Protokoll der Sitzung vom 02.04.2003

Herr Jüttner, kommen Sie bitte zum Schluss!

Ich bin gleich fertig. - Die einen haben seit Jahrzehnten die Dreigliedrigkeit und merken an einigen Stellen, dass es vielleicht nicht hinreicht, und die anderen sind gerade auf dem Weg zurück ins letzte Jahrhundert. Dieser Zug, meine Damen und Herren, muss gestoppt werden. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, zu Wort gemeldet hat sich Minister Busemann. Ich erteile es ihm.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Jüttner, aller Anfang ist schwer. Ich musste das vor einigen Jahren auch durchmachen, aber irgendwann kriegen wir das miteinander schon hin.

Gerade in der Schulpolitik geht es ja auch um intellektuelle Schärfe. Vielleicht können wir uns hier auf eines verständigen: Wenn es Studien gibt, dann warten wir doch bitte erst einmal ab, bis sie da sind, gucken dann, ob wir davon betroffen sind, gucken dann, ob wir etwas daraus lernen können, und setzen das dann miteinander um. Alles schön der Reihe nach und bitte keine Schnellschüsse, die sich im Nachhinein möglicherweise als nicht gerechtfertigt erweisen!

Gerechtfertigt ist allerdings die Auseinandersetzung mit den Ländertabellen von PISA 2000. Die sind Anfang dieser Woche auf den Markt gekommen und offiziell autorisiert worden. Danach sieht

es in Niedersachsen nicht gut aus, Herr Kollege Jüttner, und das hat noch die alte Landesregierung zu vertreten. Ich will - Sie haben das hier zum Teil auch schon angesprochen - an Folgendem deutlich machen:

Insgesamt sind 14 Bundesländer untersucht worden. Bei den 15-Jährigen lag Niedersachsen in der Königsdisziplin, nämlich der Lesekompetenz, nur auf Platz 10, bei der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung nur auf Platz 11. Und nun kommt eine schlimme Zahl, die geradezu ein Schock ist: 27 % unserer Hauptschülerinnen und Hauptschüler erreichten bei der Lesekompetenz nicht einmal den Mindeststandard. Man könnte auch hart formulieren, Niedersachsen bewegt sich hier ganz nah am Rande des Analphabetentums. Wer hatte das in den letzten Jahren zu vertreten? - Doch nicht die neue Regierung, sondern die alte!

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir haben also gerade in diesem Bereich einen dramatischen Handlungsbedarf. Diesem muss man sich auch stellen. Da kann man sich nicht mit Strukturgeschichten und Vergleichen herausstehlen. Dazu ist das Thema zu kompliziert.

Dabei können wir die Grundschule nicht aus der Betrachtung entlassen. Ich höre es zwar ganz gerne, Herr Kollege Jüttner, meine Damen und Herren, wenn es heißt, Deutschland war im Bereich der Grundschulen vielleicht einmal nicht so schlecht, wie es in anderen Bereichen schon der Fall gewesen ist; in diesem Bereich kann man sich vielleicht noch sehen lassen. Aber man muss auch genau gucken, ob wir denn davon überhaupt betroffen sind, ob wir davon profitieren können, ob wir vielleicht sogar ein bisschen stolz auf das sein können, was wir erreicht haben, oder ob das möglicherweise an uns vorbei geht.

Als ich den Titel der Aktuellen Stunde gelesen habe, habe ich mich gefragt: Wollen Sie uns in den falschen Film setzen, oder wo sind wir eigentlich, wenn das so apostrophiert wird? - Sie wissen doch genau, dass diese Grundschuluntersuchung länderspezifisch ausgewertet wurde. Fünf Bundesländer waren in großer Breite beteiligt; vor allem haben sich Bayern und Baden-Württemberg eingebracht. Die wissen auch, warum sie das konnten: dreigliedrig, erfolgreiches System.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: In der Grundschule?)

- Gemach, Herr Kollege! - Niedersachsen hat sich bei insgesamt 145 000 Schülern in 35 Staaten mit sage und schreibe 15 Schulen beteiligt. Das sind bei insgesamt 1 852 Grundschulstandorten in Niedersachsen gerade einmal 0,8 %. Und angesichts dieser Relation wollen Sie mir jetzt mit irgendwelchen Erkenntnissen kommen? – Gedrückt haben Sie sich bei dieser Studie!

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Amtsvorgängerin hat ja ein ums andere Mal gesagt, man wolle hier und da Vergleiche anstellen. Aber immer, wenn es um die Grundschule ging, hat man sich gedrückt. Auch bei der Studie, die Sie, Herr Jüttner, angesprochen haben, hat man sich gedrückt und die 15 Standorte nur anstandshalber mit einbezogen. Sie haben sich vor Vergleichsuntersuchungen gedrückt, weil Sie bestimmte Erkenntnisse betreffend die niedersächsischen Grundschulen offenbar nicht hören wollten.

Auch die Tatsache, dass wir in Niedersachsen seit über 25 Jahren die Orientierungsstufe haben - hoffentlich bald nicht mehr -, hat dazu geführt, dass wir im Bereich der Grundschule besondere Probleme zu verzeichnen haben, dass dort Handlungsbedarf besteht. - Das nur einmal an dieser Stelle.

In der Kürze der Zeit will ich hier ausdrücklich klarmachen, dass wir im Bereich der Grundschule nach wie vor Handlungsbedarf sehen.

(Beifall bei der CDU)

Uns wird allerorten gesagt: Die Grundfertigkeiten sitzen nicht. Also werden wir dafür sorgen, dass in der Grundschule, aber aufbauend auch in der vorschulischen Erziehung, im Kindertagesstättenbereich, die Grundfertigkeiten in Zukunft besser vermittelt werden. Es wird in Kürze einen Grundschulerlass geben, der sich schon auf den Schuljahresbeginn 2004 auswirkt. Wir werden Sie rechtzeitig in Kenntnis setzen, wie das Ganze dann aussieht.

Jetzt noch eine kurze Bemerkung an die Adresse der Grünen. Wir kennen ja Ihre Vorstellungen mit der sechsjährigen Grundschule und Ihren Hinweis auf Berlin. Am 25. März war in der Welt eine Aussage des Max-Planck-Instituts zu lesen:

„Berliner Gymnasiasten, die erst nach sechs Jahren in der Grundschule auf das Gymnasium kommen, hatten am Anfang des siebten Jahrgangs in den Fächern Mathematik und Englisch einen Rückstand von etwa eineinhalb Jahren gegenüber den Gymnasiasten anderer Bundesländer, die schon nach vier Jahren Grundschule auf das Gymnasium gekommen waren.“

Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob das Modell, das Sie immer so gerne anbieten, tatsächlich so Erfolg versprechend ist.

Ich sage Ihnen: Wir brauchen ein gesamtpolitisches Konzept, das bei der Kindertagesstätte beginnt und sich über die Grundschule in der schulformbezogenen Struktur fortsetzt.

Sie haben an anderer Stelle schon gesagt, unser Schulsystem in Niedersachsen sei bereits höchst durchlässig. Das nehmen wir einmal so an. Aber das Bessere ist der Feind des Guten, und wir werden es noch durchlässiger machen. Ab Klasse 5 wird es in der Hauptschule, in der Realschule und im Gymnasium weitergehen. Wir werden letztlich ein durchlässiges, begabungsgerechtes und differenziertes Schulsystem haben, das leistungsfähiger als das bisherige sein wird. Das, meine ich, müsste auch unser gemeinsames Ziel sein.

Abschließend, Herr Jüttner - das sage ich in Richtung der SPD-Fraktion und der Fraktion der Grünen -: Wir können über die Schulstruktur und diese Dinge gerne miteinander streiten, und zwar durchaus auch in scharfer Form. Aber ich bitte Sie seit Monaten, in diesen Auseinandersetzungen den Begriff der Selektion zu vermeiden. Nun haben Sie sich sogar dazu hinreißen lassen, diesen Begriff in die Überschrift des Antrags zur Aktuellen Stunde zu schreiben.

Ich verkneife es mir - ich will Sie auch nicht beschämen -, Ihnen hier vorzutragen, was ich im Internet dazu gefunden habe, wie der Begriff der Selektion gerade in Deutschland verstanden wird. Ich lege Ihnen dieses Zitat aber gleich auf den Tisch. Lassen Sie uns uns bitte dahin gehend verständigen, dass wir diesen Begriff bei allem Streit um die Schulpolitik in den nächsten Monaten und dann überhaupt nicht mehr gebrauchen! - Danke.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Jetzt hat sich auch die Wortmeldung des Abgeordneten Schwarz geklärt. - Herr Schwarz von der FDP-Fraktion, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jüttner, Sie haben das gerade selbst gesagt: Der Grundschullesetest IGLU ist noch nicht veröffentlicht. Er wird erst am kommenden Donnerstag veröffentlicht. Nach meinem Kenntnisstand - der Minister hat es gerade vorgetragen sind insgesamt 15 niedersächsische Grundschulen beteiligt gewesen. Die FDP-Fraktion freut sich natürlich über jede positive Nachricht, die irgendwie mit dem Bildungsbereich zusammenhängt, auch wenn es sich bei diesem Test offensichtlich „nur“ um Lesefähigkeit handeln soll. Gleichwohl ist es auch für uns kein Anlass, daraus gleich Schlussfolgerungen zu ziehen und den gesamten Schulgesetzentwurf infrage zu stellen oder das Schulgesetz insgesamt zu verbessern.

(Vizepräsidentin Silva Seeler über- nimmt den Vorsitz)

Ich möchte darauf verweisen, dass wir in dem vorliegenden Schulgesetzentwurf formuliert haben, dass in den Grundschulen nicht nur eine aktive Lesefähigkeit, sondern auch eine sprachliche Grundsicherheit in Wort und Schrift sowie mathematische Grundfertigkeiten entwickelt werden sollen. Fremdsprachen und Kommunikationstechniken sind weitere wichtige Felder in diesem neuen Entwurf. Auch der Zusammenarbeit mit den Kindertagesstätten und den weiterführenden Schulen haben wir in diesem Schulgesetzentwurf eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das alles wird begleitet durch einen engen Dialog mit den Eltern.

Von großer Bedeutung ist für uns neben der festgeschriebenen Durchlässigkeit des Bildungssystems auch die Möglichkeit, frühzeitig die sich bietenden - übrigens bisher ungenutzten - Chancen für die Schülerinnen und Schüler in diesem Land zu eröffnen. Hier - wir haben es gerade gehört - ist wieder die Rede von der Selektion.

Ich habe bis zum 28. Februar dieses Jahres die Arbeit in der Orientierungsstufe hautnah begleiten können. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir hätten zahlreiche Kinder vor seelischem Druck, vor Frustration und Orientierungslosigkeit bewahren können, wenn wir über den Dialog mit den Eltern be

reits nach der 4. Klasse ein jeweils begabungsgerechtes Angebot hätten machen können.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Das wollen wir in Zukunft tun. Wir werden das dreigliedrige Schulsystem in der Form, wie wir es vorgelegt haben, auch durchsetzen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Korter von der Fraktion der Grünen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die IGLU-Studie liegt noch gar nicht auf dem Tisch, schon weiß der Kultusminister, dass er daraus für Niedersachsen keine Schlüsse ziehen kann. Das empfinde ich wahrlich als etwas sehr voreilig, Herr Minister.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Zuruf von Karl-Heinz Klare [CDU])

Herr Schwarz hat es gerade betont: Für das neue Schulgesetz wird es keine Konsequenzen geben; das weiß er auch schon. Zugegeben, wir haben noch keine endgültigen Ergebnisse auf dem Tisch liegen, aber über die Vorabveröffentlichung können wir uns hier durchaus schon einmal Gedanken machen. Wenn es nämlich zutrifft, dass deutsche Grundschülerinnen und Grundschüler bei der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung IGLU relativ gut abgeschnitten haben, dann muss das unsägliche Gerede von der „Kuschelpädagogik“ endlich ein Ende haben. Das ist nämlich diffamierend.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

In keiner Schulform, meine Damen und Herren, haben wir in den letzten Jahren im pädagogischen Bereich so viele Reformen erlebt wie in der Grundschule. Dafür sollten wir unseren Grundschulkolleginnen und Grundschulkollegen endlich danken und nicht schauen, was wir daran schlecht machen können.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Trotzdem wird es in unseren Grundschulen sicherlich Reformbedarf geben. Die Ergebnisse der IGLU-Studie werden uns darüber sicherlich Aufschluss geben. Ich gehe davon aus, dass wir neue Anregungen erhalten werden, wie z. B. das Unterrichten in heterogenen Klassen effektiver gestaltet werden kann, wie es besser geschafft werden kann, hohe Ausländeranteile zu integrieren oder wie z. B. die Lesefähigkeiten von Jungen verbessert werden können.

Nach den ersten Veröffentlichungen der IGLU sind die Leseleistungen an den Grundschulen erstaunlich ausgeglichen. Also scheint es den Grundschulen relativ gut zu gelingen, die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder auszugleichen. Das heißt für mich aber: Das wirkliche Elend in den deutschen Schulen beginnt erst nach Klasse 4 mit der Aufteilung der Kinder in unterschiedliche Schulformen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Schlussfolgerung, meine Damen und Herren, ziehen nicht nur wir, sondern nach anfänglichem Zögern auch die PISA-Forscherinnen und –Forscher. Sie finden zahlreiche Unterstützung z. B. beim Baden-Württembergischen Handwerkstag oder bei McKinsey.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Die Ar- men! Die werden aber immer zitiert!)