähnliche,

(Karen Larisch, DIE LINKE: Flucht ist keine Einwanderung. Das ist etwas völlig anderes, auch per Gesetz.)

die bestimmen, wer kommt, und bestimmen das ausschließlich nach ihrer eigenen Nützlichkeit. Einwanderungsland wird man nicht durch illegale Massenmigration, ganz klipp und klar – nur zur Begrifflichkeit, denn mit dem Begriff des Einwanderungslandes soll ja auch sogar bei der Bevölkerung die Vorstellung erweckt werden, dass es völlig normal sei, dass aus aller Welt die Leute zu uns kommen.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Alle kommen gar nicht. Zwei Drittel von allen wandern in Afrika.)

So, da müssen wir Folgendes sehen: Wir haben einen ungeheuren Migrationsdruck,

(Dr. Ralph Weber, AfD: Sie haben doch noch Redezeit. Gehen Sie doch nach vorne! – Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

das weiß jeder, und wenn wir über Ursachenbekämpfung reden, dann ist es gut gemeint, wenn man es realistisch sieht,

(Unruhe bei Dr. Ralph Weber, AfD, und Peter Ritter, DIE LINKE)

ist es völlig ein Irrglaube zu meinen, wir könnten die Ursachen nachhaltig verändern.

Eine der Hauptursachen in Afrika ist eine ungeheure Bevölkerungsexplosion, die tabuisiert wird, nicht angesprochen wird. Und wenn Herr Caffier davon spricht, EUBeteiligung oder EU-Lösung, dann weiß er ganz genau, dass die nicht zustande kommt. Und das ist ja ein Zeichen der konzeptionslosen Migrationspolitik, denn unsere Politik bestand darin, dass wir die Grenzen offengelassen haben, 2015 eine große Migrationswelle hatten. Wir hatten eine Willkommenskultur – alles von mir aus in Ordnung –, nur das ist natürlich keine Politik. Seitdem hat sich im Prinzip nichts geändert, aber plötzlich ist das das neue Mantra, 2015 darf sich nicht wiederholen.

Liebe Kollegen von der Koalition, vor allem von der CDU, erklären Sie mir bitte, wenn 2015 in Ordnung war zunächst trotz Verfassungsbruch 16a und allem Drum und Dran, über Jahre bis heute vertreten wird, dass es völlig in Ordnung war und das auch nicht zu verhindern war und das war wunderbar und überhaupt und wir behalten auch alle hier – denn eine Regel gilt jenseits des Rechts, faktisch wer kommt, der bleibt, das ist die Realität –, und jetzt plötzlich, nach dem andere, nämlich nicht wir unsere Grenzen, sondern Orbán und die Balkanroute und der Türke aufgrund Abhängigkeit von ihm, die Mittelmeerroute dichtgemacht haben, also Fremde, die wir zuvor beschimpft haben, seitdem heißt es, 2015 darf sich nicht wiederholen. Und 2015 wiederholt sich bisher nicht, das heißt auf geringerem Niveau wiederholt es sich schon, es darf sich nicht wiederholen, so die allgemeine Meinung, weil wir irgendwie damit überfordert sind. Das sehen wir völlig ein, aber nichts hat sich ansonsten geändert. Wir haben profitiert von den – in Anführungsstrichen – Untaten des Orbán und des Erdoğan.

Jetzt hat sich die Situation gravierend geändert dadurch, dass Erdoğan die Grenzen geöffnet hat und Griechenland es ernst nimmt mit der Sicherung der Außengrenze. Das geht natürlich nicht nur mit Parolen. Das ist ein emotional hartes und sicherlich nicht sehr schönes Geschäft, diese Grenze gegen Flüchtlinge dort annähernd zu sichern. Es geschieht, und – man höre und staune – die Bundesregierung, ganz Europa sagt, das ist alles völlig in Ordnung und gut, das ist so prima. Und Frau Larisch hat völlig recht, natürlich wird die Genfer Flüchtlingskonvention Tag für Tag gebrochen, aber sie sagen es nicht, und das ist die Unredlichkeit. Sie sagen es nicht. Sie sagen, Griechenland muss die Grenzen dichthalten, und Kurz sagt – der Kanzler von Österreich – völlig zu Recht, wenn die Sicherung der Außengrenze dort nicht funktioniert, dann können wir uns verabschieden von freien Grenzen, von freien Binnengrenzen in Europa. Genau das ist die Realität, aber diese ganze unehrliche Politik machen Sie mit. Nochmals: Tagtäglich wird das, was vorher als Heiligtum wie eine Monstranz vor uns hergetragen wurde, jeder darf kommen und jeder kann seine Anträge stellen,

auch wenn man bei 99 Prozent von vornherein weiß, die sind nicht begründet, davon haben Sie sich längst verabschiedet.

(Karen Larisch, DIE LINKE: Ja, Antragstellung gehört zur Genfer Konvention. Das ist ein Recht der Genfer Konvention, die Antragstellung.)

So, und jetzt konkret zu den Kindern, jetzt konkret zu den Kindern: Nach den Zahlen UN-Flüchtlingskommissariat hielten sich Ende November 2019 5.276 unbegleitete Minderjährige in griechischen Aufnahmelagern auf. Allerdings waren nur neun Prozent der Minderjährigen unter 14 Jahre alt und damit Kinder. Das gilt es, als Erstes klarzustellen.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Der große Klarsteller.)