Protokoll der Sitzung vom 27.02.2008

(Ulf Thiele [CDU]: Haben Sie nicht! Da steht nämlich drin, dass es möglich ist, eine Onlinedurchsuchung durch- zuführen! - Gegenruf von Ursula Helmhold [GRÜNE]: Herr Thiele, kümmern Sie sich lieber um das De- mokratieverständnis Ihrer Mehrheit! Die haut nämlich ab, wenn die Oppo- sition spricht!)

Für die Herausforderungen der Zukunft, Herr Thiele, reicht auch keine Rochade zwischen Bildungs- und Justizministerium. Beim Schach ist eine Rochade manchmal sinnvoll, entweder weil man den Turm freispielen und gleichzeitig den König hinter einer gestaffelten Abwehr schützen will - das kann als früher Schachzug eine aktive Angriffsposition sein - oder wenn die eigene Hütte brennt und beim Chef das Muffensausen beginnt -

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

dann kann der Tausch der Versuch sein, den König aus dem größten Getümmel herauszubekommen und etwas Zeit zu gewinnen.

(Björn Thümler [CDU]: Na, na, na! Et- was vorsichtig bitte!)

Ihre Personalrochade gehört zum zweiten Typ.

Im Kultusministerium riecht es mittlerweile mehr als angebrannt. Die Stärkung der Hauptschulen ist gescheitert. Das wissen auch Sie. Das war der Kern der Entscheidung, die hinter dieser merkwürdigen Rochade stand. Die Eltern flüchten mit ihren Kindern. Zurück bleiben Schulen mit Anmeldungen von zehn, acht oder gar nur vier Schülerinnen und Schülern. Aber selbst das hat die Herren Busemann und Rösler nicht davon abgehalten, das Projekt Hauptschule um jeden Preis halten zu wollen. Dafür waren Sie, Herr Rösler, offenbar sogar bereit, den freien Elternwillen zu opfern.

(Jörg Bode [FDP]: Das war doch glatt gelogen!)

Meine Damen und Herren, in dieser Lage bekam dann auch noch das Flaggschiff der konservativen Schulpolitik, das Gymnasium, plötzlich Schlagseite. Mit der Verkürzung der Schulzeit hatte man Kinder, Eltern und Lehrer so lange allein gelassen,

bis der Philologenverband - der Philologenverband, Herr Althusmann! -

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Der gilt nicht als revolutionär!)

schließlich forderte, dass wieder menschliche Zustände herbeigeführt werden müssten.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie Zu- stimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Ihre G8-Reform ist genauso gescheitert wie Ihre Hauptschulpolitik. Zurück bleiben leider viel zu viele Kinder ohne Schulabschluss.

(Björn Thümler [CDU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Meine Damen und Herren, wenn man heute in Unternehmen nach den wichtigsten Standortfaktoren fragt, die die Arbeitsplätze im Zeitalter der Globalisierung sichern, dann kommt als Antwort: Der wichtigste Standortfaktor sind die Ausbildung, die Qualifikation und die Kreativität meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. - Viele Unternehmen in Niedersachsen klagen mittlerweile über Fachkräftemangel, obwohl wir nach wie vor eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit haben. Hier liegt tatsächlich der Kern des Versagens dieser Landesregierung.

(Björn Thümler [CDU]: Falsch!)

An dieser Stelle hat sich ja auch Herr McAllister sehr zurückhaltend geäußert; viel hat man zu diesem Thema von ihm nicht gehört.

Mehr als 8 % aller Kinder eines Jahrgangs schicken Sie ohne Schulabschluss in die Welt. Ihre Schule diskriminiert Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. Fast 20 % dieser Kinder schicken Sie ohne Schulabschluss in die Welt. Fast 20 %! Das ist tatsächlich eine sozialpolitische Katastrophe,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

weil diese Jugendlichen nämlich kaum Chancen haben, einen vernünftigen Job zu finden. Das ist auch eine bildungspolitische Katastrophe, die das Versagen unserer Schulen dokumentiert.

Auch im Justizbereich, Herr Busemann, zeigen sich die verheerenden Folgen dieser verfehlten Bildungspolitik. Wenn in der Jugendstrafanstalt in Hameln zu mehr als 95 % Jugendliche ohne Schulabschluss sitzen, dann zeigt auch das, wohin

es führen kann, wenn eine Gesellschaft jungen Menschen jede Chance auf Teilhabe verweigert.

Herr Wenzel, entschuldigen Sie! Erlauben Sie eine Zwischenfrage Ihrer Kollegin Frau Helmhold?

(David McAllister [CDU]: Was ist das denn?)

Gerne.

Herr Kollege Wenzel, finden nicht auch Sie es etwas befremdlich, dass, nachdem schon große Teile der rechten, selbst ernannten „bürgerlichen“ Mehrheit diesen Saal verlassen haben, diese Aussprache über die Regierungserklärung stattfindet, praktisch ohne dass die Vertreter der Regierung anwesend sind?

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Ministerin Mechthild Ross-Luttmann erhebt sich von ihrem Abgeordnetenplatz)

Frau Kollegin, das ist in der Tat merkwürdig. Die Opposition ist deutlich besser präsent als die Regierungsfraktion.

(Dr. Philipp Rösler [FDP]: Körperlich, nicht geistig!)

Meine Damen und Herren, die Koalition bietet diesen Schülerinnen und Schülern, die ohne Schulabschluss die Schule verlassen müssen, keine Perspektiven. Hier ist ihre personalpolitische Rochade lediglich Symbol für Realitätsverweigerung. „Was soll das?“, titelt dann sogar die Bild-Zeitung am Tag nach diesem seltsamen Tauschgeschäft. Man kann es sich nur damit erklären, dass auch Frau Heister-Neumann in ihrem alten Ministerium ruiniert war. Gründlich missraten ist nicht nur die Justizreform, sondern auch das jüngste Gesetz zur Reform des Strafvollzugs.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Ich glaube, an dieser Stelle können Sie mir kaum widersprechen, Frau Heister-Neumann. Die Gerichte wurden lahmgelegt. Die Weihnachtspost der Gefangenen kam erst im Februar an. Wie man nun

ausgerechnet zu dieser Rochade kam, das bleibt wohl auf ewig das Geheimnis der Regierung Wulff.

Herr Hirche, im Vorspann und im Abspann Ihrer Regierungserklärung behaupten Sie, dass Sie moderne Politik machen würden. Aber wissen Sie, was heute modern ist? - Ich empfehle der CDU an dieser Stelle mehr Zeitungslektüre.

Die HAZ vom 20. Februar schreibt unter der Überschrift „Mehr Frauen in Aufsichtsräten gefordert“, die neue Präsidentin des Unternehmerinnenverbandes setze sich auch für leichteren Wiedereinstieg in den Beruf ein. - Mehr Frauen in Führungspositionen? Das wäre modern! Bei Schwarz-Gelb Fehlanzeige! Zwei Ministerinnen - mehr nicht.

Noch ein Beispiel für Modernität. Wieder ein Zitat aus der HAZ vom 20. Februar. Der Verein „Mehr Demokratie“ fordert von CDU und FDP, in ihren Koalitionsverhandlungen die Bedingungen für Bürgerentscheide in den Kommunen zu verbessern. - Mehr Demokratie? Das wäre modern! Bei Ihnen Fehlanzeige!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was kann man daraus lernen? Über Modernität können Sie heute in der Zeitung an einem einzigen Tag mehr lesen als bei CDU und FDP in einem ganzen Jahr.

Wollen Sie noch ein Beispiel haben? Auch Sie haben das gelesen. Eine neue Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung hat ermittelt, dass 55 % der Niedersachsen für den Nordstaat sind. Das wäre doch eine echte Herausforderung für einen engagierten Ministerpräsidenten. Dann könnten wir auch den unsinnigen Hafensubventionswettbewerb beenden und viel Verwaltung einsparen. Haben Sie vielleicht schon einmal darüber nachgedacht, wie viel innovatives Potenzial in einer solchen Option steckt? Das wäre modern. Aber für CDU und FDP ist auch das unwahrscheinlich. Angesichts der hasenfüßigen Koalitionsvereinbarung haben Sie sich mehr mit kleinteiligen Reformideen beschäftigt.

Auch Ihr Parteimitglied Hoffmann in Braunschweig wurde gleich wieder ausgebremst. Herr Schünemann hat sofort Stoppschilder aufgestellt, damit niemand anfängt, darüber nachzudenken, ob alles, was Sie dort planen, zukunftsfähig ist.

Meine Damen und Herren, das neue Regierungsprogramm von CDU und FDP ist insgesamt von einer erstaunlichen Mutlosigkeit geprägt.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Im Finanzteil - ein Kernstück, wie Sie sagen, Herr McAllister - nur vage Versprechen. Alles, was im Wahlkampf als ganz sicher, was großspurig angekündigt wurde - Verschuldungsverbot, Pensionsfonds -, ist jetzt mit Prüfaufträgen versehen, mit Zeitlimits und kaum erfüllbaren Voraussetzungen verbunden.

Ich sage Ihnen eines: Keines Ihrer finanzpolitischen Versprechen wird erfüllt werden; auch dann nicht, wenn Sie die NORD/LB zum zweiten Mal verkaufen. Sie haben sie schon einmal an die HanBG verkauft. Sie werden sagen, dass die Lage an den Finanzmärkten schuld sei. Ich sage Ihnen: Das haben Sie schon vor der Wahl absehen können. Ich fürchte, dass Sie am Ende wirklich die Messe AG verkaufen, um Ihre Versprechungen zu retten. Wirtschaftspolitisch sinnvoll wäre das nicht. Im Gegenteil!

An den Universitäten, wo es um Forschung, Entwicklung und Innovation geht, kein Schritt nach vorn, keine Vorsorge für den doppelten Abiturjahrgang 2011, Herr Zielke; nur der fromme Wunsch - das ist fast der peinlichste Satz in der Regierungserklärung von Herrn Hirche und Herrn Wulff - an das ehrenamtliche Engagement der Professoren, sie möchten bitte mehr Lehrveranstaltungen zur Verfügung stellen,

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

und ein Appell an die Ausbildungsbetriebe. Wollen Sie das wirklich die jungen Menschen ausbaden lassen? Das sind 70 000 bis 80 000 junge Menschen, die dann auf den Arbeitsmarkt drängen, die studieren wollen, die eine Ausbildung machen wollen. Wo ist Ihre Vorsorge? Ihre Regierungserklärung enthielt nichts, was hierfür wirklich eine Perspektive bietet.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Keine Perspektive für Studenten aus ärmeren Familien, die Probleme haben, die Studiengebühren zu bezahlen.

Gründlich missverstanden haben Sie auch die Betreuungsgutscheine, die in Hamburg einmal ausprobiert wurden. Das ist ein bürokratisches Monstrum, Herr Rösler, das Wahlfreiheit vorgaukeln soll.