Protokoll der Sitzung vom 10.11.2005

Vielleicht nur noch einmal zur Erinnerung: Nach einer forsa-Umfrage sprechen sich 79 % der Befragten für die Möglichkeit einer Ehrenrunde aus. Wir wollen einmal bei der Wahrheit bleiben: Leistungsschwachen Schülern tut man keinen Gefallen damit, wenn sie in die nächste Klasse versetzt werden, ohne das Klassenziel erreicht zu haben.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Es besteht doch unbestritten die Gefahr, dass die Schüler den Anschluss an den Lernstoff vollends verlieren und ihre Bildungslücken bis zum Schulabgang mit sich herumschleppen müssen.

(Zustimmung bei der CDU)

Bedenken Sie als Antragsteller doch bitte die Situation derjenigen, die das Klassenziel nicht erreicht haben und dennoch versetzt werden würden. Nichts ist frustrierender, als über Jahre hinweg als schwacher Schüler mitgezogen zu werden, ohne die echte Chance zu erhalten, den Stoff aufzuholen. Hinzu kommt, dass das Mitschleppen extrem leistungsschwacher Schüler, die den Anforderungen nicht gewachsen sind, dazu führt, dass das Anforderungsniveau der Klasse eindeutig gesenkt wird.

(Silva Seeler [SPD]: Das stimmt nicht!)

Die Abschaffung der Wiederholungsmöglichkeit ist leistungsfeindlich, und sie schadet unter Umständen den betroffenen Schülern mehr, als sie nützt.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Walter Meinhold [SPD]: Dazu gibt es keine Untersuchungen!)

Der Schlüssel - darin sind wir uns allerdings auch einig - liegt in der individuellen Förderung. Wenn diese wünschenswerte Förderung in der Schule aus bekannt schwierigen Personalressourcen nicht geleistet werden kann, muss es extern möglich sein, Versäumnisse aufzuholen. Wie wäre es z. B. mit Lernpatenschaften, die ja auch schon existieren? - Interessanterweise gibt es auch Ihnen bekannte Studien, die für Wiederholer sehr gute Chancen erkennen, einen höheren Schulabschluss zu erreichen.

Wir sprechen uns weiterhin für die Möglichkeit des Wiederholens einer Klasse aus, weil es Sinn macht.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Für die CDU-Fraktion hat nun die Abgeordnete Pfeiffer das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen, ist überholen ohne einzuholen. Das kann natürlich nicht klappen. Ein Schüler, der den Stoff von heute nicht beherrscht, kann auch den von morgen nicht verinnerlichen. Wir sind nun einmal nicht in Finnland, wo vor allem sehr kleine Systeme die Schule zu überschaubaren Einheiten machen und in denen jeder Lehrer jeden Schüler kennt. Schüler können dort Lehrer einschätzen, und umgekehrt können Lehrer sehr genau die Schüler einschätzen, weil jeder jeden genau kennt. Man kann sehr viel schneller einhaken und unterstützen.

Nach wie vor bleibt in den bei uns üblicherweise viel größeren Systemen eine Schwierigkeit bestehen - das haben wir eben schon gehört -: Die Lücken der Schüler, die bekanntlich nicht nur in einem Fach bestehen müssen, damit es überhaupt zum Sitzenbleiben kommt, sind nicht damit behoben, dass der Schüler oder die Schülerin in die nächsthöhere Klasse mitgeht und dann ein paar Stunden Förderunterricht erhält. Mehr ist bei uns im Moment einfach nicht zu leisten; auch das haben wir gerade schon gehört.

Bei vielen Schülerinnen und Schülern setzt ohnehin bereits in dem Schuljahr, in dem sie oder er gefährdet ist, etwas ein: Das Kind bekommt nämlich Nachhilfe; das ist ja kein Geheimnis. Aber leider hat es der eine oder die andere von ihnen, die mit der roten Karte oder mit dem blauen Brief versehen wurde, zu dem Zeitpunkt noch immer nicht begriffen. Das heißt, er oder sie lässt sich gar nicht in dem Maße fördern, in dem es notwendig wäre, um das Klassenziel zu erreichen. Die Lücken sind also nicht so bedeutend kleiner geworden, um genügend Basiswissen anzusammeln, damit der Schüler den folgenden Stoff verstehen könnte.

Ich habe schon letztes Mal zu verdeutlichen versucht, dass sich ein Schüler von dem Stoff, den er

unverstanden vor sich sieht, oftmals überhaupt nicht mehr angesprochen fühlt. Der nun überforderte Schüler kann zum Klassenkasper oder zum Störer werden, und zwar unter Umständen nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen in der Klasse, die sehr wohl willens sind, den Ausführungen des Lehrers zu folgen. Wir wissen ja, dass es heute erhebliche Disziplinprobleme gibt. Gestört wird dadurch also mutmaßlich die ganze Klasse.

Hinzu kommt, dass in einem Schulsystem wie unserem hier in Niedersachsen ein Schüler, der endlos mit Misserfolgen konfrontiert wird, starke Einbrüche im Selbstwertgefühl einstecken muss, und das nicht nur einmal wie beim Sitzenbleiben, sondern immer wieder, wenn er eben am Ende sitzt.

Wir haben vergleichbare und verlässliche Leistungsstandards vereinbart, die uns als Land Niedersachsen im PISA-Vergleich verbessern und international nach vorne bringen werden. Also müssen aber auch alle die Chance haben, dieses angestrebte Klassenziel zu erreichen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Bereits bei der ersten Beratung habe ich von einer Infratest-Umfrage berichtet, in der eklatant viele Befragte für die Institution des Sitzenbleibens votierten. So entschieden sich 58 % der Hauptschulabsolventen, 71 % der Absolventen der Realschule und 77 % der Abiturienten deutlich für das Sitzenbleiben. Dies hat wohl u. a. auch damit zu tun, dass die allermeisten sitzen geblieben sind, weil sie tatsächlich nicht genügend Einsatz an den Tag gelegt haben. Auch die anderen gibt es; das gebe ich zu. Das können wir nicht dadurch kolportieren, dass wir dem, der null Bock hat, immer und immer wieder mehr Unterstützung zukommen lassen als dem, der sich jeden Tag auf den Hosenboden setzt und sich selbstständig bemüht. Dem Schüler mit null Bock wird meines Erachtens ein völlig falsches Bild von der wirklichen Situation in unserer Leistungsgesellschaft vorgespiegelt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Gegen Förderund Unterstützungssysteme ist nichts zu sagen; sie existieren im Übrigen schon. Aber ein Durchschieben ohne Sitzenbleiben bis kurz vor den Abschluss kann von uns nicht gut geheißen werden.

Völlig zu Recht hat Minister Busemann bereits darauf hingewiesen, dass die Probleme, die wir mit

Schulabgängern ohne Abschluss haben, groß sind. Man müht sich ja sehr gerne, wenn man später auch die Früchte der Arbeit ernten kann. Vermutlich ist jeder von uns von Natur aus faul. Aber auch junge Leute wollen die Konsequenzen ihres Tuns sehen. Genauso, wie sie sich gerne und immer wieder im Sport messen, wollen sie sich auch im wirklichen Leben selbst beweisen. Das zeigen diese Umfrageergebnisse deutlich.

Kürzlich habe ich beim Niedersächsischen Handwerkstag in Oldenburg die strahlenden Gesichter junger Leute gesehen, die für besonders gute Ausbildungserfolge geehrte wurden. Wollen wir es den jungen Leuten nehmen, dass sie auf ihre selbst erbrachten Leistungen so unglaublich stolz sein können?

Hinzukommt schließlich noch der finanzielle Aspekt. Bis heute ist nach wie vor nicht bezifferbar, wie hoch die tatsächlichen Kosten sind, die die Schüler durch das Wiederholen einer Klasse verursachen. Frau Korter, Ihre Betrachtungsweise ist doch nur von rein theoretischer Natur; denn wie ich bereits ausführte, führt nicht jeder Schüler, der in der nächst tieferen Klasse unterrichtet wird, dazu, dass eine neue Klasse gebildet wird.

Wir haben hier in Niedersachsen ein Schulwesen eingeführt, das durch Leistungsorientierung und Leistungsstandards zum Erfolg führt. Daran wollen wir auch weiterhin festhalten. Wir lehnen daher den Antrag der Grünen ab. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Busemann das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehöre dem Landtag seit 1994 an. Ich glaube, in jeder Legislaturperiode ging es bisher, meistens von den Grünen beantragt, um das Thema „Schule ohne Sitzenbleiben“. Das geschieht vielleicht aus einem gewissen Populismus heraus. Aber das kann sich nur auf einen begrenzten Teil der Bevölkerung beziehen. Denn egal, wie die Umfragen durchgeführt werden, sagen immer 70 bis 80 % der jungen und auch der älteren Leute, dass Schule ganz ohne Sitzenbleiben nicht das Richtige ist.

Frau Eckel, es war interessant, Ihre Position zu hören. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, hatten wir von 1990 bis 1994 eine rot-grüne Regierung und von 1994 bis 2003 eine rote Regierung. Es gab keine solche Gesetzes- bzw. Rechtsänderung, keinen Pilotversuch - gar nichts. Aber jetzt fällt es der Opposition wie Schuppen von den Augen: Schule ohne Sitzenbleiben, das wäre doch was!

(Beifall bei der CDU - Zurufe von den GRÜNEN: So ist das Leben! - Da muss man durch!)

Wir haben gerade mit vereinten Kräften überlegt, ob es überhaupt noch eine Landesregierung gibt, an der die Grünen beteiligt sind; das fällt in diesen Tagen etwas schwer.

(Zuruf von der CDU: Nein! Es gibt keine mehr!)

Aber es gab ja einmal Landesregierungen mit Beteiligung der Grünen, z. B. in Berlin oder Bremen und bis vor einiger Zeit für mehrere Legislaturperioden auch noch in Nordrhein-Westfalen. Wo ist da die „Schule ohne Sitzenbleiben“ kreiert worden? Ich weiß wirklich nicht, welche Pirouetten hier jetzt gedreht werden! Bis vor kurzem waren die Grünen ja noch an der Regierung in Schleswig-Holstein unter Frau Simonis beteiligt. Das Interessante ist, dass man das Sitzenbleiben dort nicht nur nicht abgeschafft hat. Schleswig-Holstein fiel im Frühling dieses Jahres auf - bis dato gab es dort eine rotgrüne Regierung - als das Land mit der höchsten Sitzenbleiberquote in ganz Deutschland. Irgendetwas läuft dort verkehrt; das verstehe ich auch nicht so recht.

Lassen Sie uns die Hintergründe miteinander beleuchten. Ich weiß, das Thema Sitzenbleiben ist für die Opposition ein rotes - oder soll ich sagen: ein grünes? - Tuch. Ganz gleich, ob rot oder grün: Sie, Frau Korter und andere, haben in dieser Diskussion manchmal einen Tunnelblick. Sie fixieren sich immer nur auf das Negative. Dabei verlieren Sie völlig aus dem Auge, dass ein gesichertes Wissen und der Erwerb bestimmter Kompetenzen die Voraussetzungen für erfolgreiches Weiterlernen sind. Wenn die Basis fehlt, meine Damen und Herren, dann fehlt auch die Chance zum erfolgreichen Wissensaufbau. Wer, wie Sie, behauptet, dass die Wiederholung eines Schuljahres das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten nachhaltig untergrabe und dem Selbstwertgefühl schade, der denkt und han

delt sehr kurzsichtig. Wie sollen Schülerinnen und Schüler Neues lernen, wenn ihnen die notwendigen Grundlagen fehlen? Der Misserfolg ist vorprogrammiert und damit auch der Motivationsverlust, die fehlende Lernbereitschaft und im Ergebnis ein beschädigtes Selbstwertgefühl.

Meine Damen und Herren, Sie verweisen doch sonst so gerne auf die Ergebnisse und Folgen von PISA. Dabei haben Sie allerdings übersehen, dass eine Ursache für das schlechte Abschneiden der 15-Jährigen im unteren Leistungsbereich darin zu suchen ist, dass sie nicht über gesicherte Wissensbestände und Kompetenzen verfügen, die eigentlich, Herr Meinhold, in den vorhergehenden Schuljahren hätten angelegt werden sollen. Warum hat die KMK, warum haben wir alle miteinander in den letzten Jahren die Erarbeitung von Bildungsstandards forciert? Warum erstellen wir in Niedersachsen zurzeit kompetenzorientierte Kerncurricula? Warum arbeiten wir an individuellen Förderplänen, wenn das alles im Rahmen eines Wischi-Waschi-Systems nicht gemessen werden und man ohne Sitzenbleiben durch das Schulsystem geschleust werden soll?

(Beifall bei der CDU)

Wir wollen durch den Unterricht an unseren Schulen jedem Schüler und jeder Schülerin einen systematischen Wissensaufbau ermöglichen. Dabei ist es erforderlich, dass am Ende bestimmter Zeitabschnitte auch festgesetzte Kompetenzen erworben sein müssen, um erfolgreich weiterlernen zu können.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, damit sind wir bei der Frage, welche Maßnahmen ergriffen werden können und müssen, um Schulerfolge zu ermöglichen. Die Antwort kann nur heißen: Das ist nur durch guten Unterricht möglich, in Verbindung mit einem Bündel von Unterstützungs- und Fördermaßnahmen sowohl für leistungsstärkere als auch für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler.

(Vizepräsidentin Silva Seeler über- nimmt den Vorsitz)

Auch wenn Sie das nicht gerne hören, weil Sie diese Maßnahme für sich schon längst verworfen haben, muss ich sagen: Auch die Wiederholung eines Schuljahres gehört in bestimmten Einzelfällen zu diesem Maßnahmenpaket; denn sie ist für die Schülerinnen und Schüler eine Chance, wieder

festen Boden unter die Füße zu bekommen. Das funktioniert nicht in jedem, aber doch in den meisten Fällen. Das ist die Chance, den notwendigen Wissensstand zu erreichen und die entsprechenden Kompetenzen zu erwerben, um ein erfolgreiches Weiterlernen in der nächsten Klasse möglich zu machen.

Natürlich, meine Damen und Herren, ist es unser Ziel, die Anzahl der Wiederholer zu verringern. Ich sehe genau, wie wahrscheinlich Sie alle, die Notwendigkeit, leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler so zu fördern, dass sie den Anschluss an den Lernstand ihrer Gruppe nicht verlieren.

Doch auch dafür brauchen wir keinen Modellversuch; denn die erforderlichen Maßnahmen sind schon längst in die Wege geleitet worden: Die Sprachförderung vor der Einschulung, die Möglichkeit des längeren Verbleibens in der Eingangsstufe, die sozialpädagogische Unterstützung vor allem in der Hauptschule und die Möglichkeit der Nachprüfung, die übrigens seinerzeit von Ihnen eingeführt wurde, sind wichtige Elemente, um die Zahl der Wiederholer deutlich zu reduzieren.

Hinzukommen die verschiedenen Förderkonzepte für leistungsstärkere und leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler, die bereits von vielen Schulen erarbeitet und umsetzt werden. Frau Kollegin Eckel, an den Schulen ist also sehr viel Aktivität. In Ihrer Rede gab es eine Passage, bei der ich dachte: Wird das jetzt eine Lehrerbeschimpfung, oder warum werden sie so diskreditiert?

(Karin Stief-Kreihe [SPD]: Das ma- chen doch Sie!)

Das haben Sie sicherlich nicht so gemeint, aber das, was Sie gesagt haben, klang etwas merkwürdig.