Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Herr Minister!

Frau Flauger, selbstverständlich habe ich im Gegensatz zu Ihnen und Ihrem Redebeitrag im Rahmen Ihrer Kurzintervention zur Kenntnis genommen, dass Frau Reichwaldt versucht hat, darauf viel differenzierter einzugehen. Bei Ihnen aber, Frau Flauger, habe ich den Eindruck, dass Sie den Gesetzentwurf und insbesondere dessen Begründung nicht einmal im Ansatz gelesen haben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Dort steht nämlich ausdrücklich drin, dass wir kleinere Klassen schaffen wollen, dass wir Doppelzählungen schaffen wollen, dass wir im Zusammenhang mit der Inklusion 1 000 Stellen einrichten werden und dass wir bis 2018 44 Millionen Euro investieren werden. Wer hier behauptet, wir würden nichts in die Hand nehmen, um Inklusion umzusetzen, der behauptet nun wahrlich die Unwahrheit. Das würde ich Ihnen in diesem Fall auch unterstellen wollen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Widerspruch von Kreszentia Flauger [LINKE])

Nach den Wortbeiträgen von Frau Heiligenstadt habe ich durchaus berechtigte Hoffnung - nach den Wortbeiträgen der Koalitionsfraktionen sowieso -, dass wir bei diesem Gesetzentwurf am Ende zu einer breiten Mehrheit kommen können, weil ich glaube, dass wir uns in wesentlichen Zielen einig sind, nämlich in der Frage einer gleichberechtigten,

barrierefreien Teilhabe behinderter Menschen zur Umsetzung der UN-Konvention.

Ich darf in Erinnerung rufen, dass es sich bei dieser Frage um den Artikel 24 handelt. Das ist einer von vielen. Das heißt, es handelt sich hierbei um ein gesellschaftliches Projekt, das die gesamte Bildungsbiografie eines Menschen, das Leben eines Menschen umfasst. Deshalb werden wir es auf viele andere gesellschaftliche Bereiche ausweiten müssen.

Sie haben zu Recht gesagt: Bundesrat und Bundestag haben dieses 2008 und 2009 beschlossen. Ich sage Ihnen eines: Selbst die Umsetzung durch Landesrecht, wie wir es jetzt in Niedersachsen verwirklichen wollen, wird allein nicht reichen. Es bedarf - Frau Heiligenstadt, da haben Sie recht - einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz.

Der Weg zur Inklusion und zur inklusiven Schule in Niedersachsen beginnt mit der inneren Einstellung. Er beginnt aber auch mit der Offenheit dafür, dass es sich hierbei um einen Lernprozess handelt, der niemanden überfordern darf: nicht das Kind, nicht die Lehrkräfte, nicht die Eltern, nicht die Gesamtgesellschaft. Deshalb ist das ein gesellschaftlicher Prozess, der im Kopf beginnt und über das Herz in die Herzen der Menschen hinein muss. Deshalb müssen wir unsere Schulen darauf vernünftig vorbereiten. Genau diesen Weg gehen wir in Niedersachsen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich mache bei meiner Ziehtochter ganz hervorragende Erfahrungen in einer integrativen Kindertagesstättengruppe und kann Ihnen nur sagen: Wenn wir alle so selbstverständlich wie Kinder im Kindergarten und zum Teil auch in der Schule im Bereich des Helfens, der Hilfebedürftigkeit und der Fähigkeit, zu erkennen, wo Hilfe notwendig ist, mit den Einschränkungen und Behinderungen anderer Menschen umgehen würden, dann könnten wir an dieses Ziel, Inklusion langfristig sowohl im Bildungsbereich als auch in anderen Bereichen umzusetzen, ganz gelassen herangehen und ihm Schritt für Schritt näherkommen.

Deshalb ist aus meiner Sicht in Bezug auf Niedersachsen darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um einen Zeithorizont von etwa zehn Jahren handeln wird und nicht mit dem 1. August 2012 alles sofort zu 100 % funktionieren wird. Es wird auch Rückschläge geben. Wir werden auch feststellen, dass Fehler gemacht werden. Wir werden an der

einen oder anderen Stelle korrigieren müssen, weil es in der Praxis nicht funktioniert.

Wir haben aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass es unter den 87 000 Lehrkräften den einen oder anderen geben mag, der sich nicht ausreichend vorbereitet fühlt. Wir müssen heute auf die schulische Situation eingehen. Wir müssen den Menschen, den Lehrkräften und allen Eltern die Möglichkeit dazu geben und letztlich alle mitnehmen. Deshalb bedarf es einer notwendigen Sorgfalt, dieses zu begleiten und am Ende umzusetzen.

Deshalb sage ich, dass der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, ausgewogen und sehr beispielhaft ist, weil wir voraussichtlich alle Betroffenen, sämtliche Chancen und sämtliche Problembereiche, die es zu benennen gilt, in diesem Gesetzentwurf mit bedacht haben. Deshalb geht der Vorwurf, wir kämen zu spät, grundsätzlich an der Sache vorbei.

Auch die immer leichtfertig getätigte Behauptung, die UN-Konvention fordere eine Abschaffung sämtlicher Förderschulen, ist schlichtweg falsch. Das Riedel-Gutachten sagt dazu:

„Der Anspruch der inklusiven Bildung … ist nicht etwa gleichbedeutend mit der Abschaffung des Förderschulwesens, und es wäre nachgerade absurd, den Begriff der Inklusion zum Vorwand für den Abbau sonderpädagogischer Fachkompetenz zu nehmen.“

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Auch mit einer weiteren Fehleinschätzung sollte zum Schluss vielleicht aufgeräumt werden, weil die Detailfragen über die Gesetzesberatung und die dann notwendigen untergesetzlichen Verordnungen auf den Weg gebracht werden müssen. Aber eine Einschätzung wird gern in diesem Zusammenhang in dieser Diskussion immer wieder geäußert: Es sei so, dass in allen anderen europäischen Ländern, insbesondere auch Finnland oder Großbritannien, alle Kinder gemeinsam beschult werden würden.

(Ursula Körtner [CDU]: Das stimmt nicht!)

Dort gebe es inklusive Systeme, die weit besser seien als das deutsche System. Und dann wird der berühmt-berüchtigte Besuch in Südtirol angesprochen.

Bei genauerer Betrachtung der Fakten gibt es in allen Ländern - europäisch wie international - Ein

richtungen, die dort Special Schools, Special Classes, Spezialschulen, Förderschulen, Sonderschulen oder Sonderklassen genannt werden. Es gibt auch vollständige Inklusionsmodelle. Aber allein im hochgelobten Bildungsland Finnland erhält ein Drittel aller Kinder eine sonderpädagogische Förderung, 3 % der Schülerinnen und Schüler befinden sich in Förderschulen für Kinder mit geistiger und/oder schwerer Körperbehinderung. In Großbritannien, wo Kinder mit inklusivem Förderbedarf gar nicht mehr in der allgemeinen Schulstatistik auftauchen, hat man die Frage dadurch gelöst, dass man sie einfach in die privaten Schulen gesteckt hat und sie damit in der öffentlichen Statistik nicht mehr auftauchen.

Meine Damen und Herren, ich will damit nur darauf aufmerksam machen, dass dieses Thema so differenziert zu betrachten ist, dass diejenigen, die immer wieder öffentlich behaupten, das sei jetzt der einzige Weg, Inklusion richtig umzusetzen, in der Regel voll danebenliegen, wenn sie diese Behauptung tätigen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Es geht darum, differenziert vorzugehen. Es geht darum, auf unseren bestehenden Konzepten aufzubauen. Es gibt immerhin 150 RIK-Projekte. 5 816 Klassen an 697 Grundschulen arbeiten bereits quasi inklusiv und damit 30 bis 40 % der Grundschulen. Wir haben Kooperationsklassen, sonderpädagogische Grundversorgung, Integrationsklassen und mobile Dienste. Insofern denke ich, dass es den Koalitionsfraktionen gelungen ist - wir haben mitgeholfen -, einen guten, ausgewogenen, richtungweisenden Gesetzentwurf vorzulegen. Ich kann das mit Blick auf die Kultusministerkonferenz sagen: A- und B-Länder sind sich bei der Umsetzung der Inklusion auf Basis des vorhin erwähnten Positionspapiers einig. Das war die wesentliche Grundlage für den Gesetzentwurf in Niedersachsen.

Zu guter Letzt noch ein Hinweis, Frau Korter: Sie sagen, wir würden das Elternwahlrecht einschränken. Ich glaube, Sie müssen einmal in Ihrem eigenen Gesetzentwurf unter § 4 nachlesen. Ich zitiere:

„Schülerinnen und Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen..., sollen an allen Schulen gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern erzogen und unterrichtet werden,“

- jetzt kommt es -

„wenn auf diese Weise dem individuellen Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler entsprochen werden kann.“

(Ach! bei der CDU - Zuruf von Ina Kor- ter [GRÜNE])

Frau Korter, hatte ich nicht von vorhin in Erinnerung, dass Sie gesagt haben, Sie seien die einzige Partei, die quasi dafür sorge, Kinder an alle Schulen und in die allgemeinbildenden Schulen zu schicken und bloß keine Einschränkung zu machen? - Das mögen Sie mir an diesem Gesetzentwurf bitte einmal erklären! So viel zur Glaubwürdigkeit Ihres Gesetzentwurfs.

(Starker, anhaltender Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, Frau Korter hat um zusätzliche Redezeit gebeten: zwei Minuten!

(Zurufe von der CDU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Althusmann, zu Ihrer Beruhigung: In unserem Gesetzentwurf steht keine einzige Einschränkung des Elternwahlrechts, wie Sie sie vorsehen.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Was bedeu- tet das denn?)

Ich möchte Ihnen aber einmal mit Genehmigung des Präsidenten aus einem Brief zitieren, der auch an die Regierungsfraktionen zu diesem Gesetzentwurf geschickt wurde. Ich zitiere:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

als Mutter dreier Kinder - sieben, fünf und drei Jahre alt, alle mit Handicap - bin ich entsetzt über das, was in Ihrem Gesetzentwurf steht. Sie wollen Müttern bzw. Eltern wie mir und uns helfen, dass unsere Kinder mit Kindern ohne Behinderung lernen können. Warum reden Sie dann nicht mit uns, informieren sich nicht einmal darüber, wie es an der Front aussieht? In meinen Augen ist dieser Gesetzentwurf an Zynismus nicht zu überbieten.“

(Zurufe von der CDU - Unruhe)

- Ja, das wollen Sie nicht hören. -

(Zurufe)

- Darf ich jetzt reden? Sie haben doch noch Redezeit!

„Bezüglich des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung gehen Sie unter dem Punkt ‚Kosten für die Schulträger’ davon aus, dass für höchstens 100 Kinder und Jugendliche Aufwendungen entstehen. Sie gründen Ihre Einschätzung zum einen darauf, dass es kaum Integrationsklassen mit Kindern, die den Förderschwerpunkt GE haben, gibt. Da haben Sie recht, das ist eher die Ausnahme. Aber der Grund liegt nicht darin,“

- jetzt kommt es -

„wie Sie annehmen, dass ihre Eltern eine Förderschule bevorzugen, weil diese so gut ausgestattet sind, sondern dass der Weg zur Integration meines behinderten Kindes ein steiniger, bürokratischer und zum Teil auch erniedrigender Weg ist. Dazu fehlt vielen Eltern die Kraft. Sie haben schon unheimlich viel im Alltag zu bewältigen.“

Und am Ende heißt es:

„Ihr Gesetzentwurf hat mit Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention nicht viel zu tun. Der Wille, mein Kind auf eine Regelschule zu schicken, kann mit der Begründung der Landesschulbehörde, für das Kindeswohl wäre es besser, das Kind auf eine Förderschule zu schicken, untergraben werden. Wo bleiben da die Rechte meiner Kinder auf Bildung auf der Grundlage der Chancengleichheit und ohne Diskriminierung?“