Ich komme zurück auf den Punkt, der meines Erachtens der Schwerpunkt ist. Das ist der Bereich der erwachsenen Illiteraten der funktionalen Analphabeten.
- Nein. Ich bin nicht dafür, dass wir das Problem zu den Akten legen. Ich finde aber, dass es keinen Sinn macht, das Problem unter der Überschrift zu diskutieren, dass das hier ein Armutszeugnis ist.
Ich stelle infrage, dass die Zahl der funktionalen Analphabeten gestiegen ist. Ich setze dagegen, dass wir diesem Problem gegenüber vermutlich einfach aufmerksamer geworden sind und genauer hinsehen. Deswegen kommt es uns so vor, als ob die Zahl der Analphabeten gestiegen ist. Ich will die Situation damit nicht verniedlichen.
Auch die Klage der Arbeitgeber, dass die Schulabgänger immer schwächer werden, stelle ich infrage. Ist es nicht so, dass die Anforderungen an Ausbildungsanfänger und überhaupt an Leute, die eine Ausbildung antreten, erheblich gestiegen sind? Es gibt kaum noch einen Ausbildungsberuf, in dem Lesen und Schreiben nicht als eine der wesentlichen Grundlagen genannt werden. Früher
gab es durchaus Berufe, in denen das nebensächlich war. Hier sollten wir also Ursache und Wirkung und auch die Zahlen entsprechend in das richtige Licht rücken.
Es wird auch gesagt, dass die Schülerinnen und Schüler einen gesunkenen Wortschatz hätten. Dazu gibt es aber auch ganz andere Aussagen. Es wird nämlich auch gesagt, dass der Wortschatz unserer Jugendlichen erheblich erweitert, sehr viel umfangreicher und differenzierter geworden ist. Das lässt sich meines Erachtens auch nachvollziehen, denn Kindern werden von den ersten Tagen an sehr viel mehr Worte, Bilder und Anregungen über Radio, Fernsehen und die beliebten Kassetten vermittelt als früher, sodass ich infrage stelle, dass der Wortschatz geringer geworden ist.
(Frau Mundlos [CDU]: Wir können ja einmal eine Untersuchung dazu ma- chen! Dann haben wir die Daten!)
Ich meine, dass die Anforderungen, sich in Schrift und Wort auszudrücken, sehr viel stärker geworden ist. Das sollten wir unterstreichen.
Zuallerletzt noch eine Bemerkung, wenn es erlaubt ist, Frau Präsidentin: Was diese vielzitierten Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen anbetrifft, so bin ich überzeugt, dass sie in der Zukunft nicht ausreichen werden. Wir werden einen sehr viel umfangreicheren Katalog an Kulturtechniken erlernen müssen. Ich nenne nur Stichworte. Es werden hinzukommen die Fähigkeit zur Entschlüsselung der vielen Bilder, die auf uns einwirken und die ins richtige Licht gesetzt werden müssen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Das Handhaben von Technologien wird eine grundlegende Kulturtechnik sein. Das Benutzen mindestens einer Fremdsprache halte ich für genauso schwierig. Das alles wird das Buch, das Lesen
Lassen Sie uns gemeinsam in diese Richtung arbeiten, aber nicht unter dem Stichwort Armutszeugnis, sondern unter dem Stichwort, dass wir uns auf den Weg gemacht haben und hier noch einiges zu tun ist. - Herzlichen Dank.
Danke schön, Frau Kollegin Wiegel. - Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Litfin hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl die Kultusministerin hat in ihrer Antwort als auch Frau Kollegin Wiegel in ihrer Stellungnahme für die Regierungsfraktion darauf hingewiesen, dass es in Zukunft immer wichtiger werden wird, dass alle Menschen fließend lesen und möglichst auch fließend schreiben können.
Die Antworten in der schriftlichen Antwort der Landesregierung sagen allerdings nicht aus, was die Landesregierung gedenkt, hier in Zukunft mehr zu tun, Programme zu intensivieren oder neue Programme aufzulegen. An der Stelle, an der die CDU-Fraktion fragt, wo die Landesregierung die Priorität sieht, sagt uns die Landesregierung eigentlich nur, welche Untersuchungen zurzeit laufen. Denn PISA, Frau Wiegel, ist nur eine Untersuchung, die uns Auskunft darüber geben wird, wie das Leseverständnis unserer Kinder in einem gewissen Alter ausgeprägt ist. Daraus ergeben sich noch keine Maßnahmen. Wir werden nur - wieder einmal - erfahren, dass wir nicht an der Spitze der Bildungsnationen stehen, sondern, wenn wir Glück haben, im guten Mittelfeld. Das wäre ja ganz nett und damit könnten wir auch schon zufrieden sein. Ich fürchte aber, dass wir bei PISA genau da landen, wo wir bei TIMSS gelandet sind. Das heißt, die Handlungsfelder, die wir haben, sind gigantisch. Es ist eben nicht so, Frau Wiegel, dass wir hauptsächlich im Erwachsenenbereich handeln müssen - das müssen wir, da muss intensiviert werden -, sondern wir müssen präventiv arbeiten,
das heißt, wir müssen verhindern, dass es in Zukunft noch Kinder gibt, die unser Schulsystem durchlaufen und am Ende dieser ihrer Schulpflicht nicht ausreichend lesen und schreiben gelernt haben.
- Was hat den z. B. „Berufsbildende Schule 2000“ und „N 21“ - Computerausstattung an niedersächsischen Schulen - mit Analphabetismus zu tun?
Genauso wenig wie die Verlässliche Grundschule werden diese Maßnahmen gegen Analphabetismus helfen. Aber es ist die Art und Weise der Landesregierung, jegliche ihrer kleinen Reförmchen bei jeglichem Thema als Allheilmittel zu verkaufen wahrscheinlich auch noch gegen Rheuma oder gegen Fußpilz.
Weil die Kollegin Wiegel gesagt hat, Sie wollten im Erwachsenenbereich den Schwerpunkt legen, frage ich: Wie gehen wir denn mit den Menschen um, die diese schwierige Arbeit an den Volkshochschulen oder an den anderen Bildungseinrichtungen leisten? - Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Niedersachsen noch nicht einmal eine Ausbildung für die Alphabetisierer und Alphabetisiererinnen, die eine schwere, sehr sehr anspruchsvolle Arbeit leisten. Sie ist so schwer, dass viele Lehrer und Lehrerinnen, die in den erwähnten BVJ-Klassen arbeiten, sagen, dass sie nicht in der Lage seien, mit den Jugendlichen, die zu ihnen kämen und die manchmal sogar einen Hauptschulabschluss hätten und trotzdem funktionale Analphabeten seien, das nachzuholen, was in den vergangenen Jahren versäumt worden sei, weil sie keine ausreichende Kompetenz dazu hätten.
Dazu braucht man nämlich andere als die eines durchschnittlichen Deutschlehrers oder einer durchschnittlichen Deutschlehrerin.
Diejenigen, die wir in den Erwachsenenbildungseinrichtungen beschäftigen, sind dort meistens stundenweise auf der Basis von Honorarverträgen tätig. Sie werden nur für die erteilten Unterrichtsstunden bezahlt, nicht jedoch für die Vorbereitungs- oder die Nachbereitungszeit. Sie sind nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das heißt, sie alle werden einmal der Altersarmut anheim fallen. Sie haben also keine soziale Absicherung. An diesen Beispielen sieht man, welchen Stellenwert wir diesem Problem insgesamt einräumen.
Ich möchte jetzt noch einmal auf die relativ jungen Kinder zurückkommen. Die CDU hatte eine Frage zur Förderung in den Kindertagesstätten gestellt, die natürlich nicht so gemeint war, wie sie die Landesregierung - meiner Meinung nach ziemlich fies - ausgelegt hat. Es ging nicht darum zu sagen, dass Kinder nun auch schon im Kindergarten Lesen und Schreiben lernen sollten. Um Gottes Willen. Vielmehr war danach gefragt worden, welche Frühfördermaßnahmen in den Fällen ergriffen werden, in denen in der Kita festgestellt wird, dass bei dem einen oder anderen Kind bezüglich des Sprachverständnisses oder der Artikulation irgendetwas im Argen liegt. Welche Präventionsmaßnahmen ergreifen wir in der Kindertagesstätte? Im Zusammenhang damit müssen wir auch darauf achten, dass in Zukunft gerade Kinder aus benachteiligten Familien Kindertagesstätten besuchen; denn es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Anregungsreichtum des Elternhauses und der Leistungsfähigkeit der Kinder. Das ist inzwischen erwiesen. Das kann niemand mehr in Abrede stellen. Wir müssen also schon sehr, sehr früh anfangen.
Außerdem muss es uns gelingen, in den Primarbereich und auch in den Sekundarbereich der Schulen mehr Mittel hineinzugeben, damit Kinder und Jugendliche ein festes Fundament bekommen, auf dem sie später aufbauen können. Wenn wir nun bereit wären, für die Primarstufe mehr Geld auszugeben und in der Primarstufe jedem Kind seine individuelle Lernzeit zu lassen, dann hätten wir eine richtig gute Präventionsmaßnahme gegen Analphabetismus - was auch immer es für einer sein sollte - ergriffen.
Meine Damen und Herren, Frau Ministerin Jürgens-Pieper hat noch einmal um das Wort gebeten. Bitte schön, Frau Ministerin!
Frau Litfin, ich möchte hier für die Volkshochschulen und diejenigen, die in den Alphabetisierungskursen tätig sind, zurückweisen, dass sie nicht einmal eine Ausbildung haben. Wir beschäftigen dort sehr viel hauptamtliches pädagogisches Personal. Daneben gibt es dort Honorarkräfte, die vielfach auch noch diejenigen Lehrkräfte sind, die Sie angesprochen haben. Insofern ist das, was Sie bezüglich der Qualitätsstruktur gesagt haben, falsch.
Frau Ministerin, ich denke, Sie haben mich falsch verstanden. Ich wollte nicht die Arbeit derjenigen, die Alphabetisierung betreiben, abwerten. Ich weiß nämlich, dass die eine sehr, sehr gute Arbeit leisten und sich die zusätzlichen Kompetenzen selbst erworben haben. Wissen Sie, dass es in Belgien oder in Holland staatlich finanzierte Ausbildungsgänge für Alphabetisierer und Alphabetisiererinnen gibt? Sind Sie bereit, so etwas auch in Niedersachsen zu etablieren?
Ich kann Ihnen nur sagen: Ich habe Sie missverstanden. Sie wollten die Arbeit an unseren Volkshochschulen also nicht in Misskredit bringen. Ansonsten sage ich Ihnen, dass wir an diesen Schulen hoch qualifizierte hauptamtliche Erwachsenenausbilder haben. Müssen wir hier nun aber noch steigern? - Wir liegen hier - ich habe Ihnen das dargestellt - an der Spitze aller Bundesländer schlechthin. Ob wir jetzt aber auch noch an die
Spitze der europäischen Länder gelangen wollen, wäre noch nachzuprüfen. Ich meine aber, dass die Alphabetisierungskurse in der Erwachsenenbildung von guter Qualität sind.
Frau Präsidentin! Ich bin der Meinung, dass man die Leistungen der Volkshochschulen und auch vieler anderer Einrichtungen im Bereich der Erwachsenenbildung durchaus lobend anerkennen kann. Dort gibt es sehr viele Menschen, die sich sehr viel Mühe geben und versuchen, den Betroffenen zu helfen. Bleiben wir aber einen Moment lang beim Stichwort „Prävention“. Ich habe Sie ja auch bezüglich der Leseförderung und der Lesebusse gelobt, weil ich das positiv finde. Dann sage ich das hier vorn auch und versuche ganz bewusst nicht, immer nur kontra zu geben.
Bei allem Wohlwollen muss ich nun aber sagen: Im Kindergarten und in der Grundschule findet eine Prävention nicht in dem gebotenen Maße statt. Wir müssen sehen, dass es in Niedersachsen pro Jahr 20.000 Schülerinnen und Schüler gibt, die die Hauptschule ohne Abschluss oder mit der Note mangelhaft im Fach Deutsch verlassen. Das ist die potentielle Risikogruppe der funktionalen Analphabeten. Dahinter stehen Menschen. Das sind Schicksale. Diesen Menschen müssen wir helfen. Wir müssen hier aber schon frühzeitig anfangen, nämlich im Kindergarten. In der heutigen Zeit gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Fast alle Kinder gehen dorthin. Dort kann man frühzeitig aufdecken, wer betroffen ist und bei wem die Sprachentwicklung verzögert eingetreten ist. Diesen Kindern können wir nachhaltig helfen. Damit dies gelingt, müssen aber andere Maßnahmen greifen, als dies bisher der Fall ist. Deshalb bitten wir Sie, auf diesem Gebiet aktiv zu werden und nicht immer nur auf das hinzuweisen, was Sie alles schon getan zu haben glauben. Hier sind nämlich Rechte von Bürgern beeinträchtigt. Wenn wir die Existenz funktionaler Analphabeten zulassen, dann lassen wir auch zu, dass Menschen ihre demokratischen Rechte nicht in dem gebotenen Maße wahrnehmen können. Gerade wir als Parla