Protokoll der Sitzung vom 14.11.2001

Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir zu moderateren Tönen kommen. Ich habe vor ein paar Tagen mit Herrn Busemann beim NDR diskutiert. Hinter

her war die Reaktion der Zuhörer: „Das war endlich eine sachliche und ruhige Debatte und der Sache und Kompliziertheit des Themas angemessen“.

(Plaue [SPD]: Herr Busemann hat wohl nichts gesagt! - Gegenruf von Busemann [CDU]: Das lag an mir, weil ich dabei war!)

- Ja, er hat sich an dieser Stelle offensichtlich Mühe gegeben. Ich hoffe, das wird bei den Gesprächen ähnlich sein.

Wir werden deshalb in nächster Zeit unseren Strukturvorschlag entweder gemeinsam mit Ihnen noch einmal durchgehen, oder alleine entscheiden. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD)

Folgendes hat sich gezeigt: Die unzureichende Förderung der leistungsstarken und leistungsschwachen Schüler ruft Änderungsbedarf hervor. Zu der ausgeprägten Selektivität durch das A-, B-, C-Kurssystem möchte ich deutlich sagen - ich habe Ihnen das auch schon im Gespräch gesagt -: Natürlich ist das gegliederte Schulwesen auch selektiv. Aber dass wir feststellen müssen, dass die Kurseinstufungen noch selektiver wirken, treibt uns um. Deshalb müssen wir auch über innere Reformen der fünften und sechsten Klassen an dieser Stelle nachdenken. Die restriktive Schulempfehlung ist bereits genannt worden. Zum Teil wird sie durch den Elternwillen korrigiert, aber nur zum Teil. Das reicht nicht aus. Die regionalen Unterschiede sind ebenfalls genannt worden. Ich weiß, dass Sie das piekt, denn es sind relativ viele Schulträger aus dem westlichen Niedersachsen dabei. Wir müssen darüber reden, wie Schulentwicklungsplanung demnächst verpflichtend gemacht wird. Ich finde, dieses Thema müssen wir miteinander diskutieren, denn die Gutachter stellen fest: Die Chancengleichheit der Kinder in diesen Landkreisen ist nicht mehr gegeben. Das muss uns alle umtreiben. Die gymnasialen Angebote fehlen. Ich bin gerne bereit - ich habe das auch schon signalisiert -, mit Ihnen über Gymnasium bis Klasse 10 und über gymnasiale Zweige an HS-/RSSystemen zu reden. An dieser Stelle ist alles möglich. Wir brauchen mehr gymnasiale Angebote im Lande, sonst kommen unsere Kinder zukünftig nicht zurecht.

(Beifall bei der SPD)

Der Vorschlag sieht vor, genau diese Themen aufzugreifen. Wir haben im Haushaltsplan 2002/2003 eine Riesenanstrengung unternommen. Gegenüber dem Haushaltsjahr 2000 stehen für die Bildung 310 Millionen DM mehr zur Verfügung. Das ist angesichts des Konjunktureinbruchs und angesichts der wegbrechenden Steuereinnahmen eine gewaltige Leistung für die Schulstrukturreform und für die Unterrichtsversorgung. Beides ist wichtig und gehört an dieser Stelle zusammen.

Die Eckpunkte sind bereits von Frau Seeler genannt worden. Ich will nur noch auf einen genauer eingehen. Die Steigerung der Abiturquote ist für Niedersachsen eine wichtige Zukunftsaufgabe. In Niedersachsen machen nur 23,5 % der Kinder Abitur.

(Klare [CDU]: Aber auch unter Qua- litätsgesichtspunkten, Frau Ministe- rin!)

- Selbstverständlich unter Qualitätsgesichtspunkten. - Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Wenn der Kollege Rößler hierher kommt und sein Modell, Abitur nach zwölf Jahren, vorstellt, dann werde ich mit Ihnen hinterher einmal intern über die Qualitätsprobleme in Sachsen diskutieren. Wir haben nämlich gerade die Qualität verglichen. Die Abiturquote muss erhöht werden. Das heißt, wir müssen mindestens den Länderdurchschnitt erreichen, und der liegt bei 27,4 % und nicht bei 23,5 %. Qualität ist natürlich damit verbunden. Aber wir müssen insgesamt feststellen: Auch die Länder, die eine höhere Abiturquote haben, schneiden im Schülerleistungsvergleich besser ab als wir. Schauen Sie in die skandinavischen Ländern. Dort ist die Abiturquote wesentlich höher.

Ich finde, es ist notwendig, das Angebot, Abitur nach zwölf Jahren, flächendeckend in Niedersachsen einzuführen. Das heißt, jedes Gymnasium und jede Gesamtschule soll künftig dieses Angebot machen können. Im Einzelnen werden wir alle Grundschulen verlässlich machen. Alle Grundschulen sollen einen Förderplan für jedes Kind erstellen. Das heißt, die Grundschule soll sich an den Kindern orientieren, aber auch leistungsorientierter werden.

(Frau Ernst [CDU]: Mit dem bisschen Unterricht?)

Diese Förderpläne werden in den weiteren Schulstufen fortgeschrieben. Die Orientierungsstufe wird - wie gesagt - abgeschafft. An ihre Stelle tre

ten die Schulen und führen eine Förderstufe als festen Bestandteil. Dieses wird zusammen mit ihrem Schulprogramm verankert. Die Förderstufe muss vom Schulträger an den Gymnasien, an den kooperativen Gesamtschulen und an den kooperativen Haupt- und Realschulen eingerichtet werden. Das heißt, sie ist Bestandteil dieser Schulen als Eingangsstufe. Herr Busemann, Sie müssen sich einmal ansehen, wie das in anderen Bundesländern aussieht. Wir geben deshalb unsere solitäre Stellung auf und nähern uns mit dieser Schulstruktur den anderen Bundesländern deutlich an.

Der Elternwille ist bei Ihrem Modell genauso frei wie bei unserem Modell. Das heißt, wir müssen uns auch darüber unterhalten, wie die Schülerströme anschließend gelenkt werden. Das ist ein Problem, das in Ihrem und in unserem Modell besteht. Deshalb werden wir durch die Schulträger Kapazitäten festlegen lassen müssen. Das wird bei Ihnen genauso sein. Deshalb können Sie uns an dieser Stelle eigentlich nur unterstützen.

Die Förderstufen erhalten ein neues Förderkonzept. Wir haben dafür Geld im Haushalt: 30 Millionen Euro jährlich ab 2004. Das, was Sie in Ihrem FünfPunkte-Programm formuliert haben Durchlässigkeit gewährleisten, in der Förderstufe nach gleichen pädagogischen Grundsätzen unterrichten -, werden wir in der Förderkonferenz institutionalisieren. Auch diesem Vorschlag können Sie eigentlich nur zustimmen. Durch diese Festlegungen soll die Förderkonferenz dann auch die Durchlässigkeit gewährleisten. Eltern sollen dort Mitspracherechte bekommen.

Wir wollen Wettbewerb, wir wollen Wettbewerb um Qualität. Deshalb sollen die Eltern diese Förderstufen und diese Schulform wählen dürfen. Das bedeutet natürlich auch, dass sie Standorte wählen dürfen. Wir werden mit den Schulträgern darüber reden, wie es um die Transportkosten steht. Sie kennen das Problem, das sich uns bei der letzten Schulgesetznovelle gestellt hat: Um Transportkosten zu minimieren, haben die Schulträger Schuleinzugsbereiche gebildet. Ob das an bestimmten Stellen weiterhin notwendig ist, werden wir mit ihnen beraten und sorgfältig abstimmen.

Sie wissen, wir wollen die kooperative Haupt- und Realschule als Regelschule. Wir werden ihr eine neue Ämterstruktur, eine didaktische Leitung gegeben. Der HS-Zweig und der RS-Zweig sollen Profile bilden.

Insgesamt werden die Eltern nach Klasse 6, nach Beratung durch die Klassenkonferenz und den Beratungslehrer, die Schullaufbahn ihres Kindes selbst bestimmen. Ich glaube, das Gutachten lässt nichts anderes zu. Sie sehen, wie wichtig uns der Elternwille ist. Wir korrigieren uns also an dieser Stelle - das sage ich ganz deutlich - und halten den Elternwillen ausdrücklich frei. Ich denke, das wird auch auf Zustimmung beim Landeselternrat und im ganzen Lande stoßen.

Alle niedersächsischen Gymnasien und Gesamtschulen - ich habe es gesagt - erhalten als Regelangebot die Möglichkeit, nach Klasse 12 das Abitur machen zu lassen. Dazu werden Profilklassen eingerichtet. Sie kennen dieses Modell aus einigen Bundesländern. Wir wollen das so organisieren, dass von Klasse 10 direkt in das Kurssystem hineingegangen und die Klasse 11 übersprungen werden kann. Organisatorisch ist das für die Schulen leicht zu regeln. Damit werden wir, glaube ich, bei den Eltern und Schülern erfolgreicher sein als mit den jetzigen Modellversuchen, weil dort die soziale Gruppe jeweils neu gebildet werden muss.

Gestatten Sie mir abschließend noch einige Worte dazu, wie das Gutachten die Vorschläge der anderen Fraktionen bewertet. Zunächst zu den Vorschlägen der Grünen: Die sechsjährige Grundschule ist in Niedersachsen aufgrund der Schulstruktur nicht einführbar. Das sagen die Gutachter ganz klar. Die Kosten für Schulbauten und für Lehrerstellen wären viel zu hoch. Im Übrigen müssten wir Grundschulen dichtmachen und unsere Grundschulstruktur verändern. Dafür sind wir nicht. Wir wollen weiterhin kurze Wege für kurze Beine.

Das CDU-Modell bewerten die Gutachter von den Kosten her genau so wie unser Modell. Die finanziellen Auswirkungen auf Kommunen und Land wären ähnlich. Bildungspolitisch gesehen schöpft das CDU-Modell die Bildungsreserven im ländlichen Bereich aus meiner Sicht aber nicht aus. Es ist zu befürchten, dass die Abiturquote fällt. Sie werden einen deutlichen Ganztagsbedarf an den Gymnasien haben.

Wie gesagt: Wir wollen kein Zurück in die Schullaufbahnentscheidung nach Klasse 4, meine Damen und Herren. Deshalb noch einmal: Wir streben einen Konsens an, aber es gibt bestimmte Essentials und Eckpunkte, die wir nicht aufgeben wollen. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank. - Frau Kollegin Litfin, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst zum Kollegen Busemann. Es ist mir schwer gefallen, Ihrer Rede zu folgen. Das lag vor allen Dingen an der Art und Weise Ihres Vortrags. Ich frage mich die ganze Zeit: Haben Sie eigentlich noch mehr gefordert als eine Regierungserklärung des Ministerpräsidenten? - Ich würde davor warnen. Denn vielleicht folgt dieser Regierungserklärung ja mehr, wenn ich an die Beschlüsse der SPDUnterbezirke in Niedersachsen denke, die alle gesagt haben, die Orientierungsstufe solle erhalten bleiben.

(Mühe [SPD]: Alle? - Mein Unterbe- zirk hat das nicht beschlossen!)

Vielleicht kommt dann ja auch noch die Vertrauensfrage gekoppelt mit der OS-Frage auf uns zu. Ich meine, wir sollten mit dem Auffahren solch starker Geschütze ein bisschen vorsichtiger sein.

Dass Niedersachsen bei Leistungsvergleichen die rote Laterne hat, trifft nicht zu, jedenfalls nicht bei bundesrepublikanischen Leistungsvergleichen. Das mag allenfalls bei Leistungsvergleichen mit ausländischen Schülern und Schülerinnen der Fall sein. Das gilt dann aber für die gesamte Bundesrepublik. Dort schneiden wir alle ziemlich miserabel ab, da nimmt kein Bundesland eine besondere Stellung ein.

Fast die rote Laterne haben wir aber bei den Schülern und Schülerinnen, die unsere allgemein bildenden Schulen mit der Hochschulzugangsberechtigung verlassen. In dieser Hinsicht sind nur noch die Bayern schlechter - mit dem von Ihnen so hoch gerühmten und hochgelobten System.

Die Debatte heute Morgen hat für mich ergeben, dass wir uns eigentlich einig sein müssten, dass es darum geht, Bildungsreserven zu erschließen.

(Ministerpräsident Gabriel: So ist es!)

Das kann man aus verschiedenen Perspektiven begründen. Meine Fraktion und ich, wir begründen es aus demokratischen Erwägungen heraus, wir

begründen es mit Chancengleichheit. Die Kollegin Silva Seeler hat das auch getan.

Der Kollege Busemann hat dazu leider nichts gesagt. Aber er mag es begründen mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, die immer mehr qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen braucht. Auch an diesem Punkt, wenn wir das also mit der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik und in Niedersachsen verbinden, kommen wir dazu, dass wir sagen: Wir müssen Bildungsreserven erschließen, das muss unser gemeinsamer Ausgangspunkt sein.

Wenn es aber stimmt, dass der Ministerpräsident mit seinen Vorschlägen, die er ja heute Morgen auch in der HAZ veröffentlicht hat, tatsächlich Bildungsreserven erschließen will, kann ich nur konstatieren, dass hier ein Ziel-Mittel-Konflikt vorliegt. Mit diesen neuen Vorschlägen, die fast haargenau seine alten sind, wird es der Ministerpräsident bzw. wird es die SPD-Regierungsfraktion nicht schaffen, das Schulwesen so zu verändern, dass die Bildungsreserven insbesondere in den ländlichen Bereichen erschlossen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich sehe in den Vorstellungen des Ministerpräsidenten und auch in dem, was die Kultusministerin hier gesagt hat, vor allen Dingen einen Strang. Es geht ihnen darum, Kinder und Jugendliche in die Lage zu versetzen, in zwölf Jahren das Abitur zu erreichen. Dagegen ist nicht zu sagen. Aber das werden diejenigen sein, die auch schon jetzt aus den bildungsnahen Elternhäusern kommen, die also nicht dazu beitragen werden, dass die Spitze in Niedersachsen breiter wird.

Ich sehe aber überhaupt keine Maßnahmen, die dafür sorgen, dass diejenigen, die im Bildungswesen benachteiligt sind, diejenigen, die aus bildungsfernen Elternhäusern kommen, die zu Hause nicht oder nicht ausreichend gefördert werden können, in der neuen Struktur, die ja auch sagt, wir selektieren möglichst früh, besser gefördert werden als in der alten Struktur. Für mich bleibt an dieser Stelle alles beim Alten: Es geht nicht darum, zu versuchen, das Ungleiche gleicher zu machen und Kindern, die aus ihren Elternhäusern heraus keine Chance haben, Chancen zu geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Hier widersprechen die Vorschläge des Ministerpräsidenten auch dem DIPF-Gutachten. Das DIPF

Gutachten hat gesagt, wir sind gerade deshalb so schlecht und haben gerade deshalb die rote Laterne bei hohen und hören Bildungsabschlüssen, weil wir zu stark außendifferenzieren, weil wir zu früh selektieren. Denn die Selektion findet schon sehr viel früher statt als erst nach sechs Jahren; das hat das Gutachten eindeutig festgestellt.

Das Gutachten legt uns nahe, unsere Schulen in die Lage zu versetzen, mit mehr Binnendifferenzierung zu arbeiten. Dazu habe ich hier kein Wort gehört. Das wird jedoch nicht allein dadurch gelingen, dass wir die fünfte und sechste Klasse in „Förderstufe“ umbenennen und die eine Förderstufe per Losverfahren oder sonst wie an die Hauptschule anbinden, die andere an ein kombiniertes System, die dritte an eine Realschule und die vierte an ein Gymnasium. Was ändert sich denn dadurch im Vergleich zur heutigen Situation? - Überhaupt nichts!

Unser aller Kraft sollte darauf gerichtet sein, in den Schulen etwas zu ändern und darauf zu achten, dass in Klasse 5 der Orientierungsstufe das gemacht wird, was seit Jahr und Tag im Niedersächsischen Schulgesetz steht, nämlich binnendifferenziert unterrichten.

Wir sollten uns auch angewöhnen, über den Tellerrand hinaus zu gucken. Die Frau Ministerin hat hier die hervorragenden Ergebnisse unserer europäischen Nachbarn, insbesondere der skandinavische Nachbarn, mit ihren Schulsystemen erwähnt. Das sind Schulsysteme, die sehr lange integrativ arbeiten und erst nach neun oder zehn Jahren die Jugendlichen voneinander trennen und sie in Weiterbildungsgänge geben. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bei dem jetzt vorgestellten Modell besteht die Gefahr, dass wieder das passiert, was die Gutachter des DIPF völlig zu Recht monieren, nämlich dass das einzelne System versucht, sich zu erhalten. Das heißt, eine Förderstufe, die mit einer Hauptschule verbunden ist, wird viele Hauptschulempfehlungen aussprechen, weil - das ist im systemischen Denken auch so verankert - Systeme immer dazu neigen, sich zu erhalten. Diesen Jugendlichen haben wir nicht geholfen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Genauso wird es bei den kombinierten Realschulen und Hauptschulen sein. Allenfalls bei den Gymna