Protokoll der Sitzung vom 16.11.2000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin erfreut, dass die bildungspolitische Präsenz etwas zugenommen hat; Herr Meinhold, ich habe das Glück, dass jetzt auch Herr Klare da ist. Leider ist Herr Busemann immer noch nicht anwesend. Er ist

weder im Kultusausschuss noch hier, er macht Bildungspolitik offensichtlich woanders.

Frau Vockert, Sie haben einen Fall angesprochen, der in einer Kleinen Anfrage an den Herrn Innenminister thematisiert worden ist. Morgen haben wir noch eine Kleine Anfrage dazu. Da ich aber nicht weiß, ob sie noch drankommt, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung dazu.

Ihre Anfrage zeigt auf, wie Sie diese Problematik angehen. Sie meinen, wenn es keine Rückmeldung an die Polizei gegeben hat, hat auch die Schule nichts in Richtung Schulpflichtverletzungen getan. Dieser Rückschluss ist nicht möglich, und das werden wir Ihnen morgen auch darstellen, entweder mündlich oder schriftlich. Dieser Rückschluss ist auch unseriös. Man kann nicht einfach sagen, wenn keine Rückmeldung an die Polizei erfolgt ist, ist auch in der Schule nichts geschehen. Wir haben durch Stichproben festgestellt, dass in der Schule eine Menge geschehen ist. Außerdem gibt es auch noch Datenschutzprobleme, die wir miteinander und auch mit dem Innenminister zu besprechen haben. - Also: Unterlassen Sie doch bitte diese Kurzschlüssigkeit und Diffamierung, die bei Ihnen immer gleich mit drin steckt, dass die Lehrer nichts tun!

Genauso verfahren Sie in Ihrem Antrag. Mit der Überschrift „Eingreifen statt Wegsehen“ unterstellen Sie erstens, dass weggesehen wird, und zweitens, dass, wenn man hinsehen oder eingreifen würde, die Schulpflichtverletzungen abnehmen. Ich will die Richtigkeit dieser These nicht völlig bestreiten, aber erst einmal arbeiten Sie immer mit Unterstellungen.

(Frau Vockert [CDU]: Das sind Tat- sachen!)

- Nein, nein.

Die schlichte Argumentation, die Sie in Ihrem Antrag gewählt haben - Herr Meinhold hat schon darauf hingewiesen -, diese Vereinfachung des sehr komplexen Problems der Schulpflichtverletzungen oder Schulbesuchsverweigerungen von Kindern, wird dem Problem nicht gerecht. Hier lassen sich keine einfachen Ursache-WirkungZusammenhänge feststellen. Natürlich sehen Lehrkräfte auch hin. Die Mehrzahl der Lehrkräfte sieht hin und wendet eine Menge Kraft und eine Menge Zeit gerade für diese Kinder auf. Häufig machen sie aber doch die Erfahrung, dass ihnen diese Kinder und Jugendlichen entgleiten.

Schon gar nicht funktioniert es, wenn Sie aus so einem Problem eine Schulstrukturdebatte machen wollen. Diese Tendenz findet man ja in vielen Ihrer Anträge wieder. Erst hatte immer die Gesamtschule Schuld; neuerdings hat immer die Orientierungsstufe Schuld. Dieser schlichte Argumentationszusammenhang funktioniert nicht, und das wissen Sie auch selbst. Es funktioniert nicht, wenn Sie sagen „Machen Sie langzeitliche Bildungsgänge oder zusätzliche Bildungsinvestitionen, dann verschwindet der Absentismus.“ Das glauben Sie doch selbst nicht!

Sie sind in Ihrem Antrag allerdings dann auf der richtigen Spur, wenn Sie die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen als eine mögliche Ursache ansprechen. Dazu muss ich Ihnen aber auch sagen: Dass das so ist, dafür haben Sie in der Zeit der CDU-geführten Bundesregierung kräftig mit gesorgt.

(Beifall bei der SPD)

Keine Ausbildungsplätze, keine Arbeitsplätze - das berührt Jugendliche wirklich, das frustriert auch wirklich.

Mit Ihrem Antrag greifen Sie wieder einmal ein Problem mit Populismen auf. Deswegen wird es bei einem großen Teil Ihres Antrags sicherlich keine Gemeinsamkeiten mit der Regierungsfraktion geben.

Sie haben aber auch einige Dinge genannt, bei denen wir Gemeinsamkeiten feststellen können. So möchten Sie z. B. verbindliche Regeln für das Schulleben festlegen und eine konsequente Werteerziehung fördern. - Ich freue mich, dass Sie hier meine Linie unterstützen. In unserer Handreichung zur Schulprogrammentwicklung, zur Evaluation, haben wir einen verbindlichen Kern an Verpflichtungen festgelegt. Dazu gehören, Frau Vockert, erstens Unterrichtskonzepte, Methoden und Sozialformen, die verbindlich festgelegt werden sollen. Dazu gehören zweitens die Förderung des sozialen Lernens, Werteerziehung und die Formulierung schul- und klassenbezogener Regeln. - Also, von jetzt ab sind wir beim Schulprogramm sicherlich einig. Die Frage ist nur noch, wie verbindlich dies sein muss.

Viele Schulen sind bei dieser Programmentwicklung auf einem guten Weg. Sie entwickeln Projekte. Vieles ist hier schon genannt worden: Konfliktlotsenausbildung, Schulverträge mit Verhaltensregeln etc. - Wenn Sie verbindliche Regeln

fordern, werden wir uns im Kultusausschuss konsequenterweise auch über verbindliche Schulprogramme unterhalten müssen.

Die Vielfalt der Ursachen von Schulabsentismus darf jedoch nicht dazu führen, vor der Komplexität dieses Problems zu kapitulieren. Um Berührungsängste zwischen Schule und Jugendhilfe zu beseitigen, sind einerseits konkrete Kooperationsvorhaben nützlich. Andererseits muss eine Zusammenarbeit auch organisatorisch nachhaltig abgesichert sein. Darin sind wir uns sicherlich auch einig.

Dies kann nur in Abstimmung mit den Verantwortlichen vor Ort geschehen. Ihre Forderung nach Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen Schule, kommunalen Schul- und Jugendhilfeträgern und der Polizei liegt ebenfalls auf der Linie unserer Politik. Was unsere Präventionsvorhaben angeht, stehen wir gemeinsam an der Spitze aller Bundesländer. Das ist vor allem dem Innenminister zu verdanken, der inzwischen fast flächendeckend Präventionsräte eingeführt hat. Der Landespräventionsrat ist eingebunden. - Da stehen wir an der Spitze aller Bundesländer. Das nehmen Sie bitte einmal zur Kenntnis!

Zahlreiche Initiativen der Landesregierung zeigen den Stellenwert, den wir gerade dieser Kooperation zumessen. § 25 Niedersächsisches Schulgesetz erlegt in seiner jetzigen Fassung den Schulen die Pflicht zur Zusammenarbeit im Rahmen ihrer Aufgaben auf - das wurde bereits im Erlass von 1994 „Schule/Jugendhilfe“ angebahnt - und beschreibt die Möglichkeit der Form. Wir können uns gerne darüber unterhalten, ob man hier noch mehr Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit vorschreibt. Auf diese Debatte freue ich mich.

Darüber hinaus hat die Arbeitsgruppe „Zusammenarbeit Schule/Jugendhilfe“ im Kultusministerium nach einer Bestandsaufnahme der Aktivitäten hilfreiche Anregungen und Anstöße für die Weiterentwicklung dieser Zusammenarbeit gegeben. Niedergeschlagen hat sich das in einer Broschüre, die Sie auch kennen, mit guten Beispielen, aus denen Sie auch zitiert haben.

Wie Sie aus den Erfahrungsberichten der Schulen ersehen, besteht über diese guten Beispiele hinaus sicherlich noch Handlungsbedarf. So schaffen wir durch unser neues Präventionsprogramm, das mit Beratungs- und Betreuungsprogrammen ausdrücklich auf den Abbau von Benachteiligungen und die Schaffung positiver Lebensbedingungen zielt,

vorbeugende Hilfen in belastenden Situationen. Es wird bestimmt dazu beitragen, abweichendem Verhalten, Schulversagen und Absentismus entgegenzuwirken.

Bei einer Tagung des Kultusministeriums am 23. September 1999 sind Wissenschaftler und Praktiker zu diesem Thema eingeladen gewesen, aber auch Vertreter der kommunalen Spitzenverbände, der Eltern und der Bezirksregierungen. Das Ministerium hat Entwicklungstendenzen und Handlungskonzepte gut diskutiert und auch Möglichkeiten aufgezeigt. Sie kennen vielleicht die Anregung: An der Fachhochschule Nordostniedersachsen/Universität Lüneburg werden Lehrerinnen und Lehrer sowie Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zu so genannten Präventionsfachkräften weitergebildet. Sie sollen als Tandems im Rahmen der Prävention, ausgestattet mit innovativen Strategien, vor Ort Projekte durchführen. Dies ist ein weiterer Baustein unseres Konzepts, Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe. Auch hier sind wir uns, denke ich, einig.

Bei genauerer Lektüre des Schulverwaltungsblattes hätten Sie auch sehen können, dass im Rahmen des bereits erwähnten Präventions- und Integrationsprogramms der Landesregierung Kooperationsprojekte gefördert werden, die dazu beitragen, präventiv zu wirken. Beginn des Programms ist der 1. Dezember 2000. Voraussetzung für die Genehmigung und Förderung ist die Vorlage eines pädagogischen Konzepts, das in Kooperation mit dem örtlichen Präventionsrat oder, falls dieser nicht existiert, in einem einzurichtenden lokalen Arbeitskreis entwickelt werden soll. Ich meine, mit diesem ressortübergreifenden Ansatz haben wir etwas Richtiges getan und werden wir auch in die Fläche kommen.

Der Antrag sollte Anlass sein, das Gesamtpaket an bereits vorhandenen Maßnahmen in der Ausschussberatung darzustellen - das ist, meine ich, notwendig, weil wir offensichtlich auch gegenseitigen Informationsbedarf haben -, zu sichten und dort die Instrumentarien zu schärfen, wo wir meinen, dass dies noch notwendig ist.

Unsere Dokumentation der Tagung „Schulverweigerung, Absentismus und Schulschwänzen“ zeigt einige Lösungswege für das Schärfen der Instrumentarien auf. Nur eines - Herr Meinhold hat das ebenfalls erwähnt - werden wir nicht machen: Einfache Rezepte „Eingreifen statt Wegsehen“ werden nicht zu Lösungen führen können. Dieses

Motto, Frau Vockert, sollten wir gemeinsam gegen Gewalttaten verwenden. An der Stelle, wo Menschen manchmal Angst haben, Zivilcourage zu zeigen, ist dieses Motto richtig, aber nicht bei einem solchen komplexen Problem, wie wir es hier vor uns haben. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die vorgesehene Zeitabfolge kommt durch die Verlängerung des letzten Beitrages etwas ins Rutschen. Ich erteile dem Kollegen McAllister zusätzliche Redezeit von drei Minuten.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Ministerin, Bezug nehmend auf Ihren Beitrag möchte ich Sie gerne noch einmal mit einem Zitat Ihres künftigen Ministerkollegen in Niedersachsen konfrontieren. Angesprochen auf die deutlich höheren Prozentwerte von Schulschwänzern in norddeutschen Großstädten wie Hannover im Vergleich zu München und Stuttgart, hat Professor Pfeiffer in der „Panorama“-Sendung vom 6. April 2000 erklärt:

„Wir gehen davon aus, dass im Norden die sozialen Netzwerke weniger dicht gestrickt sind, dass mehr Armut, mehr Zerfall von Familien eine Rolle spielen könnte. Dafür haben wir schon objektive Daten.

Zum Zweiten könnte es aber auch sein, dass die Schulkultur variiert, dass im Süden mehr Wert auf Anwesenheit gelegt wird, mehr Kontrolle ausgeübt wird.“

So weit Herr Professor Pfeiffer.

Christoph Lütgert hat in der Schlussmoderation dieses Beitrags in „Panorama“ ausgeführt - das möchte ich auch zitieren -:

„Mir zumindest gibt es zu denken, dieses auffallende Nord-Süd-Gefälle, das bei den eindeutigen Zahlen nicht weggeredet werden kann. Ist in konservativ regierten Ländern mehr Zug drin? Warum schauen Behörden und Lehrer in SPD-geführten Ländern ein

fach weg, versagen oder resignieren? Wenn bis zu 30 % in einer Klasse unentschuldigt fehlen, können auch noch so progressive Lehrer und Bildungspolitiker zu dieser De-facto-Ausschulung nicht einfach schweigen.“

Das waren jetzt nur Zitate sowohl von Professor Pfeiffer als auch von Herrn Lütgert vom „Panorama“-Magazin des NDR.

Ich meine - das hat der Antrag der CDU-Fraktion deutlich gemacht -, dass das Thema Schulschwänzen ein ernstes Problem in Niedersachsen ist. Ich bin froh und dankbar, dass sowohl Herr Meinhold als auch Sie erklärt haben, dass Sie unser Anliegen grundsätzlich unterstützen und hier etwas auf den Weg bringen wollen. Vielleicht eine Empfehlung: Das Bayerische Innenministerium hat aktuell ein Programm gegen das Problem des Schulschwänzens aufgelegt. Vielleicht können Sie daraus noch die eine oder andere Anregung in Niedersachsen mit einfließen lassen. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat noch einmal der Herr Kollege Meinhold.

(Frau Vockert [CDU]: Wir sind uns einig!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Genau dieser Beitrag ist der falsche. Das Problem des Schulschwänzens ist ernst.

(Klare [CDU]: Das müssen Sie dem Ministerpräsidenten sagen!)

Wer aber meint, mit Zitaten Honig aus diesem ernsten Thema saugen zu können, der zerstört genau das, worum es uns eigentlich geht, nämlich gemeinsam eine Debatte zu machen. Es geht überhaupt nicht darum, ob es möglicherweise in der einen Stadt weniger als in einer anderen Stadt sind. Das ist gar nicht das Thema. Es ist schon einer zu viel. Unsere Debatte, um die es hier gehen muss und die wir auch wollen, ist - das ist meine Anregung gewesen; die Ministerin hat das entsprechend unterstützt -, dass wir es gemeinsam angehen und versuchen, Hilfestellung zu geben. Aber, Herr

McAllister, lassen Sie diese parteipolitische Geschichte des Versuchs des Honigsaugens heraus!

(Zustimmung bei der SPD)

Sonst würde ich Sie bitten, hier in Zukunft bei anderen Themen auch mal eine Reihe von anderen „Panorama“-Beiträgen zu zitieren, die in die genau umgekehrte Richtung gehen.

Also noch einmal die klare Ansage: Das ist ein ernstes und wichtiges Thema. Da geht es nicht um Quantitäten, sondern um den einzelnen jungen Menschen, dem wir helfen wollen. Dabei sollen die Schulen eine angemessene Unterstützung durch uns erfahren. Das ist die richtige Richtung. Alles andere sollten wir lassen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin Litfin erhält für ihre Fraktion zwei Minuten zusätzliche Redezeit. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Meinhold, ich denke, der CDU-Fraktion kommt es hier nur darauf an, darauf hinzuweisen, dass die Regierungsfraktion vielleicht mit einem zukünftig Regierenden und dessen Meinung zu diesem Thema Probleme kriegen kann, weil er hier ein abweichendes Verhalten an den Tag gelegt hat.