Protokoll der Sitzung vom 29.03.2000

Erstens. Das Rationalisierungspotential muss sicherlich weiter ausgeschöpft werden, aber behutsamer, als es von Herrn Mehdorn zurzeit angegangen wird. Die Motivation der Mitarbeiter der Bahn leidet gewaltig und ist auch schon im Moment nicht die höchste.

Zweitens muss eine bessere Verzahnung von Nahund Fernverkehr hergestellt werden. Das hat Herr Mehdorn angekündigt. Wir sind bereit, darüber zu reden. Allerdings darf dies nicht einseitig zulasten der Länderfinanzen gehen. Das muss auch deutlich gemacht werden.

(Beifall bei der SPD)

Drittens bin ich auch offen dafür, in eine Diskussion über Regionalisierung einzutreten. Ich halte das

im Grundsatz für einen richtigen Gedanken. Wir haben in Niedersachsen im Bereich der EVB ein Beispiel, wie man so etwas vernünftig machen kann. Allerdings ist es wichtig, dass uns keine maroden Strecken überlassen werden. Wenn hier eine Regionalisierung stattfindet, dann müssen vorher die Strecken in Ordnung gebracht werden oder müssen uns die Mittel dafür gegeben werden, dass wir sie in Ordnung bringen können. Sonst können wir keinen wettbewerbsfähigen Verkehr in der Region betreiben.

(Beifall bei der SPD)

Und das Vierte ist: Der Bund muss in die Pflicht genommen werden. Was nach der Bahnreform vernachlässigt worden ist, nämlich mehr finanzielle Mittel zum Ausbau des Schienennetzes zur Verfügung zu stellen, muss jetzt passieren. Dann wird auch die Wettbewerbssituation der Bahn besser.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen: Der Bahn stehen schwere Zeiten bevor. Das Land Niedersachsen hat ein großes Interesse daran, dass die Bahn wettbewerbsfähiger wird. Deshalb müssen wir auch konstruktiv an Konzepten mitarbeiten, die das ermöglichen. Der Weg ist nicht einfach, aber wir werden unseren Beitrag leisten, dies allerdings nur dann, wenn der Bund, der immer noch Eigentümer und Verantwortlicher für das Schienennetz ist, dazu ebenfalls seinen Beitrag leistet.

(Beifall bei der SPD)

Damit ist der Tagesordnungspunkt 1 a erledigt.

Ich rufe jetzt auf:

b) 4 und 2 oder 5 oder 6? - Diskussion um Orientierungsstufe darf nicht zum Zahlenspiel verkommen - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 14/1497

Das Wort hat die Abgeordnete Litfin.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Schulform, die sich nur das Land Niedersachsen leistet, ist ins Zentrum der öffentlichen Diskussion,

ins Zentrum der Schulpolitik des Landes Niedersachsen gerückt, und zwar dank einer Initiative des Landeselternrats, eine Schulform, die schon lange im Gerede ist - es ist nicht gut, wenn eine Schulform im Gerede ist, statt in der Debatte zu sein -, die Orientierungsstufe. Meine Fraktion ist der Meinung, dass diese Debatte, wenn auch spät, jetzt aber doch endlich nachhaltig und mit Veränderungswillen geführt werden sollte; denn wir sehen den Veränderungsbedarf bei der Orientierungsstufe.

Wir üben unsere Kritik, die wir im Übrigen schon seit Jahren äußern, an dieser eigenständigen Schulform, die nur zwei Jahre dauert, die das, was unsere Kinder sehr dringend brauchen, nämlich Kontinuität, nicht bieten kann, die, weil sie auf Selektion angelegt ist, vielen Kindern keine Könnenserfahrungen bietet, die insbesondere den potentiellen Hauptschülern und Hauptschülerinnen das Gefühl vermittelt, sie könnten sowieso nichts, sie versagten sowieso nur, was bei diesen Kindern oftmals dazu führt, dass sie jegliche Lernleistungen, jegliche Anstrengungen einstellen, was selbstverständlich eine ganz schlechte Voraussetzung für das lebenslange Lernen ist, das wir alle so gern im Munde führen.

Wie Sie wissen, ist die Alternative meiner Fraktion die sechsjährige Grundschule. Dafür treten wir weiterhin ein. Dabei möchte ich an dieser Stelle die Vorwürfe zurückweisen, die gegenüber meiner Fraktion und meiner Partei immer gern erhoben werden, dass es uns darum gehe, zwei weitere Jahre lang eine Kuschel- oder Schmusepädagogik zu betreiben. Das wollen wir nicht. Uns geht es um Leistung; denn in der Schule geht es um Leistung. Uns geht es aber auch darum, Kinder bei ihren Leistungen und Lernanstrengungen, auch wenn diese nicht das Ergebnis haben, dass diese Kinder einmal zum Gymnasium gehen und dort Abitur machen können, zu stützen, zu belohnen und den Kindern so den Rücken zu stärken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Kultusministerin hat, nachdem der Landeselternrat das Thema aufgegriffen hat, sofort reagiert und gesagt: Wir stellen die Orientierungsstufe nicht infrage. - Das war nicht klug. Der Herr Ministerpräsident hat jetzt klüger gehandelt. Er hat den Ball aufgenommen, wollte den Ball also nicht allein der Opposition überlassen, weil er das richtigerweise so eingeschätzt hat, dass das ein großes Thema ist und noch werden wird.

Der Ministerpräsident hat dazu aufgefordert, eine offene Debatte zu führen, deren Ergebnis er nicht vorwegnehmen möchte. Ich möchte, dass sich an dieser offenen Debatte nicht nur die Fraktionen im Landtag, sondern auch Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, aber auch Schüler und Schülerinnen beteiligen, damit wir gemeinsam zu einem vernünftigen Ergebnis für die Kinder, zu einem annehmbaren Ergebnis für die Eltern, aber auch zu einem umsetzbaren Ergebnis für die Schulträger kommen.

An dieser Stelle muss ich leider infrage stellen, dass dieses Dialogangebot der Landesregierung ernst gemeint ist.

(Zuruf von der CDU: Sehr richtig; in- haltlich!)

Es kann ja sein, dass am Ende der Debatte steht: Jawohl, wir gehen in Niedersachsen den Weg anderer Länder und führen die sechsjährige Grundschule ein. - Nun haben wir in Niedersachsen Schulen, die bereits wie eine sechsjährige Grundschule arbeiten, und zwar u. a. eine Schule in Neustadt, die das seit 1994 tut. Dort gab es mal eine Grundschule/Hauptschule mit angegliederter Orientierungsstufe. Die Hauptschule ist im Jahre 1994 verlegt worden. Übrig geblieben sind Grundschule und Orientierungsstufe, die seitdem wie eine sechsjährige Grundschule arbeiten. Alle sind zufrieden damit. Es gibt dort ein Kollegium, das durch einen Schulleiter geleitet wird. Ein Drittel des Kollegiums arbeitet nur in der Grundschule, ein Drittel nur in der Orientierungsstufe, aber ein Drittel arbeitet in beiden quasi Schulformen, die aber so arbeiten, als seien sie eine. Alle sind mit der Arbeit zufrieden, alle wollen, dass die Arbeit so fortgesetzt wird.

Aber gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, zu dem der Ministerpräsident zu einer offenen Debatte aufruft, erscheint - das war gestern - die Bezirksregierung Hannover,

(Glocke des Präsidenten)

hochrangig besetzt mit dem Abteilungsleiter 4 an der Spitze, in dieser Schule und erklärt, sie habe sich darauf vorzubereiten und einzustellen, dass ihre Systeme zu trennen seien; denn sie arbeite auf keiner rechtlichen Grundlage.

(Zuruf von der CDU: Das ist unge- heuerlich!)

In Zukunft müsse es dort so sein, dass es eine Orientierungsstufe mit eigenem Lehrerzimmer, mit eigenem Kollegium und eine Grundschule gebe, für die das Gleiche vorzuhalten sei.

(Unruhe bei der CDU)

Ich frage mich: Wie offen ist das Dialogangebot, wie ernsthaft ist es gemeint?

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Oder ist es an dieser Stelle so, dass ein Minister bzw. eine Ministerin vielleicht gar kein Interesse daran hat, ein vorzeigbares, lange arbeitendes Modell einer sechsjährigen Grundschule zu haben, sodass man deshalb quasi unterhalb der Ebene des Ministerpräsidenten darangeht, diese Schule zu zerschlagen?

(Glocke des Präsidenten)

Darauf, Herr Ministerpräsident oder Frau Kultusministerin, hätte ich gerne eine Antwort.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Das Wort hat jetzt der Kollege Busemann von der CDU-Fraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 30 Jahren wurde in Niedersachsen die Orientierungsstufe eingeführt. Damals war es sicherlich so, dass das ein Stück weit auch ein Kompromiss zwischen den Anhängern der Gesamtschule und den Anhängern des dreigegliederten Systems sein sollte. Es wurde mehr Chancengleichheit gefordert, es sollte mehr Prognosesicherheit eintreten usw.

Nach 30 Jahren Erfahrung kann man wohl sagen: Die in die O-Stufe damals gesetzten Erwartungen sind nicht erfüllt worden.

(Unruhe bei der SPD)

Die Mängelliste ist lang: Leistungsstarke Schüler werden nicht genug gefordert, leistungsschwache Schüler werden nicht genug gefördert.

(Zuruf von Plaue [SPD])

Schulkinder leiden unter dem mehrfachen Schulortwechsel, Herr Kollege Plaue, sie leiden unter häufigem Lehrerwechsel, unter Abordnungen, unter all den Dingen, die damit verbunden sind.

(Plaue [SPD]: Vor allem unter Ihren Reden!)

Auch die Prognosesicherheit wurde nicht verbessert gegenüber den früheren Verhältnissen, bei denen es nach dem 4. Schuljahr, wie es anderswo heute noch so geht, möglich war, eine entsprechende Prognose zu treffen. Im Gegenteil, die Eltern missachten die Prognose immer mehr, und man merkt auch, wie die Eltern im Interesse der Kinder versuchen, der O-Stufe geradezu auszuweichen, wenn es etwa Angebote privater Schulträger gibt.

(Unruhe bei der SPD)

- Beachten Sie das, und lachen Sie nicht darüber!

Meine Damen und Herren, die Schulzeit für das Gymnasium, für die Realschule und - das ist am schlimmsten - für die Hauptschule wird verkürzt. Die Hauptschule gerät zur Rumpfschule. Das hat wahnsinnig große nachteilige Folgen in erzieherischer Hinsicht und auch in qualitativer Hinsicht. Schauen Sie sich die Auswirkungen auch auf die berufliche Bildung an! Insbesondere im Bereich der Hauptschule führt das geradezu zu sozialen Verwerfungen, sodass man sagen muss: Das kann doch so nicht in Ordnung sein. - Denken Sie einmal darüber nach, warum das so ist!

(Beifall bei der CDU)

Am Ende gibt es kaum noch einen Grund für die Beibehaltung der Orientierungsstufe in der jetzigen Form, vielleicht auch grundsätzlich.

Warum muss gerade Niedersachsen noch einen Sonderweg mit der O-Stufe in der jetzigen Form gehen? Nehmen wir einmal das Bundesland NordrheinWestfalen! Die haben dort ja auch eine bestimmte Geschichte hinter sich. Dort wird nach der 4. Klasse die Schullaufbahnempfehlung gemacht, und dann geht es im 5. und 6. Schuljahr sozusagen mit einer Beobachtungsphase weiter, und man benötigt keine gesonderte Schulform. Wenn wir dann noch hinzudenken, dass horizontal und vertikal eine Durchlässigkeit gegeben sein muss, dann hätten wir doch fast schon die Lösung des Falles. Warum also hält Niedersachsen hier dagegen?

Meine Damen und Herren, wie Sie vielleicht auch in der politischen Diskussion merken, geht die Zahl der Befürworter der O-Stufe immer weiter zurück. Manchmal hat man den Eindruck, dass das nur noch wenige Anhänger einer Sekte und vielleicht noch die letzten Mohikaner in der SPDFraktion sind. Es war interessant, das in den letzten Wochen und Monaten zu verfolgen. Jedenfalls wird die Abschaffung der O-Stufe in zunehmendem Maße gefordert.