Protokoll der Sitzung vom 12.05.2000

Danke schön, Herr Kollege Dr. Winn. - Zu diesem Antrag spricht jetzt Herr Kollege Groth.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht ein ungewöhnlicher Auftakt, aber bei Gehörlosen ist es Pflicht, dass man zunächst mitteilt, wer man ist. Also: Ich bin Harald Groth, spreche für die SPD-Fraktion und will kurz auf das eingehen, was Herr Dr. Winn gesagt hat.

Ich freue mich sehr darüber, dass Sie von der CDU hier und heute dokumentieren, dass Sie eine Kehrtwendung machen, wobei Sie vielleicht gar nicht wissen - ich befürchte das -, dass Sie bisher auf ganz anderer Linie marschiert sind. Sie haben in einigen Sätzen Ihres Beitrags auch deutlich gemacht, dass Sie eigentlich doch noch den Lautsprachideologen verfallen sind. Sie sind da in einer großen Gefahr, ein hundertjähriges Problem auf diesem Feld einseitig zu sehen. Ihre Vorschläge sind zum Teil untauglich, aber dennoch begrüße ich es, dass Sie nun sagen, der Gebärdensprache müsse in Niedersachsen noch mehr als bisher - da scheinen Sie über den Stand der Dinge nicht informiert zu sein - Raum gegeben werden.

Ich erinnere einmal daran: Es war Ihr Kultusminister Knies

(Frau Schliepack [CDU]: Das ist im letzten Jahrhundert gewesen! - Weitere Zurufe von der CDU)

- ja, aber das hat viele Jahre die Bedingungen bestimmt -, der den Erlass für die Schulen für Gehörlose geschrieben hat, also die Ideologie, nach dem die Gebärdensprache von den Lehrenden nicht beherrscht werden muss und die Lehrenden auch keine Fortbildungsangebote bekommen, die Gebärdensprache den Schülern nicht zu lehren ist und die Schüler sie nicht lernen sollten.

(Frau Schliepack [CDU]: Das ist aber schon lange her!)

- Ja, das ist viele Jahre her; es war 1987,

(Zuruf von Dr. Winn [CDU] - Weitere Zurufe von der CDU)

- ich sage es Ihnen; das ist jetzt alles ausgeräumt -, aber der Erlass von 1987 bestimmte die Bildungslandschaft und machte es ja so schwer, durch Nachbildung überhaupt Gebärdendolmetscher in diesem Land zu bekommen.

Viele Jahre wurde ja gesagt - das ist der hundertjährige Streit -: Nur die Lautsprache bildet das Sprachvermögen beim gehörlosen Kind. Die Gebärde mit ihrer Emotionalität, mit ihrer Fähigkeit, etwas viel besser auszudrücken, als Unterstützung oder auch anstelle der Lautsprache, wurde von den sprechenden Pädagogen viele Jahre verteufelt. Das war in der Terminologie der sprechenden Pädagogik die „Affensprache“. Dafür wurden Kinder gemaßregelt.

(Frau Elsner-Solar [SPD]: Hände auf den Rücken!)

Dafür wurden Lehrer gemaßregelt, die die Gebärdensprache zur Lautsprache entwickelten.

(Dr. Winn [CDU]: Die haben doch ei- ne ganz andere Situation!)

Erst mit dieser Regierung hat es wichtige Entscheidungen und Neuerungen gegeben, und die will ich Ihnen kurz sagen.

(Frau Elsner-Solar [SPD]: Weil er sie nicht weiß!)

Es war begrüßenswert - das wird von mir also auch völlig anders eingeschätzt -, dass sich das Europäische Parlament zur Gebärdensprache verhalten hat

und endlich einen Paradigmenwechsel eingefordert hat. Sie sind da sehr ins Detail gegangen; allerdings mit Nebensachen. Das Europäische Parlament hat gesagt: Die Gebärdensprache ist wichtig und muss Platz greifen. - Die Ministerpräsidenten der Bundesrepublik haben sich ähnlich verhalten. Der Bundestag hat sich auch endlich ähnlich verhalten. In der Koalitionsvereinbarung der Regierung Schröder ist die Gebärdensprache namentlich erwähnt. Sie soll Platz greifen. Sie kann sowohl in einem Antidiskriminierungsgesetz - das war gestern schon Thema - ihren Platz finden, aber auch in einem Leistungsgesetz - das SGB IX ist ja in Arbeit - geregelt werden, um ihr so einen bundesgesetzlichen Leistungsrahmen zu geben.

Derzeit ist sie ambulante Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 BSHG; die Leistung geht also nicht über die Krankenkassen. Sie müssen die Kommunen einmal fragen, in denen es Verträge über ambulante Eingliederungshilfe gibt. Gebärdensprachdolmetscher sind oft nicht geregelt. Wir haben viel zu wenig Verträge über ambulante Eingliederungshilfe, und wenn wir sie haben, dann haben wir die Leistungen für die geistig Behinderten, für die Autisten und für viele andere dringend darauf angewiesene Gruppen, aber oftmals nicht für die Gehörlosen geregelt.

Es wäre also wichtig, dass Sie das, was Sie einfordern - nach geltender Rechtslage handelt es sich dabei nämlich um einen Anspruch der Gehörlosen auf ambulante Eingliederungshilfe -, dem auf kommunaler Ebene zuständigen Sozialhilfeträger sagen, dass Sie ihn also darauf hinweisen, dass er seine Arbeit tun muss. - Aber Verträge über ambulante, kommunal finanzierte Eingliederungshilfe nehmen zu, und zwar auch im Lande Niedersachsen.

Nun zu dem, was wir in Niedersachsen tun. Dafür sind zwei Ministerien zuständig, nämlich das Kultusministerium und das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales. Die Kultusministerin hat all die Fehler von Herrn Knies abgearbeitet. Der Erlass für die Gehörlosenschule ist korrigiert nach langen Anhörungen und auch nach Kämpfen mit den Vertretern der „Nur-Laut-Sprache“. Das weiß ich sehr wohl. Jetzt ist es möglich, in der Schule Gebärdensprache anzubieten. Es handelt sich um eine Unterrichtsveranstaltung, und beim NLI werden Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte mit gehörlosen Schülern entwickelt. Das war wichtig. Wir machen die Erstausbildung der Lehrer für Gehörlose schon viele Jahre mit Hamburg

zusammen. Der heute hier anwesende Dolmetscher ist dort ein Unterrichtender. Wir bilden Lehrer schon lange gegen die Auffassung der Altideologen bilingual aus, damit sie sowohl die Lautsprache als auch die Gebärdensprache beherrschen. Das ist ein Verdienst und greift in Niedersachsen Platz.

Im Landesbildungszentrum haben wir zunehmend Dolmetscher - einen sehen Sie hier vorn -, die das in Hamburg Erlernte platzieren. Wir haben aber auch außerhalb von Schule mit Landeshilfe durch Projektförderung dafür gesorgt, dass wir für das Arbeits- und Berufsleben einen Stamm von Dolmetschern haben. Der Landesverband für Gehörlose hat mit Fördermitteln des Sozialministeriums 26 Dolmetscher qualifiziert. So ist das zustande gekommen. Dort, wo im Arbeitsleben, dort wo im Berufsleben wichtige Fragen zu besprechen sind, gibt das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben den Gehörlosen Einzelfallhilfe. Dies macht derzeit im Jahr einen Ansatz von rund 800.000 DM aus. Darüber hinaus setzen wir die Landesverbände der Gehörlosen mit über 400.000 DM im Jahr in die Lage, ihre Sozialberatung intensiv zu betreiben.

Wir sind also auf dem Wege, die Gehörlosensprache in Niedersachsen tüchtig voranzubringen. Natürlich fördern wir das Gehörlosenzentrum mit jährlich 48 Millionen DM brutto und 30 Millionen DM netto; hier gibt es natürlich auch Einnahmen in Form von Mitteln Dritter.

Die Arbeit mit Gehörlosen im Lande ist durch diese Regierung vorangebracht worden. Die Fehler der Vergangenheit sind in Niedersachsen Schritt für Schritt korrigiert worden.

(Jansen [CDU]: Wir werden die nächsten Sparmaßnahmen erleben!)

Sie haben ein völlig falsches Bild vermittelt. Das, was Sie einfordern, ist seit Jahren auf dem Weg. Viele von Ihnen habe ich noch nie auf den Welttagen der Gehörlosen, die in Niedersachsen immer begangen werden, gesehen. Bekennen Sie sich dort zu einer neuen Politik der CDU! Dann würden Sie uns sehr helfen. Aber schweigen Sie dort nicht! Bleiben Sie dort nicht fern! Gehen Sie hin! Bekennen Sie sich zu den Gehörlosen in Niedersachsen!

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Kollegin Pothmer.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Winn, nach Ihrem Redebeitrag bin ich verwundert darüber, dass Sie einen Antrag zur Anerkennung der Gebärdensprache gestellt haben. Sie haben uns in Ihrem Redebeitrag deutlich gemacht, dass die Gebärdensprache insbesondere für Kinder und Jugendliche eher ein Problem darstellt, als dass sie eine Hilfestellung sein könnte. Insofern gibt es also eine Diskrepanz zwischen dem, was uns schriftlich vorliegt, und dem, was Sie uns vorgetragen haben, die sich für mich nicht aufgeklärt hat.

(Dr. Winn [CDU]: Lesen können Sie selber!)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In allen Beiträgen - auch in dem Beitrag von Herrn Dr. Winn - ist deutlich geworden, dass Gehörlose und ertaubte Menschen nach wie vor ein Problem haben, sich tatsächlich gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen,

(Zustimmung von Frau Schliepack [CDU])

dass es nach wie vor eine Diskriminierung von ertaubten und gehörlosen Menschen gibt. Der Zugang zu Informationen ist nach wie vor stark eingeschränkt. Im Fernsehen wird selten mit Untertiteln oder sogar mit Gebärdendolmetschern gearbeitet. Herr Dr. Winn, Sie haben noch einmal betont, dass Gebärdendolmetscher eher schädlich bzw. falsch seien. Mir haben die Betroffenen etwas ganz anderes erläutert. Die Betroffenen fordern eher, die Zahl der Gebärdendolmetscher auszuweiten.

Bei Arztbesuchen, Behördengängen und Bildungsangeboten - überall sind Ertaubte und Gehörlose auf Kommunikationsvermittlung angewiesen. Obwohl im SGB eine Unterstützung vorgesehen ist, obwohl es eine Regelung für die Unterstützung und Integration von Gehörlosen gibt, müssen wir feststellen, dass pro Jahr für jeden Gehörlosen ein Dolmetscher real nur für 90 Minuten zur Verfügung gestellt wird. Das zeigt mir sehr deutlich, dass es hier noch einen erheblichen Handlungsbe

darf gibt. Angesichts der Probleme, angesichts der Unterstützungsnotwendigkeiten kann es nicht ausreichend sein, nur für 90 Minuten im Jahr einen Gebärdendolmetscher zur Verfügung zu stellen und zu finanzieren.

Mein Kollege Groth hat bereits darauf hingewiesen: Die rot-grüne Bundesregierung sieht dieses Problem sehr deutlich und befindet sich auch auf dem Weg, etwas voranzubringen. Die Vorbereitungen zur Erarbeitung eines Konzeptes sind im vollen Gange. Ich sage Ihnen aber auch ganz deutlich: Sie sind noch nicht abgeschlossen. Ende Mai wird dazu eine Koalitionsarbeitsgruppe tagen, die das weitere Vorgehen beraten soll. Ich glaube, das wird nicht ganz einfach; das wird im doppelten Sinne nicht ganz einfach werden. Zum einen müssen unbedingt die Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern geklärt werden. Ich glaube, hier wird es, wie immer in einem solchen Fall, noch Auseinandersetzungen geben. Zum anderen wird das aber auch deshalb nicht einfach, weil das Paket, das zu schnüren ist, tatsächlich sehr umfänglich ist.

Ich möchte Ihnen nur einige Punkte nennen, die aus meiner Sicht geregelt werden müssen. Wir sind der Auffassung und wollen das unbedingt, dass die Gebärdensprache als vollwertige Sprache anerkannt wird. Wir wollen auch, dass Früherkennung und Frühförderung einen anderen Stellenwert bekommen. Das ist natürlich richtig. Herr Dr. Winn, bei Ihnen hört man immer wieder den Mediziner heraus. Wir freuen uns über den medizinischen Fortschritt,

(Zustimmung von Frau Schliepack [CDU])

aber dass das nicht alles sein kann, kommt bei Ihnen als Mediziner immer zu kurz, nämlich dass andere Formen der Unterstützung und Integration weiterhin notwendig sein werden. Wir wollen die bilinguale Erziehung und Beschulung von gehörlosen Kindern weiter vorantreiben.

Der Beruf des Gebärdendolmetschers braucht eine klare und deutliche Anerkennung. - Das sind nur wenige Punkte.

Klar müsste aus meiner Sicht sein, dass die Länder für die bilinguale Erziehung zuständig sind. Das ist für mich klar und eindeutig eine Landesangelegenheit. Niedersachsen hat in der Vergangenheit etwas getan. Hessen ist aber dadurch, dass es dort einen fraktionsübergreifenden Beschluss in dieser Frage

gegeben hat, ein Stückchen weiter vorangegangen. Ich finde, diesem guten Beispiel sollten wir Folge leisten. Die Anerkennung des Gebärdendolmetschers müsste aus meiner Sicht prinzipiell eine Bundesangelegenheit sein. Ich fände es schade, wenn wir anfingen, in den Ländern eigene Gesetze zu machen. Das würde das Verfahren eher verkomplizieren. Ich würde mir wünschen, dass wir in Niedersachsen einmal darüber diskutieren, was in Sachsen-Anhalt geschieht.

Dort ist nämlich ein eigener Fachhochschulstudiengang zur Ausbildung von Gebärdendolmetschern eingerichtet worden. Das ist eine Idee, die wir diskutieren sollten.

Abschließend möchte ich gern noch den Vorschlag aus dem Kreis der Betroffenen aufgreifen, das Kennzeichen „GL“, nämlich für „Gehörlose“, in den Schwerbehindertenausweis einzutragen. Das hätte zur Folge, dass die Gehörlosen und Ertaubten mit den Blinden gleich gestellt würden. Das würde klare und eindeutige Regelungen nach sich ziehen, was zum Beispiel den Anspruch auf Gebärdendolmetscher bzw. Gebärdendolmetscherinnen angeht. Hier besteht die Möglichkeit, von Niedersachsen aus durch eine Bundesratsinitiative tätig zu werden. Das sollten wir im Ausschuss aber noch einmal beraten. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Danke schön, Frau Kollegin Pothmer. - Meine Damen und Herren, mir liegen weiter keine Wortmeldungen zu diesem Antrag vor. Ich schließe deshalb die Beratung.

Wir kommen zur Ausschussüberweisung. Zuvor möchte ich Ihnen aber noch mitteilen, dass die SPD-Faktion beantragt hat, den Kultusausschuss mitberaten zu lassen.

Wenn Sie damit einverstanden sind, dass der Ausschuss für Sozial- und Gesundheitswesen mit der federführenden Beratung und der Kultusausschuss mit der Mitberatung beauftragt wird, dann bitte ich um Ihr Handzeichen. - Danke schön. Stimmt jemand dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Sie haben einstimmig so beschlossen, meine Damen und Herren.

Wir haben den Tagesordnungspunkt 30 damit abgearbeitet. Ich danke Herrn Szczepanski ganz

herzlich dafür, dass er dafür Sorge getragen hat, dass alle Menschen die Debatte hier verfolgen konnten.