Protokoll der Sitzung vom 16.03.2011

- Ich darf vorher darum bitten, dass Ruhe im Plenarsaal einkehrt, damit der Redner Gehör findet. - Bitte, Herr Kollege!

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind in diesen Stunden mit unseren Gedanken und Gefühlen in Japan. Wir sind bei den Menschen, die bei der ersten und bei der zweiten Katastrophe, dem Erdbeben und dem Tsunami, ihre Angehörigen und ihre Freunde verloren haben.

Die erste und die zweite Katastrophe übertrafen unsere menschliche Vorstellungskraft. Dennoch kam es noch schlimmer. Die Explosionen in den vier Fukushima-Reaktoren sind apokalyptisch in ihren möglichen Auswirkungen. Die Entwicklung der letzten Tage hat dazu geführt, dass Menschen, die verletzt unter den Trümmern lagen, nicht mehr gerettet wurden, weil eine ganze Region evakuiert werden musste. Hilfsteams wurden nicht mehr ins Katastrophengebiet gelassen. Selbst die US-Navy hat ihren Flugzeugträger abdrehen lassen, der eigentlich als schwimmendes Lazarett dienen sollte.

Das ist, meine Damen und Herren, die eigentliche, die zivilisatorische Katastrophe: wenn Opfern nicht mehr geholfen wird und die Helfer selber fliehen müssen. Das ist der soziale Notstand, der an die Grundfeste unserer Zivilisation rührt.

Wir erleben in diesen Tagen, wie eine Industriemacht, die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, eine ganze Volkswirtschaft an ihre Grenzen kommt. Wie will man eine Metropole wie Tokio mit 40 Millionen Menschen evakuieren? Wohin sollen diese Menschen gehen? Was passiert, wenn die Wasser- und die Stromversorgung für Wochen am Boden liegen und die Industrie ihre Produktion für längere Zeit einstellen muss? Der Spiegel fragte gestern Abend in seiner Onlineausgabe sogar:

Was passiert, wenn Tokio oder Teile von Tokio unbewohnbar werden?

Meine Damen und Herren, die Entwicklung in Fukushima übersteigt alles, was sich menschliche Phantasie bislang ausmalen konnte. Die Atomkraft ist der größte anzunehmende Widersinn in der Energiepolitik.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Atomkraft wurde als preiswerte, ja als billige Form der Energieversorgung angepriesen und ist in Wirklichkeit unter Einrechnung der gesamtwirtschaftlichen, der volkswirtschaftlichen Kosten die teuerste Energieproduktion der Welt.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Atomkraft wurde und wird als sichere und umweltfreundliche Energieform dargestellt und ist in Wirklichkeit, insbesondere eingedenk der Atommüllproblematik, die unsicherste auf der ganzen Welt. Atomkraft wurde gepriesen, weil angeblich der wachsende Energiebedarf der Welt nicht anders bedient werden könne. Der GAU in Japan zeigt aber, dass die Lichter nicht ausgehen, wenn die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, sondern dann, wenn sie am Netz bleiben.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

In der Krise appellieren die Atomkraftbefürworter an die Vernunft der Atomkritiker, aus dem GAU keinen politischen Profit schlagen zu wollen. Aber wir fragen auch: Wo bleibt nach all den ungeklärten Endlagerfragen, den Pannen und Störfällen, den kleinen und großen nuklearen Desastern, wo bleibt nach all diesen Erfahrungen die Vernunft der Atomlobby und die Vernunft der Atomindustrie?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, was ist in diesen Stunden zu tun? Was ist von hier aus, 9 000 km von Japan entfernt, zu tun?

Wir müssen zweierlei tun: unsere Hilfe anbieten, wo auch immer Hilfe möglich ist. Auch wenn sie nicht sofort abgefordert wird, ist damit zu rechnen, dass Japan in den nächsten Wochen und Monaten eine massive Unterstützung der internationalen Gemeinschaft benötigt: Hilfsmittel, Finanzen, Unterstützung in jeglicher Hinsicht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und wir müssen die Konsequenzen für unser eigenes Land ziehen. Wahlkampf-Abschaltungen von Atomkraftwerken reichen nicht aus.

(Starker Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Die ältesten sieben Atomkraftwerke in Deutschland und das Atomkraftwerk Krümmel müssen endgültig, müssen für immer vom Netz.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Das Atomkraftwerk Unterweser steht direkt hinter dem Deich. Der Deich ist für eine schwere Sturmflut zu niedrig.

(Björn Thümler [CDU]: Falsch!)

Die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls der Notstromversorgung oder der Nachkühlung wegen Überflutung hat der Betreiber E.ON in seiner Sicherheitsüberprüfung mit bis zu 1 : 1 Milliarde angegeben. Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Das ist angesichts steigender Meeresspiegel, angesichts einer geplanten Weservertiefung und angesichts höher auflaufender Sturmfluten nicht mehr als ein schlechter Witz.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Das Atomkraftwerk Unterweser ist 33 Jahre alt. Niemand von Ihnen wird ein Elektrogerät im Haushalt haben, das älter als 33 Jahre ist; darauf wette ich. Deshalb darf Unterweser nie mehr an das Netz gehen.

Meine Damen und Herren, das Dreimonatsmoratorium von Frau Merkel und der fünf Ministerpräsidenten ist eine Mogelpackung. Die Exekutive - und hier handelt es sich um die Exekutive - verfügt nicht über die Kompetenz zur Aussetzung von Gesetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Helge Ste- fan Limburg [GRÜNE]: Völlig richtig!)

Die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken muss daher unverzüglich vom Parlament aufgehoben werden. So funktioniert das in einer parlamentarischen Demokratie, meine Damen und Herren!

(Starker Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Schon allein der Zeitraum von drei Monaten reicht noch nicht einmal aus, um eine Ausschreibung vorzunehmen, um die Experten, die notwendig sind, um diese Überprüfung zu vollziehen, auszuwählen und die Aufträge zu erteilen. Das dauert mindestens ein bis zwei Jahre. In drei Monaten kann man das niemals erledigen.

Meine Damen und Herren, nur dann, wenn das Parlament die Laufzeitverlängerung aufhebt, kann Rechtssicherheit geschaffen werden. Nur so kann Schadenersatzklagen der Konzerne der Boden entzogen werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass keine Strommengenübertragung stattfindet. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Anlagen nach den Wahlen in Baden-Württemberg und anderen Bundesländern nicht wieder angefahren werden.

Eine politische Notkühlung, die vom Goodwill der Atomkonzerne abhängig ist, werden wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Jetzt geht es nicht nur um Innehalten, sondern um nachvollziehbare, konsequente und zielgerichtete Schritte zur Gewährleistung von Sicherheit. Es geht um zielgerichtete Maßnahmen und Entscheidungen zum Umbau unserer Energieversorgung.

Meine Damen und Herren, eine Kommission zur Überprüfung der Sicherheit von Atomkraftwerken, die aus den üblichen Verdächtigen und konzernabhängigen Wissenschaftlern besteht, wäre eine Farce; das reicht nicht aus.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir sind heute auch deswegen in diesem Dilemma - das ist gerade nach den Erlebnissen in der Asse eine niedersächsischen Erfahrung -, weil kritischer Sachverstand immer und immer wieder an den Rand gedrängt wurde.

Meine Damen und Herren, das ist jetzt die Stunde der Solidarität mit Japan. Das ist die Stunde der Trauer um die Toten und Verletzten, die Stunde des Mitgefühls für die Angehörigen. Es ist keine Stunde für moralisierende Zeigefinger, für Zynismus oder Rechthaberei, aber auch nicht für Panikmache.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie Zu- stimmung bei der CDU und bei der FDP - Karl-Heinrich Langspecht [CDU]: Ein sehr richtiger Satz!)

Aber es ist auch keine Stunde für die Fortsetzung des Irrglaubens, der Unehrlichkeit und der Irreführung der Öffentlichkeit.

(Heidemarie Mundlos [CDU]: Wer tut das denn?)

Auch in diesem Hause haben viele viel zu lange und viel zu entschieden dem Fortschrittsglauben blind gehuldigt oder tun es vielleicht sogar noch immer.

Gestern in den Talkshows konnte man einige beobachten: Herrn Thomauske, Herrn Huber oder auch das Atomforum, das noch am Freitag erklärt hat, einen solchen Unfall, wie er am Wochenende von uns erlebt wurde, sei völlig unmöglich und könnte niemals geschehen. Die World Nuclear Association, eine quasi religiöse Organisation,

(Gerd Ludwig Will [SPD]: Eine Sekte!)

die die Atomindustrie weltweit vertritt, hat noch am vergangenen Freitag einen solchen Unfall wie in Fukushima vollkommen ausgeschlossen, hat eine solche Annahme als absurd bezeichnet. Das sind die Glaubenskrieger, die auch heute noch unterwegs sind. Herr Sander, Ihr Interview heute in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung ist vor diesem Hintergrund sehr bezeichnend.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Viel zu viele haben viel zu lange und viel zu entschieden der Risikotechnologie Atomkraft die ewige Unbedenklichkeit bescheinigt. Das muss aufhören. Das ist die Lehre von Fukushima.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident McAllister, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten diese Rede schon vor einem Jahr gehalten. Dann wären wir einen guten Schritt weiter.

(Hans-Jürgen Klein [GRÜNE]: Vor acht Jahren!)

Herr Ministerpräsident McAllister, in der Presse steht heute über Sie zu lesen, dass Sie als bekennender Kernkraftskeptiker gelten.