Protokoll der Sitzung vom 09.10.2008

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der LINKEN)

Wie viele Menschen leben in Niedersachsen mit einer Duldung? - Ende 2006 lebten ca. 22 000 Geduldete in Niedersachsen, zwei Drittel davon länger als acht Jahre, 7 000 Menschen aber bereits länger als zehn Jahre. Unter den Geduldeten - das möchte ich hier besonders betonen, Herr Schünemann - sind knapp 6 000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. Würde man sich auf die Zahl der unter 25-Jährigen beziehen, so käme man auf eine noch weit größere Zahl. Allein 5 000 dieser Menschen sind hier geboren. Wie viele Senioren zu diesem Personenkreis zählen, die uns aus Ihrer Sicht, Herr Schünemann, zur Last fallen könnten, möchte ich hier ebenfalls erwähnen. Es sind knapp 300 Menschen, die in das Rentenalter eingetreten sind, 300 Menschen unter ca. 8 Millionen Niedersachsen - das sind 0,015 % -, die quasi vom Bleiberecht ausgeschlossen werden.

Was sagen uns diese Zahlen? Ein besserer Altersdurchschnitt in diesem Parlament? - Wohl kaum! Die Zahlen verdeutlichen uns, dass dieser Personenkreis, der im Übrigen 0,25 % der Gesamtbevölkerung bei uns in Niedersachsen ausmacht, ein sehr junger und dynamischer Personenkreis ist. Er wäre insofern für eine alternde und schrumpfende Gesellschaft eigentlich doch wertvoll und wichtig. Deshalb frage ich Sie, Herr Schünemann: Wovor haben Sie Angst?

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Die Antwort auf die Große Anfrage - das hatte ich bereits vorgestern erwähnt - ist von Pauschalverdächtigungen, Stereotypen und einem tiefen Misstrauen gegenüber diesen Menschen durchzogen. Sie lassen die Flüchtlinge wie faule Betrüger und Lügner erscheinen. Ein Drittel von ihnen - fast 50 % - davon sind Kinder und Jugendliche. Ist das Ihr christliches Menschenbild, das Sie prägt? - Erschreckend!

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Ein immer wiederkehrender Glaubenssatz durchzieht die Antwort der Landesregierung und scheint wie eine Missionsbotschaft dieses Innenministers über ihr zu schweben: die Zuwanderung in die Sozialsysteme. Mit dieser Botschaft ist unser Minister mit Rückendeckung seines Ministerpräsidenten losgezogen und hat auf allen Ebenen versucht, eine gesetzliche Altfallregelung bis zuletzt zu verhindern.

(Hans-Christian Biallas [CDU]: Das ist auch genau richtig!)

- Das stimmt, genau. - Es halfen auch keine Appelle von Caritas, Jüdischer Wohlfahrt und Diakonie. Nicht einmal Bischof Trelle konnte die Landesregierung und auch nicht die Mehrheit von CDU und FDP, Herr Althusmann, davon überzeugen, dass dieser Innenminister auf einer Irrfahrt ist.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Desin- tegrationsminister!)

Ich zitiere: Wir dürfen nicht alle Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen, appellierte in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Bischof Trelle an Sie. Herr Schünemann hat sich nicht umstimmen lassen. Er hat am Tag vor der Innenministerkonferenz, der entscheidenden Ministerkonferenz im November 2006, den bereits ausgehandelten Kompromiss der Bundesregierung torpediert und mit seinem damaligen Amtskollegen Beckstein verhindert. Vielleicht sollten Sie dem Beispiel von Herrn Beckstein folgen und abdanken.

Warum haben Sie diesen Kompromiss verhindert? - Sie wollten keine Aufenthaltserlaubnis auf Probe. Sie wollten nicht, dass die Menschen eine Chance bekommen, mit einer Aufenthaltserlaubnis eine Arbeit zu suchen, wenn Sie noch keine vorweisen konnten. Ich erinnere an den Text, den Sie geschrieben haben: Daueraufenthalt bei Dauerbeschäftigung.

Stattdessen mahnte Schünemann in der taz am 16. November 2006, dem Tag der Innenministerkonferenz - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -:

„Die Flüchtlinge sollen erst das Aufenthaltssiegel erhalten, wenn sie bereits Arbeit vorweisen können. Das würde für viele Geduldete, die seit Jahren nicht arbeiten dürfen, den Rauswurf bedeuten.“

Karl Weber vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat hat dies zu Recht als zynisch bezeichnet, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Es geht beim Bleiberecht für die gesamten Altfälle nicht um die Einwanderung in die Sozialsysteme - ich betone noch einmal, dass diesem Personenkreis viele Kinder und Jugendliche angehören -, sondern um die Auswanderung aus den Sozialsystemen. Der niedersächsische Alleingang war deshalb wieder einmal zum Scheitern verurteilt. Ich erinnere hier an die Härtefallkommission. Die gesetzliche Bleiberechtsregelung, auch Altfallregelung genannt, konnte im letzten Jahr trotz massiven Protestes von Minister Schünemann durchgesetzt werden. Sie haben das anscheinend nicht verkraftet und versuchen nun, durch die Anweisung an Ihre Ausländerbehörden Ihre konservative Position dennoch durchzusetzen.

Ich möchte die restriktive Praxis in Niedersachsen an einigen Antworten der Landesregierung deutlich machen.

Erstens nenne ich das Kirchenasyl als drastisches Beispiel. Die Flucht in die sakralen Räume eines Gotteshauses ahndet Niedersachsen mit der Versagung des Bleiberechts.

Zweitens: Familien mit Kindern. Das Bundesinnenministerium unter Herrn Schäuble hat die besondere finanzielle Situation von Eltern erkannt und entsprechend in seinen Anwendungshinweisen zur Altfallregelung unter ausdrücklichem Verzicht auf Nennung zeitlicher Grenzen geregelt, dass es ausreicht, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Familie nicht dauerhaft ergänzende Sozialleistungen beziehen wird. Das war Herrn Schünemann offenbar zu lasch. Er verfügt in seiner Verwaltungsvorschrift, dass der Leistungsbezug nicht länger als sechs Monate dauern dürfe. Für viele bedeutet das den Ausschluss von der

Bleiberechtsregelung. Das ist restriktiv, inakzeptabel und geht auch anders.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD sowie von Kreszentia Flauger [LINKE])

Herr Schünemann überholt damit wieder einmal einige andere Bundesländer auf der härteren Schiene.

Drittens. Bei der Berücksichtigung und Wertschätzung von Integrationsleistungen zeigen andere Länder ebenfalls den richtigen Weg auf. Dort sollen Flüchtlinge im Hinblick auf ihre Integrationsbemühungen eine neue Chance erhalten. Auch das Bundesinnenministerium schreibt die Abwägung von Integrationsleistungen mit den vorhandenen Ausschlussgründen vor. Dass eine solche Abwägung überhaupt möglich sein soll, wird in den niedersächsischen Vorschriften unterschlagen. Das ist niedersächsische Flüchtlingspolitik, wie wir sie kennen!

Bei dieser Anwendungspraxis verwundert es nicht, dass die in der Antwort der Landesregierung genannten Zahlen nicht begeistern können. Nur 21,7 % der Geduldeten haben in Niedersachsen eine Aufenthaltserlaubnis nach der Länder- oder Bundesregelung bekommen. Ich möchte betonen, dass bei 80 % die Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung bis Ende 2009 befristet ist und dann eine Verlängerung beantragt werden muss. In Niedersachsen wird dies für viele ein böses Erwachen geben. Viele Anträge wurden bereits abgelehnt. Die Gründe für die Ablehnung werden angeblich statistisch nicht erfasst. Die letzten Fragen der Großen Anfrage haben Sie entweder gar nicht oder falsch beantwortet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Meine Fraktion wird deshalb im Rahmen ihrer Bleiberechtstour unter dem Motto „Gekommen, um zu bleiben“ weiterhin der Praxis vor Ort auf den Grund gehen müssen. Wir werden weiterhin das Gespräch mit den Ausländerbehörden und Flüchtlingsinitiativen suchen. Die Erkenntnisse und Fakten, die man vor Ort bekommt, sind deutlich erhellender als das, was Sie uns hier abgeliefert haben.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Es ist wirklich unglaublich, dass dieser Minister versucht hat, diese Besuche durch ein Schreiben an alle Behörden zu verhindern.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Was wir vor Ort erfahren, werden wir dennoch zusammenfassen und veröffentlichen. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Es wird spannend.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Für die Landesregierung erteile ich nun Herrn Minister Schünemann das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Polat, wenn Sie eine Große Anfrage stellen und das Land zuständig ist, dann ist es sinnvoll, dass man hier die Antworten gibt. Wir haben parallel auch den Kommunen Fragen zugeschickt.

(Widerspruch von Filiz Polat [GRÜ- NE])

- Natürlich! Die Fragen liegen mir vor. Ich kann sie Ihnen gleich geben. Aber vielleicht sollte ich zunächst einmal antworten.

Sie haben dargestellt, dass es nicht in Ordnung sei, wenn die Landesregierung Ihnen schreibe, dass das natürlich Doppelarbeit sei. Allerdings haben Sie diese Fragen an die Kommunen nicht ernst gemeint; denn ausweislich eines Artikels der taz sagen Sie ja selber:

„’Normalerweise guckt ihnen niemand in die Karten’, sagt Polat. Eine Antwort auf die Fragen habe man dabei gar nicht erwartet.“

(Heiterkeit bei der CDU)

Sie haben den Kommunen also Fragen geschickt, sagen aber selber: Eigentlich interessiert mich gar nicht, was da gemacht wird. - Deswegen ist es wichtig, dass wir hier, im zuständigen Parlament, die Antworten geben und darüber diskutieren. Aber wie ernsthaft Ihre Aktion ist, wird daran deutlich. Sie versuchen vor Ort immer wieder, etwas darzustellen, was nicht stimmt, nämlich dass die niedersächsischen Behörden inhumaner arbeiten als andere.

Die Ausländerbehörden haben in einer ganz schwierigen Situation zu arbeiten. Sie haben sich

zu Recht an Gesetzen zu orientieren. Insofern weise ich Ihre Verunsicherungsversuche zurück. Ich habe großen Respekt vor denjenigen, die in diesen kommunalen Behörden arbeiten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, die Überschrift heißt ja: „Wendet die Landesregierung die Bleiberechtsregelung zu restriktiv an?“ Diese Große Anfrage kann man mit einem kleinen Nein ganz schnell beantworten. Das haben wir Ihnen in der Antwort ja auch dargelegt.

Wenn ich die Einzelfragen betrachte, komme ich zu dem Ergebnis, dass die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auch all diejenigen begünstigt sehen will, die - darauf kommt es an - sich jahrelang geweigert haben, ihrer Ausreisepflicht nachzukommen, die ihre Pflicht zur Identitätsaufklärung und Passbeschaffung nicht erfüllt haben und die ihren Lebensunterhalt auch weiterhin aus öffentlichen Mitteln bestreiten. Dazu sage ich Ihnen: Genau das lehnt die Landesregierung ab, und zwar aus guten Gründen.

(Beifall bei der CDU)

Das will die Landesregierung nicht. Sie befindet sich mit ihrer Haltung übrigens auch im Konsens mit dem Bund und den anderen Ländern. Wenn Sie hier etwas anderes darstellen, dann ist das schlicht die Unwahrheit. Denn es kann nicht angehen, allen ausreisepflichtigen Ausländern ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, wenn sie sich nur lange genug ihrer Verpflichtung zur Ausreise widersetzen. Diese Regelung hat es nie gegeben, und diese Regelung wird es auch nicht geben. Das kann nicht akzeptiert werden.

(Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Eine Ausnahme von der Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung kann nur bei denjenigen gemacht werden, die besondere Anstrengungen unternommen haben, sich sozial und wirtschaftlich in Deutschland zu integrieren. Das ist auch aus Gründen der Gerechtigkeit geboten.

Meine Damen und Herren, ich will es noch einmal deutlich sagen: Die Entscheidung darüber, wer nach Deutschland einreisen darf und ein Aufenthaltsrecht bekommen kann, trifft nach der Zuständigkeitsabgrenzung des Grundgesetzes der Bundesgesetzgeber. So sind im Aufenthaltsgesetz die jeweiligen Zwecke festgelegt worden, zu denen ausländischen Staatsangehörigen ein Aufenthalts

recht in Deutschland erteilt werden kann. Ebenso deutlich ist aber auch bundesgesetzlich geregelt worden, dass diejenigen Ausländer, die keinen gesetzlichen Aufenthaltszweck erfüllen oder die nach erfolglos durchlaufenem Asylverfahren ausreisepflichtig sind, unser Land wieder zu verlassen haben. Ihnen wird zunächst die Gelegenheit gegeben, freiwillig, mit finanzieller Unterstützung, die ihnen den Neuanfang erleichtert, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Wenn ausreisepflichtige Ausländer diese Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise nicht nutzen, sind die Ausländerbehörden gesetzlich verpflichtet, den Aufenthalt der Betreffenden durch Abschiebung zu beenden.