Protokoll der Sitzung vom 26.06.2003

Drittens. Die verbindliche Aufnahme der Grundrechtecharta stärkt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den europäischen Institutionen.

Viertens. Die stärkere politische Anbindung der Kommission an das Europäische Parlament bei der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Stärkung der Mitspracherechte des Europäischen Parlaments machen die EU ein Stück weit demokratischer.

Fünftens. Die Errichtung eines öffentlich tagenden Legislativrates und die durch die Bestimmungen von Kompetenzkategorien übersichtlichere Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten verbessern die Transparenz Europas.

Sechstens. Mit der Reduzierung der Größe der Kommission mit der möglichen Schaffung eines Außenministers und eines Präsidenten des Rates wird die EU handlungsfähiger.

Siebtens. Zur Abgrenzung der Handlungsbefugnisse der EU wird das Subsidiaritätsprinzip gestärkt.

Achtens. Bei wichtigen nationalen Politikfeldern im Bund und auch bei uns im Land Niedersachsen wird in der Verfassung ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot verankert.

Neuntens. Die Verfassung achtet erstmals rechtsverbindlich die regionale und kommunale Selbstverwaltung sowie den Status der Kirchen und Re

ligionsgemeinschaften, ein Thema, für das wir uns in Niedersachsen immer stark eingesetzt haben.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Allerdings ist es nicht gelungen, die Kompetenzen auf europäischer Ebene zurückzuführen. Das ist schade. Die allgemeinen und speziellen Koordinierungszuständigkeiten der EU in der Wirtschaftsund Sozialpolitik sind leider ungenau formuliert. Es muss verhindert werden, dass es zu einer zentralen Steuerung der Wirtschaftspolitik kommt. Bei den Eigenmitteln müssen nicht nur die finanziellen Obergrenzen, sondern auch das Verhältnis der Eigenmittelquellen zueinander - z. B. der Anteil der Mehrwertsteuer oder der Bruttosozialproduktsquelle an den Eigenmitteln - der Einstimmigkeit unterliegen, um die finanziellen Risiken für Deutschland zu begrenzen.

Beim Klagerecht der nationalen Parlamente gehen wir hoffentlich alle davon aus, dass dieses Recht auch die Rüge von Verletzungen der Kompetenzordnung umfasst.

Schließlich muss nötigenfalls im Verhältnis zwischen Bund und Ländern sichergestellt werden, dass sich das Recht der Länder bei Betroffenheit ihrer Zuständigkeiten, Deutschland im Ministerrat zu vertreten, nicht nur auf den Legislativrat beschränkt.

Meine Damen und Herren, in den nächsten Wochen und Monaten werden die Teile 3 und 4 des Verfassungsvertrages im Konvent abschließend beraten werden. Für uns als Christdemokraten ist dabei entscheidend, dass folgende gemeinsame Positionen vertreten werden.

Erstens. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Maß der Einwanderung und für den Zugang zum Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige soll festgeschrieben werden. Nötigenfalls sind diese Bereiche in der Einstimmigkeit zu belassen. Das ist für uns in Deutschland als Einwanderungsland Nr. 1 in der Europäischen Union ganz wichtig.

Zweitens. Die Binnenmarktklausel muss präzisiert und auf Maßnahmen beschränkt werden, welche primär und unmittelbar die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.

Drittens. Durch die Erweiterung der Spielräume der Mitgliedstaaten zur Gestaltung einer eigenständigen Strukturpolitik soll das Wettbewerbsrecht dahin gehend verändert werden, dass Beihil

fen generell mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, soweit sich die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse spürbar zuwiderläuft.

In der Energiepolitik sollte es bei der bisherigen binnenmarktbezogenen Zuständigkeit bleiben. Eine neue Zuständigkeit der Europäischen Union für die Bestimmung der Ausgestaltung von Leistungen der Daseinsvorsorge sollte unserer Auffassung nach nicht in den Vertrag aufgenommen werden.

Meine Damen und Herren, zum Schluss: Die bisher beschlossenen Teilentwürfe für eine europäische Verfassung sind ein Erfolg für Europa. Der Entwurf bringt auf verschiedensten Gebieten Fortschritte, bessere Kompetenzabgrenzungen zwischen Regionen, Nationalstaat und EU. Wichtig ist für uns die ausdrückliche Verankerung des Prinzips der Subsidiarität sowie die Stärkung der Kommission und der direktgewählten Europaabgeordneten. Wir würden uns als CDU-Fraktion aber wünschen, dass sich Europa in der Verfassung ausdrücklich zu seinen religiösen Wurzeln bekennt.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich verweise hierzu auf den Brief unseres Ministerpräsidenten an Giscard d‘Estaing vom 11. Juni. Die christlichen Kirchen in Niedersachsen sehen den Gottesbezug als unverzichtbaren Bestandteil der Präambel an. Viele nationale Verfassungen in Europa enthalten einen Gottesbezug, auch unsere Landesverfassung. Ein eindeutiger Gottesbezug wäre Ausdruck der Wertegebundenheit der Europäischen Union und damit Ausdruck europäischer und christlicher Identität. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Frau Kollegin Merk, bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa und eine gemeinsame Verfassung – das konnte sich vor einigen Jahren niemand von uns vorstellen. Der vorliegende Verfassungsentwurf zeigt uns, dass es einen großen gemeinsamen Willen zu einem umfassenden Zusammenhalt und zu demonstrativer Stärke gibt. Gleichzeitig legt er die Basis fest, auf der sich Bürgerinnen und Bürger sowie deren Regierungen bewegen. Er ist ein massives

Fundament und Regelungswerk, ein Gesellschaftsmodell, das auf Freiheit und Demokratie, Sicherung von Grundrechten, Solidarität und sozialer Marktwirtschaft aufbaut. Dieser Verfassungsentwurf enthält wichtige und notwendige institutionelle Reformen, bietet Transparenz und legt den Grundstein für eine effektivere Arbeit als bisher.

Der Entwurf ist zugleich ein Kompromiss. Nur im Kompromiss, verbunden mit gegenseitiger Achtung und Toleranz, ließ sich ein solches Werk vielen Unkenrufen zum Trotz - erarbeiten. Daher dürfen wir allen Konventmitgliedern Dank sagen. Sie sind zu Recht gelegentlich über den eigenen Schatten und ihre eigenen persönlichen Befindlichkeiten gesprungen, um zum Konsens zu kommen.

Meine Partei und meine Fraktion, die Sozialdemokraten, die sich dem Wort von Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ verpflichtet fühlen, sehen dieses Motto in einer Reihe von Regelungen im Entwurf verwirklicht. Dazu zählt insbesondere die Aufnahme des europäischen Grundrechtskatalogs und damit seine Einklagbarkeit für jede Bürgerin und jeden Bürger. Das haben wir gegen den anhaltenden Widerstand der Konservativen und Liberalen durchgesetzt. Darauf sind wir stolz, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Unterzieht man dieses umfassende Verfassungspaket einer näheren Betrachtung, so können wir feststellen, dass sich in vielen Bereichen die Wünsche und Überlegungen, die wir im Januar dieses Jahres gemeinsam – SPD, CDU und Grüne – in der Beschlussfassung in der Drucksache 14/3687 festgelegt haben, widerspiegeln. Ich betone ausdrücklich den seinerzeit gemeinsam gefassten Beschluss im Konsens und hebe ausdrücklich hervor, dass wir in den vergangenen 13 Jahren in diesem Parlament zu Europa immer zu einer gemeinsamen Beschlussfassung fanden; ganz im Gegensatz zum Verhalten der neuen CDU-FDP-Koalition, die diesen früheren gemeinsamen Weg zu einem großen Europa, den ich hervorragend fand, nicht mehr mitgeht.

(Beifall bei der SPD)

Wir bedauern, meine Damen und Herren, Ihr Verhalten; ganz abgesehen davon, dass Ihr jetzt vorliegender Antrag zum Teil wiederholt, was der Verfassungsentwurf längst enthält. Ihr Antrag enthält aber auch Zumutungen, die wir nicht mitmachen werden, weshalb wir Ihren Antrag ablehnen.

Im Übrigen darf ich Ihnen jetzt schon prophezeien, dass einige Ihrer Überlegungen auch in der Europäischen Union nicht mehrheitsfähig sein werden. Das können Sie schon jetzt aus den Debatten in Europa ablesen. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen deutlich machen.

Sie fordern unter der Überschrift „Europäische Identität – die Grenzen Europas“ – wörtlich, „diese Grenzen klar zu ziehen, verbunden mit dem Angebot von Formen institutionalisierter Kooperation an Staaten wie z. B. die Türkei, die nicht als Vollmitglied aufgenommen werden wollen bzw. werden können“. Pech nur für Sie, meine Damen und Herren, dass der damalige Bundeskanzler Kohl in den Schlussfolgerungen über den Europäischen Rat in Luxemburg vom 12. und 13. Dezember 1997 unter Ziffer 31 über die europäische Strategie für die Türkei Folgendes mitbeschlossen hat:

„Der Europäische Rat bekräftigt, dass die Türkei für einen Beitritt zur Euroäischen Union infrage kommt. Das Beitrittsersuchen der Türkei wird auf der Grundlage derselben Kriterien untersucht wie im Falle anderer Bewerberstaaten.“

Meine Damen und Herren, natürlich hat die Türkei noch eine längere Wegstrecke in ihrer Politik hin zu mehr Demokratie, Wahrung und Achtung der Menschenrecht sowie im Umgang mit Minderheiten zurückzulegen. Wer, wie ich, schon einmal als Abgeordnete in der Türkei verhaftet, verschleppt und misshandelt wurde, weiß, dass wir alle auf dieses Anforderungsprofil größten Wert zu legen haben. Aber Sie können nicht von vornherein die Türkei völlig ausschließen. Ich frage Sie, ob Sie Artikel 1 des Verfassungsentwurfs nicht gelesen haben. Wie heißt es dort klar und deutlich? – Ich zitiere: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, deren Völker die gleichen Werte teilen, diese achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern.“

Gerade das, so meine ich, könnte ein guter Ansatz sein, auf den sich zukünftig die türkische Politik hinzubewegen hat.

Ein weiteres Beispiel. Sie meinen unter Nr. 7 „Geistig-kulturelle und religiöse Wurzeln Europas berücksichtigen“, dass dieses Thema nicht vernachlässigt werden dürfe. Ist es das denn? - Nein, meine Damen und Herren, die Werte der Europäischen Union sind eindeutig in Artikel 2 verankert.

Nach Artikel 5 ist die Charta der Grundrechte integraler Bestandteil dieser Verfassung. Dort wird ebenfalls das Bewusstsein des geistig-kulturellen und sittlichen Erbes Europas betont. Ich frage Sie: Was wollen Sie eigentlich mehr?

Wir sind der Auffassung: Hier fehlt nichts. Es konnte nicht besser formuliert werden. Die geistigkulturellen und sittlichen Werte sind deutlich zum Ausdruck gekommen.

Meine Damen und Herren, es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Paket der Verfassung mit neuen Forderungen zu überfrachten. Wir haben diese Forderungen gerade gehört. Im Übrigen fand ich es spannend, Herr McAllister, dass Sie praktisch ausschließlich die gemeinsame Position von CDU und CSU vom 20. Juni 2003 abgelesen haben. Ich dachte, als Niedersachse hätten Sie vielleicht auch einen eigenen Beitrag zu leisten.

(Hermann Eppers [CDU]: Wie, das haben Sie gemerkt?)

- Ich habe das hier liegen; ich konnte das wörtlich verfolgen. Herr McAllister weiß das auch.

(Hermann Eppers [CDU]: Kompli- ment!)

Ich möchte Ihnen nun noch eine Kostprobe von solchen Nörglern geben, die allerdings außer im rundblick keine Verbreitung gefunden haben, weil sie nicht besonders bedeutsam sind. Ihr Herr Althusmann sagte, es gebe keinen Grund zum Jubeln zum EU-Verfassungsentwurf. Mit solchen Verfassungen, so äußerte er sich, hole man sich ein Trojanisches Pferd ins Land. Wenn jetzt schon über den Entwurf gejubelt werde, habe das wohl nur etwas mit Autorenstolz zu tun.

Mir scheint, der Kollege Althusmann ist eifersüchtig, dass er nicht selbst dabei sein durfte, um dieses Werk mitzugestalten. Derart unqualifizierte Äußerungen zeigen aber auch auf, welche Haltung zur Europäischen Union seinerseits eingenommen wird.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es ist tröstlich, dass solche Stimmen im Konzert der Nörgler bleiben und deswegen nicht ernst genommen werden. Es muss auch klar gemacht werden: Wer solche Spiele betreibt, zerreißt den mühselig geformten Kompromiss. Man kann höchstenfalls Anregungen für die Zukunft geben, aber nicht von Beginn an.

Lassen Sie mich noch Folgendes zu unserem Antrag ausführen: Umfragen, veröffentlicht im Europabarometer 95, belegen, dass nur 63 % der Befragten eine Europäische Verfassung befürworten, 10 % haben sie abgelehnt, 39 % haben gesagt, sie wissen überhaupt nichts oder sie wissen nur wenig. Meine Damen und Herren, Sie können dem Antrag der SPD-Fraktion ganz gelassen und getrost zustimmen; denn wir bejahen Europa, insbesondere ein Europa mit neuen Ländern. Wir bejahen ein demokratisches, soziales Gemeinwesen. Schließlich ist es notwendig, dass Sie gerade die Einrichtung der EZB, die Niedersachsen geschaffen hat, nutzen, damit die Niedersächsinnen und Niedersachsen erfahren, was diese Verfassung ist. Da liegt unser Auftrag. Die Nörgelei sollten Sie bitte lassen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister, Sie haben das Wort. Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf hier in Vertretung von Herrn Ministerpräsident Wulff zu diesen beiden Anträgen sprechen. Er nimmt in Berlin an der Besprechung der Regierungschefs mit dem Bundeskanzler teil. Die Länder wollen sich auf ihrer Tagung mit einer ersten politischen Bewertung des Verfassungsentwurfs zu den Ergebnissen des Konvents positionieren. Der Ministerpräsident – das ist bekannt – hat sich aus diesem Grund für das heutige Plenum entschuldigt.

Der Konvent hat im Europäischen Rat von Thessaloniki am 20. Juni 2003 einen Gesamtentwurf der neuen Europäischen Verfassung vorgelegt. Dieser ist von den Staats- und Regierungschefs als historischer Schritt zur Förderung der Ziele der europäischen Integration begrüßt und als eine gute Ausgangsbasis für die kommende Regierungskonferenz bezeichnet worden. Die Verhandlungen sollen so rechtzeitig abgeschlossen werden, dass der Vertrag so bald wie möglich nach dem 1. Mai 2004 unterzeichnet werden kann. Es ist sicherlich zu früh, die Ergebnisse des Konvents abschließend zu bewerten. Der Entwurf ist noch nicht vollständig. Insbesondere der für die Länder wichtige Teil 3 mit den fachpolitischen Einzelermächtigungen fehlt noch. Gleichwohl lässt sich festhalten, dass der Verfassungsentwurf in denen