Protokoll der Sitzung vom 26.01.2000

Wir wollen, dass das Konzept der sonderpädagogischen Grundversorgung auch in der Sekundarstufe I fortgesetzt wird. Wir fordern nicht etwa, wie uns die SPD-Fraktion unterstellt hat, dass dort Grundschulpädagogik fortgesetzt werden soll. Verhaltensstörungen z. B. sind nicht an das Alter von Kindern gebunden. Diese Kinder können sie sehr wohl noch in der Orientierungsstufe oder in der 7. oder 8. Klasse entwickeln. Wir möchten, dass auch für diese Fälle Vorsorge getroffen wird. Insbesondere möchten wir, dass die Lehramtsausbildung, und zwar in jedem Bereich, so geändert wird, dass Sonderpädagogik obligatorischer Bestandteil jeglicher Ausbildung ist. Wir sind nämlich der Meinung, dass eine Grundschullehrerin, die etwas von Sonderpädagogik versteht, etwas davon gelernt hat, auf lange Sicht tatsächlich in der Lage sein wird, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sehr viele Sonderpädagogik-Stunden, die man in den Klassen sonst zusätzlich bräuchte, überflüssig werden. All diesen Forderungen wird die Landesregierung nicht gerecht.

Meine Fraktion ist nach wie vor der Meinung, dass der Behindertenbeauftragte mit seiner massiven Kritik an eurer Arbeit im Integrationsbereich völlig Recht hat, und wir werden den Behindertenbeauftragten an dieser Stelle auch weiterhin unterstützen,

(Beifall bei den GRÜNEN)

obwohl ich sagen muss, Kollege Klare, dass es auch mir langsam reicht, weil ich hier seit nahezu sieben Jahren das Gleiche zu diesem Thema sage und immer wieder feststellen muss, dass die Landesregierung ihre hehren Worte nicht ernst meint.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zu der vorliegenden Beschlussempfehlung möchte sich jetzt Frau Kultusministerin Jürgens-Pieper äußern. Bitte sehr!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Litfin hat eben den Behindertenbeauftragten zitiert. Ich kann ihn auch für mich in Anspruch nehmen.

(Frau Pothmer [GRÜNE]: Ich glaube, das möchte er nicht!)

- Durchaus. Er ist an dieser Stelle vielseitig einsetzbar. - Er hat zumindest deutlich gesagt, dass das Konzept „Lernen unter einem Dach“ regional ein durchaus wichtiger Schritt ist. Dass man sich als Behindertenbeauftragter mehr wünschen muss, ist auch klar, und Sie formulieren das hier auch.

Die Landesregierung und wohl auch die SPDFraktion wollen auch mehr Integration, da wir wissen, dass in dieser Gesellschaft zu viele Spaltungstendenzen vorhanden sind. Wir wissen, dass der Umbau in Richtung mehr gemeinsamem Unterrichts und mehr gemeinsamer Erziehung besonderer Bemühungen bedarf und dass angesichts der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen nur mit großer Verantwortung an diese Angelegenheit herangegangen werden kann. Das hat Herr Klare heute erfreulicherweise auch betont.

Die in der Rahmenplanung ausgewiesenen Vorschläge zum Umbau der sonderpädagogischen Förderung entsprechen der Einsicht, Frau Litfin, dass den Beteiligten Zeit gegeben werden muss, Erfahrungen zu sammeln, sich auszutauschen und sich auf die Aufgaben im gemeinsamen Unterricht vorzubereiten. Eine flächendeckend verordnete Umsetzung von Integrationskonzepten kann es deshalb nicht geben. Dazu sind die Auffassungen in unserer Gesellschaft darüber, wie viel gemeinsamer Unterricht sein soll und wer gerne eine Sonderschule für sein Kind haben möchte, zu unterschiedlich und zu widersprüchlich. Wenn man mit Eltern redet, erkennt man, dass es dabei sehr viel Widersprüchliches gibt. Einige wollen ihre Kinder gemeinsam erziehen und andere gar nicht. Dazu gibt es die regionalen Konzepte, und der Konsens muss vor Ort hergestellt werden.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthält leider einige unrichtige Behauptungen. Ich muss hier deshalb feststellen, dass für alle Kinder und Jugendlichen mit allen Förderschwerpunkten eine angemessene sonderpädagogische Förderung nicht nur in der Sonderschule, sondern auch in den kooperativen und integrativen Formen vorgesehen ist. Um einige wenige Beispiele zu nennen: Geistig

behinderte Kinder können auch weiterhin in Integrationsklassen unterrichtet werden, und dort stehen, Herr Klare, je Kind fünf zusätzliche Sonderschullehrerstunden zur Verfügung. Bis zu drei Kinder pro Klasse sind dabei vorgesehen. Das wird irgendwie immer negiert und in einen Topf geworfen. Diese Kinder können ebenso in Kooperationsklassen unterrichtet werden. Diese Klassen, die dann maximal sieben behinderte Kinder besuchen, sind an eine Regelschule angegliedert und erhalten dort die entsprechenden Stundenzuweisungen - 30 Stunden - wie in der Sonderschule. Herr Klare hat heute - ich habe das wohl zum ersten Mal gehört – gesagt, wir gingen mit diesen verschiedenen Ansätzen der Kooperationsklasse durchaus differenziert vor.

(Klare [CDU]: Das habe ich schon im Ausschuss gesagt!)

- Ich bitte um Entschuldigung. Ich war nicht in der Sitzung des Ausschusses. - Ich fand es aber gut, dass Sie sagen, dass wir in der Tat differenziert vorgehen und sowohl die Integrationsklasse als auch die Kooperation sowie für blinde, sehbehinderte, gehörlose, schwerhörige und körperbehinderte Kinder auch noch die mobilen Dienste anbieten.

Abgesehen von solchen und ähnlichen Behauptungen ist festzustellen, dass zwei elementare Bedingungen eines Umbaus unseres Systems von den Antragstellern nicht berücksichtigt werden. Ich wundere mich, dass zur Finanzierbarkeit kein Wort gesagt worden ist, außer: Wir wollten die totale Integration. - Das ist übrigens ein schrecklicher Begriff.

(Frau Litfin [GRÜNE]: Das hat Herr Kollege Klare für mich gesagt! – Ge- genruf von Klare [CDU]: Ich habe das in Anführungszeichen gesetzt!)

- Ich habe gehört: Wir wollen die totale Integration. Entschuldigung. – Berücksichtigt wurde auch nicht die Umsetzbarkeit Ihres Anliegens im Hinblick auf die Akzeptanz. Vor allem Eltern, Lehrkräfte und auch Schulträger wollen dies eben nicht so verordnet haben. Sie haben jetzt einen Schritt getan, der neu ist. Ich erinnere nur daran, dass Sie den § 4 des Schulgesetzes - Integration - selbst sozusagen mitgetragen haben. Er ist ja in der Koalition entstanden,

(Frau Litfin [GRÜNE]: In der wir keine Mehrheit hatten!)

und Sie haben dieses eingeschränkte Elternrecht damals akzeptiert, weil wir gemeinsam gemeint haben, dass dann auch eine angemessene Förderung sichergestellt werden muss. Heute gehen Sie von diesem Punkt ab.

Sie haben eine wunderschöne Reihung von Vorschlägen gemacht. Es sollen mehr als die vorgesehenen Stunden in die sonderpädagogische Grundversorgung einfließen, die Grundversorgung im Primarbereich soll auf den Sekundarbereich ausgeweitet werden, die Anzahl der I-Klassen soll erhöht werden, sonderpädagogische Hilfen sollen vorgehalten werden, zugleich sollen die Klassenfrequenzen gesenkt werden, und Eltern sollen das Wahlrecht bekommen. Das ist ein wunderschöner Katalog alles Wünschbaren, was man sich so vorstellen kann und was natürlich auch die Befürworter der Integration gut finden. Wir müssen aber sagen - damit komme ich auf etwas zurück, was hier heute schon gesagt worden ist -: Man kann nicht alles versprechen, wenn man es nicht halten kann. Die Ressourcen sind nun einmal nicht so, dass wir solche massiven Kataloge erfüllen können. Sie machen dabei denen etwas vor, die uns vertrauen, dass wir gemeinsam eine Politik machen, die umsetzbar ist.

Ich meine, dass wir mit der Rahmenplanung Anstöße gegeben und neue Möglichkeiten geschaffen haben. Wir haben gerade die Kooperationsklassen geschaffen. Ich meine, wir brauchen keine unrealistischen Vorschläge, sondern wir brauchen eigentlich alle Fraktionen und Abgeordneten vor Ort, damit sie sich in die schwierige Phase des regionalen Konzeptes einmischen und versuchen, dort vor Ort ein solches Konzept im Konsens hinzubekommen. Ich kenne einige Abgeordnete, die das bei sich im Wahlkreis schon gemacht haben. Denen danke ich noch einmal herzlich dafür und hoffe, noch mehr Abgeordnete dafür zu gewinnen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin Seeler hat nun das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Forderung der Grünen, die sonderpädagogische Grundversorgung nun auch in der Sekundarstufe I fortzuführen, werden erstens Rahmenbedingungen

unseres Schulsystems nicht beachtet, und zweitens wird der Sinn sonderpädagogischer Grundversorgung dabei nicht berücksichtigt. Sonderpädagogische Grundversorgung soll doch zum einen präventiv wirken, also verhindern, dass Kinder überhaupt Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprachen oder Verhalten bekommen, und zum anderen sollen Defizite in diesen Bereichen aufgefangen und abgebaut werden. Ziel der sonderpädagogischen Grundversorgung ist es, dass diese Kinder nach der Grundschulzeit keinen Förderbedarf mehr haben.

Für alle Kinder, bei denen dieses Ziel während der Grundschulzeit nicht erreicht werden kann, weil die Defizite zu groß sind und damit der Förderbedarf zu hoch ist, muss auch in Zukunft der individuelle Förderbedarf festgestellt werden. Eine sonderpädagogische Grundversorgung würde diesen Kindern nämlich nicht gerecht. Deshalb werden auch geistig oder mehrfach behinderte Kinder nicht über die sonderpädagogische Grundversorgung gefördert, sondern mit einem individuell erstellten Förderplan. Ihre Behauptung, eine Integration dieser Kinder sei nicht mehr vorgesehen, ist falsch. Ich muss sie deswegen auch zurückweisen. Es zeigt, wie nachlässig Sie das vorgelegte Integrationskonzept überhaupt aufgenommen haben.

(Klare [CDU]: Wer hat das behaup- tet?)

Nun komme ich zu den Rahmenbedingungen unseres bestehenden Schulsystems. In Niedersachsen gibt es nach der Orientierungsstufe außer bei den integrierten Gesamtschulen ein nach Leistungskriterien auch äußerlich gegliedertes Schulsystem.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Es gibt Sonderschulen, Hauptschulen und Realschulen sowie die Gymnasien. Welche Schulform soll integrierten Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen ermöglichen? Sollen die Gymnasien oder sollen die Realschulen mit sonderpädagogischer Grundversorgung ausgestattet werden? Wollen die Grünen, dass es an allen Schulen Niedersachsens zieldifferenten Unterricht gibt und deshalb auch lern- und geistig behinderte Schülerinnen und Schüler integrativ in Gymnasialklassen unterrichtet werden?

(Frau Litfin [GRÜNE]: Nein, aber z. B. blinde Schüler!)

Mit welcher Logik werden dann aber nicht auch die Hauptschüler und die Realschüler an den Gymnasien aufgenommen und wird bei uns ein integriertes Schulsystem eingeführt? Oder sollen es nach Auffassung der Grünen allein unsere Hauptschulen sein, die alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufnehmen und damit wahrscheinlich in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr zu Sonderschulen werden, was die Chancen sämtlicher Absolventen dieser Schulform auf dem Arbeitsmarkt weiter vermindern würde? Schon diese Fragen zeigen, dass die Übertragung des Konzeptes „Lernen unter einem Dach“ auf die Schulen der Sekundarstufe nicht so einfach ist, wie es die Grünen behaupten. Die zu lösenden Probleme sind viel komplexer.

Deshalb müssen wir nach Auffassung meiner Fraktion erst einmal auswerten, welche Erfahrungen mit den regionalen Integrationskonzepten gemacht werden. Bedenken Sie, dass die ersten Schulen noch nicht einmal ein halbes Jahr nach diesen Konzepten arbeiten. Da können übertragbare Erfahrungen doch noch gar nicht vorliegen.

In einem sind sich SPD und Grüne allerdings einig: Die Integration von Schülerinnen und Schülern darf nach der Grundschule nicht beendet sein, sondern muss auch im Sekundarbereich weitergehen. Vielfältige Ansätze dazu gibt es auch in Niedersachsen schon. So muss z. B. die Kooperation der unterschiedlichen Schulformen weiter ausgebaut werden, nicht nur bei besonderen Ereignissen wie Schulfesten oder Ausflügen, sondern auch im täglichen Schulleben. Dabei sind wir dann gut beraten, auf die Erfahrungen anderer Länder zurückzugreifen.

Erinnern Sie sich doch an unseren Ausschussbesuch in Dänemark, wo uns die Eltern behinderter Kinder erklärten, dass die Integrationsklassen in den Grundschulen hervorragende Ergebnisse bringen und sich die Kinder dort auch wohlfühlen, dass aber in den höheren Klassen Probleme auftreten, weil sich die behinderten Kinder wegen ihrer Behinderung isoliert fühlen. Dänemark schwenkt deshalb bei der Integration in der Sekundarstufe auf Kooperationsklassen um, rückt aber nicht vom Prinzip „Lernen unter einem Dach“ ab - allerdings eben nicht in einer Klasse.

Pädagogisch leichter haben es unsere nördlichen Nachbarn mit der Integration alle Mal. Dänemark hat nämlich - im Gegensatz zu Deutschland - auch im Sekundarbereich I ein Gesamtschulsystem.

Zum Schluss noch zu den Forderungen unseres Behindertenbeauftragten Karl Finke, den Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, in Ihrem Antrag zitieren: Sein wirklich leidenschaftliches Plädoyer für schulische Integration wird von ihm selbst viel realistischer eingeschätzt, als es diese Entschließung tut. Er schreibt nämlich in seiner Broschüre „Eine Schule ohne behinderte Kinder ist keine normale Schule“ Folgendes: Die große gesellschaftliche Vision einer humanen und demokratischen Schule, die eine Schule für alle Kinder ist, lässt sich nur in konkreten gesellschaftlich und politisch akzeptierten Schritten verwirklichen. - Dem ist meiner Meinung nach nichts hinzuzufügen. Undurchdachte Schnellschüsse, wie sie mit dem Antrag der Grünen abgegeben werden, helfen bei einer flächendeckenden Integration nicht, sondern schaden eigentlich nur. Deswegen lehnen wir den Antrag der Fraktion der Grünen ab.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich darf jetzt die Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt abschließen.

Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlussempfehlung zustimmen und damit den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ablehnen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Stimmenthaltungen? - Das Erste war die Mehrheit.

Ich bedanke mich für Ihre Mitarbeit und schließe die heutige Sitzung.

Schluss der Sitzung: 18.53 Uhr.