Protokoll der Sitzung vom 10.11.2005

- Nein, nein. Sie müssen Folgendes berücksichtigen - ich habe es ausgeführt und Frau Dr. HeinenKljajić auch -: Wenn sich die FDP-Fraktion von einer gemeinsamen Vereinbarung verabschiedet und - wenn Sie mich jetzt herausfordern, dann muss ich es Ihnen sagen - wenn die CDU-Fraktion es nicht hinbekommen hat, dass wir diese gemeinsame Formulierung auch gemeinsam einbringen können, dann muss ich Ihnen heute sagen, dass es uns Leid tut, aber dass wir diesem Änderungsantrag auch nach den Ausführungen von Herrn Riese auf keinen Fall werden zustimmen können. Gleichwohl versöhnlich zum Abschluss: Wir alle wollen die „Theaterformen“. Ich freue mich, dass das jetzt offensichtlich gelungen ist. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Stimmenthaltungen? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Das Erste war die Mehrheit.

(Unruhe)

Meine Damen und Herren, ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass Sie zuhören sollten, wenn der Präsident das Wort hat, damit Sie wissen, was der Präsident sagt.

(Beifall bei der CDU - David McAllister [CDU]: Richtig!)

Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 19: Zweite Beratung: Schule ohne sitzen bleiben - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drs. 15/2208 - Beschlussempfehlung des Kultusausschusses - Drs. 15/2301

Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

Wir kommen zur Beratung. Zu Wort gemeldet hat sich die Abgeordnete Korter von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Frau Korter, jetzt bitte mal eine staatstragende Rede, wie sonst nicht immer! - David McAllister [CDU]: Und bitte auch so CDU-freundlich wie sonst!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir den Antrag „Schule ohne sitzen bleiben“ in den Landtag eingebracht haben, hatte ich noch gehofft, der Kultusminister und seine schwarz-gelbe Parlamentsmehrheit seien in dieser Sache lernfähig. Gegenüber dpa hatte Herr Busemann nämlich im Juli zum Sitzenbleiben geäußert: Zum Teil hängen wir noch einem veralteten Weltbild nach, von dem wir uns langsam trennen sollten.

(Beifall bei den GRÜNEN - Wolfgang Jüttner [SPD]: Wo er Recht hat, hat er Recht! - Zuruf von den GRÜNEN: Ja- wohl!)

- Da hat er Recht, genau. - Jetzt müssen wir leider erleben, dass die CDU und auch die FDP diesem veralteten Weltbild noch immer fest verhaftet sind. Die Regierungsmehrheit glaubt noch immer, dass Schülerinnen und Schüler nur dann zur Leistung zu motivieren sind, wenn die Drohung des Sitzenbleibens dahinter steht. Das haben wir in der Debatte anlässlich der Einbringung des Antrags erlebt.

Meine Damen und Herren von der CDU und von der FDP, wenn Sie in der letzten Woche die neue PISA-Studie gelesen hätten, dann hätten Sie erkennen können, wie sehr Sie mit Ihrer antiquierten Auffassung hinter dem Stand der wissenschaftlichen Forschung zurück sind. Auf Seite 40 der Zusammenfassung steht wörtlich: Zu denken geben auch die nach wie vor sehr hohen Quoten von verzögerten Schullaufbahnen, die überall einen großzügigen, wenn nicht verschwenderischen Umgang mit der Ressource Lebenszeit erkennen lassen.

Wenn Sie noch immer glauben, dass das Sitzenbleiben einen positiven pädagogischen Effekt haben könnte, dann stellen die PISA-Forscher dazu ganz nüchtern fest: Zumindest für die Altersgruppe der 2003 getesteten 15-Jährigen kann festgestellt werden, dass leistungsschwächere

Schülerinnen und Schüler häufig in Wiederholungsschleifen geschickt bzw. schrittweise an andere Schularten weitergereicht wurden. Das Ergebnis sind relativ große Anteile von 15-Jährigen mit einer verzögerten Schullaufbahn und einem niedrigen Kompetenzniveau. - Kurz gesagt: Sitzen bleiben und Abschulung bringt für die Schülerinnen und Schüler außer Zeitverlust nichts.

Herr Busemann, in Ihrer Stellungnahme zur PISAStudie haben Sie in der vergangenen Woche festgestellt, die Kernaufgabe bestehe vor allem darin, die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes im alltäglichen Unterricht umzusetzen. Das sei die größte Herausforderung, der sich Politik, Lehrkräfte und Eltern nun gemeinsam stellen müssten. Das ist richtig. Aber wo stellt sich Ihre Landesregierung dieser Herausforderung? Wo bleiben die konkreten Maßnahmen, um die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes im Unterricht voranzubringen? Bislang ist dort nur Fehlanzeige; das steht bis jetzt nur auf dem Papier.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Stattdessen schwingen Sie noch immer den pädagogischen Holzhammer des Sitzenbleibens. Mir ist völlig unverständlich, warum Sie nicht einmal einem Modellversuch zustimmen wollen, wie wir ihn gefordert haben. Dann würde sich ja zeigen, ob eine Schule auch ohne Sitzenbleiben auskommen kann und ob sie Kinder mit differenzierteren Methoden besser fördern kann oder nicht. Aber vor diesem Praxistest haben Sie wohl Angst.

Herr Minister, wenn man Ihre schulpolitische Leistung auf der PISA-Kompetenzskala einordnen sollte, dann würden Sie in dieser Frage - so meine ich - nicht einmal die unterste Kompetenzstufe erreichen. - Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN - David McAllister [CDU]: So eine bescheiden differenziert argumentierende Rede!)

Für die SPD-Fraktion hat die Abgeordnete Eckel das Wort. Ich erteile es ihr.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit Modellversuchen im Bildungsbereich hat Niedersachsen gute Erfahrungen gemacht. Denken Sie nur an die ProReKo-Schulen, an die Qualitäts

netzwerke und an die verlässlichen Grundschulen. Durch das Ausprobieren im Modell ist einiges bewegt worden. Anders hätte manche Verbesserung im Schulwesen nicht stattfinden können. Warum fällt es der CDU/FDP-Koalition so schwer, in einem Modellversuch eine Schule ohne sitzen bleiben zu testen?

(Beifall bei der SPD)

Dabei ließe sich eine Menge darüber erfahren, wie individuelle Förderung durchgeführt werden muss, wenn sie Wirksamkeit entfalten soll. Ihr hauptsächliches Gegenargument kann doch nicht sein, dass das Sitzenbleiben nicht schadet, wie es in der ersten Beratung im Plenum formuliert wurde. So können diejenigen reden, die mir ihrem beruflichen Erfolg zufrieden sind und die mit dem Eingeständnis, einmal sitzen geblieben zu sein, kokettierend ihre menschliche Seite hervorheben wollen. Für die nicht Erfolgreichen ist es kein Vergnügen, ihr Schulversagen einzugestehen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist so ähnlich wie mit dem halb vollen bzw. halb leeren Glas. Wer den schulischen Misserfolg nicht durch beruflichen Erfolg kompensieren kann, wird die Aussage „Sitzen bleiben hat mir nicht geschadet“ nicht treffen. Er wird sich eher daran erinnern, dass er sich im Stich gelassen fühlte, dass Trotz oder Mutlosigkeit die Folge waren und dass sein Selbstwertgefühl gelitten hat.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sitzenbleiben als probates pädagogisches Mittel zur Leistungssteigerung anzusehen, ist eine ungeheuer oberflächliche Betrachtung, besonders, wenn man die Abhängigkeit des Schulerfolgs vom sozialen Milieu anerkennt. Schule kann soziale Differenzen zementieren oder eben aufweichen. Da das Leistungsniveau eines Kindes durch unterschiedliche Bildungsmilieus und durch die Hilfe, die es von Zuhause bekommt, beeinflusst wird, sind die Chancen, die Schule mit Erfolg zu durchlaufen, eben ungleich verteilt.

In der ersten Beratung hat Herr Minister Busemann gesagt, wenn die individuelle Förderung nicht zum Erfolg führe, dann sei die Wiederholung einer Klasse die richtige Maßnahme. Ich frage Sie, Herr Busemann: Welche Schulform in Niedersachsen hat so viele Förderstunden, dass die Aussage, mit Förderung sei auch nichts mehr zu machen, getroffen werden könnte? Gezielte Förderung ist in

Niedersachsen Mangelware, weil die Lehrerstunden fehlen.

(Beifall bei der SPD)

Besonders die weiterführenden Schulen müssen sich einiges einfallen lassen, um Stunden für Förderunterricht freizuschaufeln.

Sehr geehrte Damen und Herren, in der ersten Beratung wurde auch die Äußerung getätigt, bevor jemand sitzen bleibe, müsse schon ein Halbjahr lang die durchschnittliche Klassenleistung nicht erbracht worden sein. Das ist tatsächlich eine realistische Einschätzung von Ihnen, Frau Pfeiffer. In unseren Schulen erhalten Schülerinnen und Schüler zu selten die Möglichkeit, nicht Verstandenes in einem neuen Zusammenhang noch einmal erklärt zu bekommen oder entstandene Lücken durch unterstützende zusätzliche Angebote zu schließen. Es kann tatsächlich ein komplettes Halbjahr vergehen, ohne dass etwas geschehen ist. Um erfolgreich zu fördern, bedarf es der differenzierten Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler, um ihre speziellen Lernschwierigkeiten herauszufinden und individuelle Lernangebote zu entwerfen. Nicht jeder kann im Gleichschritt lernen. Erfolg, Anerkennung und Ermutigung und nicht das Hängenlassen steigern die Lernfähigkeit von Kindern.

Schon die erste PISA-Studie hat festgestellt, dass der längere Schulbesuch z. B. durch Klassenwiederholungen nicht zu besseren Leistungen führt. Häufig gelinge es nicht einmal, dass Sitzenbleiber auf dem niedrigeren Niveau des jüngeren Jahrgangs gleichzögen. Häufig machten sich stattdessen auch im jüngeren Jahrgang signifikante Leistungsnachteile bemerkbar.

Diese Erkenntnisse aus der ersten PISA-Studie, die in der zweiten ja noch untermauert wurden, wurden übrigens 2002 in einer Antwort des Kultusministeriums auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Mundlos und Vogelsang übermittelt. So problembewusst setzte sich das Kultusministerium mit dem Thema Sitzenbleiben auseinander, als die SPD Regierungspartei war.

Sehr geehrte Damen und Herren, leider wird dieser Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute keine Mehrheit finden. Dass Sie das Sitzenbleiben wirklich als pädagogische Maßnahme zur Steigerung des Lernerfolgs ansehen, daran kann ich bei all den vorliegenden empirischen Untersuchungen und den Erkenntnissen von Erziehungswissen

schaft und Hirnforschung, die uns allen zugänglich sind, nicht glauben.

So kann ich zum Schluss nur meine Vermutung wiederholen, die ich in der ersten Beratung schon geäußert habe: Sie wissen, dass eine zielgenaue und rechtzeitige individuelle Förderung das begabungsgerechte dreigliedrige Schulsystem, wie Sie es nennen, in seinen Grundfesten erschüttert. Diese Befürchtungen wollen Sie auch im Modellversuch nicht bestätigt wissen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Für die FDP-Fraktion hat nun der Abgeordnete Schwarz das Wort.

(Walter Meinhold [SPD]: Jetzt kommt die Erkenntnis!)

Herr Meinhold, wenn Sie schon von „Erkenntnis“ sprechen, dann sollten Sie auch einmal daran denken, dass Sie 13 Jahre lang die Möglichkeit gehabt haben, dieses Thema anzugehen. Das haben Sie nicht getan. Da ist gar nichts passiert. Das haben Sie nicht durchgesetzt.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den Redebeitrag von Frau Korter würde ich gerne Folgendes sagen: Wenn Sie der CDU und der FDP veraltete Ansichten vorwerfen, dann werfen Sie im Prinzip auch den Schülern veraltete Ansichten vor; denn die Schüler sind laut einer forsa-Umfrage zu 70 % der Auffassung, dass ein Nicht-Sitzenbleiben dazu beitragen würde, dass die Leistungsmotivation erheblich sinkt. Diese Schüler sprechen sich sehr dafür aus, dass die Regelung so beibehalten wird.

(Zustimmung bei der CDU)

Das Sitzenbleiben ist ein Vorgang der unangenehmeren Art - der eine oder andere hat das auch schon selbst erlebt -, aber ich bin nach wie vor der Auffassung, dass diese Erfahrung insgesamt hilfreich sein kann. Gleichwohl gilt: Die Zahl der Sitzenbleiber muss durch individuelle Förderung gesenkt werden. Hier sind wir, wie bereits in der ersten Lesung festgestellt worden ist, auf einem sehr guten Weg, Herr Minister.

Natürlich gibt es Argumente dafür, das Sitzenbleiben insgesamt zur Diskussion zu stellen; gar keine Frage. Nach unserer Auffassung gibt es aber auch sehr gute Begründungen für die Möglichkeit des Wiederholens einer Klasse.

Vielleicht nur noch einmal zur Erinnerung: Nach einer forsa-Umfrage sprechen sich 79 % der Befragten für die Möglichkeit einer Ehrenrunde aus. Wir wollen einmal bei der Wahrheit bleiben: Leistungsschwachen Schülern tut man keinen Gefallen damit, wenn sie in die nächste Klasse versetzt werden, ohne das Klassenziel erreicht zu haben.