Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

(Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Bis zur letzten Minute muss das möglich sein!)

Das müsste bis zur letzten Minute möglich sein. Eine entsprechende Änderung können wir herbeiführen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Ich komme zur Großen Anfrage.

Immer mehr minderjährige Flüchtlinge kommen ohne Begleitung nach Niedersachsen. Das ist ein zentrales Ergebnis dieser Großen Anfrage. Die Zahl dieser Kinder und Jugendlichen hat sich innerhalb von drei Jahren verfünffacht. Während sich im Jahr 2008 noch 40 Flüchtlinge als alleinreisend und jünger als 18 Jahre bei den niedersächsischen Ausländerbehörden gemeldet hatten, waren es ein Jahr später 118 und im Jahr 2010 schließlich 203 Flüchtlinge. Für das erste Halbjahr 2011 meldeten die Behörden bereits 104 Flüchtlinge, die sagten, nicht volljährig zu sein.

Meine Damen und Herren, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gelten als die verletzlichste Gruppe unter den Flüchtlingen. Es handelt sich um Kinder und Jugendliche, die ohne erwachsene Begleitung auf der Flucht aus ihrem Herkunftsland sind. Oft wurden sie unter dramatischen Umständen von ihrer Familie getrennt, haben die Schrecken des Krieges, Armut, Hunger und sexuelle Gewalt erlebt. Diese Jugendlichen haben in einer prägenden Entwicklungsphase Traumatisches mitgemacht: Krieg, Armut, sexuelle Gewalt.

Meine Damen und Herren, im Aufnahmeland sind die Perspektiven dieser Kinder und Jugendlichen durch ein hohes Maß an Unsicherheiten geprägt. Aufgrund ihrer Erlebnisse und ihrer aktuellen Situation haben sie häufig mit seelischen und gesundheitlichen Belastungen zu kämpfen. Deshalb sind die Aufnahmeländer den jungen Flüchtlingen ge

genüber durch internationale Rechtsnormen im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention und des Haager Minderjährigenschutzabkommens zu einer besonderen Fürsorge verpflichtet.

Lassen Sie mich Ihnen die komplizierte Situation beschreiben. Geradezu schizophren ist die Situation der 16- bis 18-Jährigen aus dieser Gruppe, da sie gemäß § 12 des Asylverfahrensgesetzes wie erwachsene Asylbewerber behandelt werden. Dabei fallen sie als Minderjährige gleichzeitig unter den Schutz des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, des KJHGs. Trotz des gesetzlichen Anspruchs erhalten nur wenige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dieser Altersstufe Unterstützung im Rahmen des KJHGs. Wenn sie ein Asylverfahren beanspruchen, werden sie generell in Erwachsenenunterkünften untergebracht. Hier sind sie besonders stark von sozialer Isolation bedroht und erhalten keinerlei altersgemäße Hilfen.

Nach § 42 des SGB VIII sind die Jugendämter zur Inobhutnahme verpflichtet. Das Jugendamt hat somit im Vorfeld der Inobhutnahme zu prüfen, ob es sich bei der Person um ein Kind oder einen Jugendlichen unter 18 Jahren handelt, die unbegleitet eingereist ist und deren sorgeberechtigte Person sich nicht im Inland aufhält.

Der Kontakt mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stellt die Jugendämter oftmals vor große Probleme: Wer genau ist für diese jungen Menschen zuständig? Wie ist mit ihnen konkret zu verfahren? Was beinhaltet eine qualifizierte Inobhutnahme?

Ich denke, es ist gut, dass wir dieses Thema hier diskutieren und die Situation dieser speziellen, dieser verletzlichsten Gruppe unter den Flüchtlingen eine Öffentlichkeit bekommt.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die die Antworten auf die Anfrage zusammengetragen haben. Allerdings - und das ist hier schon mehrfach angeklungen -: Die Datenlage ist alles andere als befriedigend. Der Grund hierfür ist, dass zu den in der Großen Anfrage gestellten Fragen keine regelmäßigen Auskünfte und Daten erhoben werden. So haben nur etwas mehr als 60 der befragten Jugendämter geantwortet, und nur 24 Jugendämter haben zwischen 2008 und Ende Juli 2011 unbegleitete Flüchtlinge in Obhut genommen. Es ist schlicht und ergreifend so - ich zitiere aus der Antwort der Landesregierung, Frau Präsidentin -:

„Detaillierte Statistiken, wie sie für die Beantwortung der Großen Anfrage benötigt werden würden, sind nicht verpflichtend und werden nicht von allen Jugendämtern geführt.“

Ähnliches gilt auch für die Ausländerbehörden. Sie alle haben zwar auf die Anfrage geantwortet, aber nicht jede sah sich dazu in der Lage, exakte Angaben mitzuteilen. Auch hier werden für die Beantwortung der Großen Anfrage notwendige Statistiken nicht geführt. Ich zitiere jetzt aus der Antwort:

„19 Ausländerbehörden - darunter bezogen auf die Einwohnerzahl des Zuständigkeitsbereiches einige recht große Behörden - meldeten Fehlanzeige, weil ihnen keine unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländer zugeführt wurden oder hierzu keine Daten erhoben wurden und diese im Nachhinein auch nicht mehr ermittelt werden können.“

Die Landesregierung kommt zu dem Schluss, dass kein empirisch belastbares Datenmaterial im Sinne einer landesweiten Gesamtübersicht bzw. Vollerhebung vorliege. Das gilt sowohl für die absolute Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge als auch für ihre Herkunftsländer, ihre Unterbringung in Niedersachsen usw. usf. Das ist völlig inakzeptabel, meine Damen und Herren.

Es geht aber noch weiter: Im Erhebungszeitraum wurden 521 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen. 164 waren männlich, 19 weiblich. 521 wurden aufgenommen. Jetzt fragen sich sicherlich einige unter Ihnen: Was war mit dem Rest? - Man höre und staune: 338 der unbegleiteten Minderjährigen wurden nicht nach Geschlecht differenziert gemeldet. Allein diese Feststellung zeigt den nachlässigen Umgang mit unbegleiteten Flüchtlingen auf. Man hat nicht den Eindruck, dass der Situation dieser jungen Menschen die nötige Sensibilität entgegengebracht wird. Das Thema wird stiefmütterlich behandelt und einfach weggeschoben.

Die Problematik der Altersfeststellung haben meine Kolleginnen Zimmermann und Polat bereits erwähnt. Auch dieses Thema ist absolut problematisch.

Wir können noch von einer weitaus höheren Dunkelziffer der sich unbegleitet in Niedersachsen aufhaltenden minderjährigen Flüchtlinge ausgehen. Somit wird auch die Dunkelziffer derjenigen Min

derjährigen, die wie Erwachsene behandelt werden, um einiges höher liegen. Deshalb, meine Damen und Herren, habe ich in diesem Zusammenhang einige Forderungen an die Landesregierung.

Erstens. Sie muss auf einen sensibleren Umgang mit der in Rede stehenden Gruppe hinwirken und eine spezielle Dienstanweisung für Behörden erarbeiten, die den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen regelt.

Zweitens. Alle zu dieser Gruppe zählenden Personen müssen unmittelbar in Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt kommen können.

Drittens. Sie dürfen nicht in Abschiebehaft genommen werden. Außerdem brauchen sie ein Asylverfahren, das Kindern und Jugendlichen entspricht.

Viertens. Das Kindeswohl muss Vorrang vor ordnungspolitischen Forderungen haben. Die UN-Kinderrechtskonvention muss auch hier eingehalten werden.

Diese Maßstäbe müssen eingehalten werden, egal, woher ein Kind kommt und welchen Aufenthaltsstatus es hier bei uns hat.

Vielen Dank.

(Starker Beifall bei der SPD und Zu- stimmung bei der LINKEN)

Herzlichen Dank. - Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Herr Kollege Focke das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei unserem Innenminister Uwe Schünemann und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium für die Beantwortung der Fragen bedanken.

Vor dem Hintergrund, dass die örtlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe für die Inobhutnahme und die Betreuung der Minderjährigen zuständig sind, möchte ich mich an dieser Stelle auch bei den 37 Landkreisen und kreisfreien Städten bedanken, die bei der Beantwortung der Großen Anfrage mitgeholfen haben. Das ist nicht selbstverständlich und bedarf hier besonderer Erwähnung.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, hier in dieser Debatte versuchen Sie wieder ganz unverdrossen, ein Bild von der Bundesrepublik Deutschland zu zeichnen und so zu tun, als ob dieser Staat unzuverlässig ist.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Von Nie- dersachsen!)

- Sie tun so, als ob dieser Staat insgesamt und auch Niedersachsen

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Beson- ders Niedersachsen!)

unzuverlässig sind oder jegliche Form von Menschenrechten verletzen. Das ist nicht der Fall. Diese Unterstellungen, die Sie hier in Fragen der Flüchtlingspolitik immer wieder in den Raum stellen, sind schlichtweg falsch und werden der wahren Situation nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU - Filiz Polat [GRÜNE]: Kennen Sie die Aussagen des Menschenrechtskommissars?)

Wer hierherkommt, hat hier nach den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention dann, wenn er in seinem Land tatsächlich von Folter oder Tod bedroht ist, nicht nur ein verbrieftes, sondern ein reales Recht, hierzubleiben. Dafür brauchen wir aber auch weiterhin die Einzelfallprüfung, und zwar auch bei minderjährigen Flüchtlingen. Ich bin dem Innenminister insbesondere für seine zweite Wortmeldung dankbar, mit der er das hier noch einmal klargestellt hat.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Sie haben keine Ahnung, Herr Focke!)

- Was haben Sie gesagt? Können Sie das wiederholen?

(Filiz Polat [GRÜNE]: Sie haben keine Ahnung!)

- Ah ja, vielen Dank.

(Editha Lorberg [CDU]: Ahnung hat nur Frau Polat! - Weitere Zurufe)

- Also Frau Polat, entschuldigen Sie. Dieser Zwischenruf ist nun wirklich peinlich. Wenn Sie der Petition, über die wir hier gesprochen haben, hier im Parlament zustimmen, diesen Fall hier aber wieder anbringen und darauf hinweisen, dass das falsch war, dann ist das an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten. Sie bringen hier Dinge ein, die schon längst erledigt sind und bei denen Sie selbst der Unterrichtung über die Sach- und Rechtslage zugestimmt haben. Peinlicher kann es nun nicht mehr werden.

(Zustimmung bei der CDU)

Herr Kollege Focke, bevor Sie fortfahren, möchte ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Polat gestatten.

Nein, danke.

(Ach! bei den GRÜNEN)

- Ich möchte nicht, dass es noch peinlicher für Sie wird.