Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann nicht sagen, dass ich Altbundeskanzler Schröder viele Tränen nachweine. Aber mit immerhin einer Aussage lag er richtig:
„Atomtransporte quer durch die Republik, die nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, passen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Demokratie.“
Die Realität eines Castortransports ist völlig anders: 17 000 Einsatzkräfte, Aushebelung der Grundrechte, Verbotskataloge. Diesmal ersparte sich der Herr Innenminister sogar noch die Begründung seiner Verbotsverfügung und sein Märchenbuch, das er früher „Gefahrenprognose“ nannte. Peinlich ist noch ein weiteres Verhalten der Landesregierung: Die Strahlung der Atommüllbehälter lag deutlich höher als in den Vorjahren. Das NMU sagt aber, Grenzwerte seien unterschritten worden. Eines ist jetzt schon klar, meine Damen und Herren: Verstoßen haben sowohl die Betreiber als auch die Aufsichtsbehörden gegen das gesetzlich vorgeschriebene Minimierungsverbot.
Und wieder drückte die Landesregierung beide Augen zu; ob schlafend oder wohlwollend, werden wir noch ergründen. Also werden wir, wenn das
Land schläft, in Lüchow-Dannenberg tätig werden und unser Recht auf Einsicht in die Messwerte dort wahrnehmen.
„Atomchaoten kosten den Steuerzahler 30 Millionen“, titelte die Berliner Zeitung. Damit suggeriert sie, wie immer verunglimpfend: alles nur schwarzer Block im Wendland. Nein, mitnichten, meine Damen und Herren! Die, die dort protestieren, sind mein Nachbar, der einen Gartenbaubetrieb hat, der Tischlermeister, der mit mir im Stadtrat in Dannenberg sitzt, der Conti-Arbeiter, die Lehrerin, massenhaft Schülerinnen und Schüler, fast die komplette Ärzteschaft und vor allem die Pastorenschaft. Die Atomchaoten sind andere: Das sind die, die ein Endlager in einem absaufenden Salzbergwerk anlegten, die, die Atomenergie sponsern und ohne ausreichende Versicherung laufen lassen, die, die schon jetzt 40 Milliarden Euro an Steuergeldern für Schwarzbauten und Sackgassen verschwendet haben,
Meine Damen und Herren, wo nicht gesprochen wird, suchen sich die betroffenen Menschen eine andere Sprache, nämlich die der Straße und des zivilen Ungehorsams. Sie setzen und legen schlichtweg ihre Körper in den Weg. Listige Bauern stellen Betonpyramiden vor den Castor und gegen die Beton-Atompolitik.
Sie sagen, sie wollen keine Konfrontation, und sie wollen mit dem Innenminister Schünemann sprechen. Der hatte neun Stunden Zeit dazu; denn so lange hatten sie ihre Arme in dem Betonklotz. Aber natürlich ist es unter der Würde des Herrn Innenministers, mit Bauern über ihre bedrohte Existenz zu reden.
Aber, Herr Innenminister, eines sage ich Ihnen ganz deutlich: Mein Herz lacht bei so viel kreativer Energie gegen die Milliardenlobby und gegen eine Politik, die nur verschiebt, verschaukelt, verschweigt, verdrängt und vertuscht und die niemals zur Rechenschaft gezogen wird, so wie es auch bei der Finanzkrise der Fall ist.
Mein Herz lacht, wenn 16 000 Menschen am vergangenen Samstag auf der Demonstration in Gorleben zusammen rufen: „Yes, we can!“ und „Mokt dat Mul op!“ Die meisten von ihnen meinen damit im Übrigen nicht den Erhalt des fadenscheinigen Atomkonsenses, sondern das Abschalten der Atomenergie ohne Wenn und Aber.
Mein Herz lacht, wenn die Clowns mit Spaß und Lust, mit Klobürste und Staubwedel die ganze Absurdität der gepanzerten Staatsmacht entlarven.
Der Dialog während der Castortage im Wendland ist sehr einseitig: mit Flüstertüte, mit Räumungsbefehlen, mit NATO-Draht, Observierung, Hubschraubern und 17 000 gepanzerten Einsatzkräften. Erzählen Sie mir nichts von Deeskalation! Ich habe es diesmal gesehen, gehört und wieder am eigenen Körper hautnah gefühlt,
das ganze Arsenal von Maßnahmen unmittelbaren Zwangs: den Kopf und die Gelenke verdrehende Griffe, Faustschläge, Tritte, Schlagstock- und Wasserwerfereinsätze. Unsere Zeitung bildet die Dinge ab; gucken Sie sie sich an!
Dann schiebt der Innenminister kurz einmal sein dominantes Kinn vor und geht zur Tagesordnung über. Das Gefühl der Demütigung, das die Menschen im Wendland empfinden, kennt er nicht.
Seit diesem Wochenende ist aber klarer denn je: Die Bewegung ist wieder da. Ich danke den demonstrierenden Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in Gorleben und anderswo für ihren selbstlosen Einsatz. Ohne sie hätten wir Wiederaufarbeitung, Schnelle Brüter und 100 Atomkraftwerke in Deutschland, ohne sie würden die Atomskandale nicht aufgedeckt. Sie trotzen dem Atomstaat in diesen Tagen. Wer wird ihnen irgendwann einmal das Bundesverdienstkreuz oder, besser, das Bundesverdienst-X verleihen?
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit hier kein falscher Zungenschlag hereinkommt, Frau Kollegin Schröder-Ehlers: Hier wurde gerade so getan, als hätten der niedersächsische Innenminister oder der niedersächsische Umweltminister diesen Castortransport angeordnet. Genehmigt hat ihn das Bundesamt für Strahlenschutz und damit Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Auch dies gehört zur Wahrheit dazu.
An dieser Stelle sage ich, dass ich vor den meisten Demonstranten durchaus Respekt habe. Die meisten von ihnen sind für ihr Anliegen friedlich auf die Straße gegangen. Dass der Transport jedenfalls in weiten Teilen so friedlich verlaufen ist, ist der Taktik des Polizeieinsatzes und vor allem der Besonnenheit der Polizistinnen und Polizisten zu verdanken, die vor Ort im Einsatz waren. Die Polizeien der Länder und die Bundespolizei haben in Gorleben einen ausgezeichneten Job gemacht; ihnen gebührt unser uneingeschränkter Dank.
Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass es auch gewaltbereite Demonstranten gegeben hat. Einige Polizisten sind sogar verletzt worden. Wer Bahngleise unterhöhlt oder Polizeihubschrauber mit Signalmunition beschießt, kann mit dem Verständnis des Rechtsstaates nicht mehr rechnen.
Solche Straftaten haben dann nichts mehr mit einfallsreichem Protest zu tun, Herr Wenzel. Das ist schlicht nicht akzeptabel, und es passt vor allem nicht zu den Aussagen der Aktivisten, wie gefährlich der Transport sei. Wer nachts auf fahrende Züge springt - interessanterweise direkt auf die Waggons mit den Castoren -, der missbraucht den Protest, um Krawall zu machen. Dies muss Politik auch deutlich artikulieren.
Aufräumen, Herr Wenzel, muss man auch mit dem Märchen, dass es jetzt zu einer Renaissance der Antiatomkraftbewegung gekommen sei.
An der Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung haben vor einigen Wochen in Berlin mehr als 100 000 Menschen teilgenommen. Auch dies gehört zur Wahrheit dazu, Frau Kollegin Staudte.
In Gorleben - das ist richtig - ist diesmal mehr als vor zwei Jahren demonstriert worden. Wer aber so tut, als sprächen die Demonstranten für 80 Millionen Bundesbürger, liegt voll neben der Spur.
Die Menschen in Deutschland wollen vor allen Dingen Klarheit. Sie erwarten zu Recht von uns, der Politik, dass wir das Problem der Endlagerung nicht weiter aussitzen. Die Grünen wollten zu ihrer Regierungszeit im Bund angeblich mit dem AKEnd die Endlagersuche von Neuem beginnen. Diesen Prozess hat Herr Trittin dann politisch gestoppt. Auch Herr Gabriel spricht dauernd von alternativen Standorten; genannt hat er bisher keinen.
Meine Damen und Herren, es geht Ihnen nicht darum - das muss man ganz deutlich sagen -, die Endlagerfrage zu lösen. Ihnen geht es vielmehr darum, sie in Deutschland nicht zu lösen.