Protokoll der Sitzung vom 14.11.2008

(Jens Nacke [CDU]: Das ist nicht wahr!)

Zweitens. Sehr bald schon folgen den geburtenstarken die geburtenschwachen Jahrgänge. Die schon jetzt bestehenden Engpässe, vor allem beim Nachwuchs an Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, werden sich weiter verschärfen. Laut OECD kommen in Deutschland auf 100 Ingenieure in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen nur noch 90 Ingenieure in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen. Scheiden die älteren Ingenieure demnächst aus, können sie nicht alle ersetzt werden und kann schon gar nicht ein zusätzlicher Bedarf gedeckt werden. Im OECD-Durchschnitt liegt das Verhältnis zwischen älteren Ingenieuren und Berufseinsteigern übrigens bei 100 zu 190.

Drittens. In Niedersachsen ist der Nachholbedarf besonders groß. Niedersachsen hat im Bundesvergleich nicht nur ein unterdurchschnittliches Qualifikationsniveau seiner Beschäftigten. Während bundesweit fast jeder zehnte Beschäftigte einen Hochschulabschluss hat, ist es in Niedersachsen nur jeder 14. Mit dem Aufholen wird es

schwierig; denn Niedersachsen hält auch die rote Laterne in der Hand, wenn es um die Studierquote geht, die aussagt, wie viele junge Männer und Frauen eines Altersjahrgangs ein Studium beginnen. Niedersachsen liegt mit einer Studierquote von 27 % weit abgeschlagen im hinteren Feld. Zum Vergleich: Der Bundesschnitt liegt bei 36 %, der OECD-Schnitt sogar bei 54 %. Auf dem Bildungsgipfel wurde eine Akademikerquote von 40 % als Zielmarke vereinbart. Davon sind wir hier noch meilenweit entfernt.

Meine Damen und Herren, die stille Reserve der qualifizierten Berufstätigen könnte helfen, die Lücke zu füllen. Wir sind also gut beraten, ein Studium auch für Seiten- und Quereinsteiger attraktiver zu machen und die Hochschulen für Berufstätige ohne Abitur zu öffnen. Mit einer solchen Öffnung besteht die Chance, gerade dem Nachwuchsmangel in den MINT-Fächern zu begegnen. Warum sollte eigentlich ein Industriemechaniker nicht ohne Umwege Maschinenbau studieren können, warum eine Elektronikerin in Betriebstechnik nicht Informatik?

(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Frau Kollegin Prüssner, natürlich gibt es auch jetzt schon die Möglichkeit, ohne Abitur zu studieren. Und es stimmt: Niedersachsen ist hier führend. Was in Bayern und Baden-Württemberg noch diskutiert wird, ist bei uns längst im Hochschulgesetz verankert. Meister, Techniker und Betriebswirte können in Niedersachsen an allen Hochschulen studieren, und zwar alle Fachrichtungen. Frau Prüssner, Ihr Antrag ist in diesem Punkt übrigens ein Rückschritt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das nicht die CDU, sondern die sozialdemokratische Vorgängerregierung durchgesetzt hat, und zwar gegen den erbitterten Widerstand der CDU hier im Hause.

(Beifall bei der SPD)

Aber wir sind nicht nachtragend, im Gegenteil.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Aber wir vergessen nichts!)

- Wir vergessen nichts, aber wir freuen uns auch über Ihre neuen Einsichten. Diese Freude wird auch nicht dadurch getrübt, dass die blanke Not Ihr Lehrmeister ist.

Meine Damen und Herren, die Öffnung der Hochschule für beruflich Qualifizierte ist ein Gebot ökonomischer Vernunft, doch es reicht nicht aus, die

Durchlässigkeit nur im Gesetz zu verankern. Schauen wir uns die Zahlen an: Nur 1 % der Studierenden hierzulande hat es ohne Abi an die Uni geschafft. So waren an der TU Braunschweig unter den insgesamt 11 000 Bewerbern für einen Studienplatz zum vergangenen Wintersemester gerade einmal 48 Berufstätige ohne Abitur. Das ist eine ernüchternde Bilanz.

Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften appellieren an die Bundesländer, die Anzahl der Quereinsteiger mindestens zu verfünffachen. Dass das möglich ist, stellen wir fest, wenn wir uns in Europa umsehen. In Ländern wie England und Wales oder Estland beträgt ihr Anteil mehr als 15 %, in Spanien oder der Schweiz sind es 9 %, in Norwegen und Schweden 8 %.

Meine Damen und Herren, wie erreichen wir eine bessere Durchlässigkeit? - Das Wichtigste, was wir brauchen, ist eine veränderte Lehr- und Lernkultur an unseren Universitäten. Studierende, die nicht über das klassische Abitur an die Hochschulen kommen, sind in der Regel älter, kommen oft aus Facharbeiterfamilien und sind aufgrund ihrer Bildungsbiographie nicht mit der Lernkultur an Hochschulen vertraut. Für diese Studierenden bedarf es besonderer Angebote an den Hochschulen. Wir brauchen mehr echte Teilzeitstudienangebote sowie einen Ausbau des Fernstudiums, und wir brauchen vor allem das berufsbegleitende Bachelorstudium, um Studium und Beruf unter einen Hut bringen zu können.

(Beifall bei der SPD)

Denn welches kleine mittelständische Unternehmen, meine Damen und Herren, lässt schon gern seinen Systemelektroniker für zwei, drei Jahre aus der Firma zum Studieren an die Uni? - Deshalb macht man es sich zu einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, die Öffnung allein in die Regie der Hochschulen zu geben und zu sagen „Dann macht mal!“, wie Sie es tun.

Hochschulen müssen Anreize erhalten, damit sie sich mit neuen Studienangeboten für diese Klientel öffnen. So geht Großbritannien den Weg, pro nicht klassisch Studierendem mehr staatliche Gelder zu gewähren - ein Anreiz, der auch bei uns Wirkung zeigen könnte.

Unstrittig ist, dass die Anrechnung beruflicher Qualifikationen auf das Studium ausgebaut werden muss. ANKOM ist ein erster richtiger Schritt, weitere müssen folgen.

Ebenso brauchen wir aber eine verbesserte Studienfinanzierung. Die Altersgrenze beim BAföG muss von jetzt 30 Jahren deutlich angehoben werden. Davon steht in Ihrem Antrag leider nichts.

Doch wir wollen die Hochschulen nicht nur für Gesellen öffnen, meine Damen und Herren. Wir, die SPD, wollen mehr. Die SPD will auch neue Wege aus der Berufsausbildung ins Studium gehen. Vorbild ist für uns die Schweiz, die ein ähnliches System der dualen Ausbildung kennt wie wir. In der Schweiz besteht für junge Menschen in der dualen Ausbildung die Möglichkeit, ausbildungsbegleitend an der Berufsschule die Berufsmatura, also das Berufsabitur, zu erwerben, die dann zum Hochschulzugang berechtigt. Auch wir wollen, dass junge Menschen in Niedersachsen die Möglichkeit erhalten, ihre Lehre sowohl mit einem Berufsabschluss als auch mit einem Berufsabitur als zweiten Regelabschluss abzuschließen.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das Berufsabitur soll ein zusätzliches Angebot sein, das es natürlich nicht zum Nulltarif geben wird. Will man keinen Etikettenschwindel betreiben, muss mehr Allgemeinbildung - konkret: mehr Deutsch, Englisch und Mathematik - in den Berufsschulunterricht gebracht werden. Die Berufsschulen, mit denen ich darüber gesprochen habe, sind dazu bereit. Auch Betriebe müssen es sein; denn kluge Betriebe wissen: Investition in den Nachwuchs lohnt sich.

(Beifall bei der SPD)

Einige Betriebe - und es werden immer mehr - haben dies längst begriffen. So bietet die BMWGruppe schon seit über zehn Jahren an ihren Standorten in Bayern Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit an, in nur drei Jahren sowohl eine berufliche Erstausbildung, z. B. als Industriemechaniker oder -mechatroniker, als auch die Fachhochschulreife zu erwerben. Dies ist ein äußerst erfolgreiches Programm; denn von neuen Bildungswegen profitieren alle: Auszubildende profitieren von der höheren Bildungsmobilität und von größerer Chancengleichheit. Die Wirtschaft, insbesondere das Handwerk, profitiert von der höheren Attraktivität der dualen Ausbildung. Facharbeiterbiografien gelten nicht länger als berufliche Sackgassen. Letztlich profitiert die Gesellschaft von mehr Akademikern. Es gibt also nur Gewinner!

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Bildungswege nicht länger als Sackgassen zu konzipieren, ist die wohl

größte Herausforderung an das Bildungssystem. Dies setzt ein grundlegendes Umdenken in den Köpfen voraus. Nicht mehr das klassische Abitur allein darf der Königsweg an die Universität sein, sondern es geht auch um die duale berufliche Ausbildung. Allgemeine und berufliche Ausbildung müssen endlich als gleichwertig anerkannt werden. Dies ist ein uraltes sozialdemokratisches Bildungsziel.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Wir hoffen sehr, dass in der Ausschussberatung „Butter bei die Fische“ kommt; denn nur den Minister zu lobpreisen, Frau Kollegin, ist zu wenig, obwohl er es in diesen Tagen gut gebrauchen könnte.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Die nächste Rednerin ist Frau Dr. Heinen-Kljajić von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich auf den Antrag selbst eingehe, erst einmal ein paar Worte zum Projekt Offene Hochschule: Es ist richtig, dass Niedersachsen seit langer Zeit Vorreiter bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen beim Hochschulzugang ist. Die Kollegin Andretta hat ja schon auf die historischen Zusammenhänge hingewiesen. Trotzdem ist der Handlungsbedarf in Bezug auf gesetzliche Regelungen - sowohl im Hochschulgesetz als auch im Hochschulzulassungsgesetz - ungebrochen groß.

Hinzu kommt, dass nur wenige Menschen, die nach der Gesetzeslage schon heute die Möglichkeit hätten, ohne Abitur an die Hochschule zu gehen, diese Möglichkeit tatsächlich nutzen. Selbst da, wo dies von Betrieben positiv flankiert wird - etwa bei der Firma Alstom, bei der es dazu einen einschlägigen Haustarifvertrag gibt -, ist es ein mühsames und zähes Geschäft, junge Menschen ohne Abitur an die Hochschulen zu bringen. Deshalb unterstützen wir erst einmal grundsätzlich jede Initiative, die hier Abhilfe schaffen will.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Programm ANKOM, das hier schon häufig zitiert worden ist, hat aus unserer Sicht an der richtigen Stelle angesetzt; denn die Anerkennung

beruflich erworbener Kompetenzen verkürzt nicht nur das Studium und mindert damit übrigens auch die Kosten der Ausbildung, sondern die Anerkennung erworbener Kompetenzen nimmt auch die Angst, den Anforderungen eines Studiums vielleicht nicht gewachsen zu sein. Deshalb ist es aus unserer Sicht richtig und begrüßenswert, dass ab dem Haushalt 2009 die Fortführung der ANKOMProjekte im Rahmen des Projekts Offene Hochschule abgebildet ist.

Flankierend brauchen wir aus Grünen-Sicht an dieser Stelle aber nicht nur formale Regularien, die die Durchlässigkeit zur Hochschule für Nichtabiturienten ermöglichen, sondern wir brauchen auch eine flächendeckende Bildungs- und Lernberatung; denn nur wer die Möglichkeiten der Hochschulzugänge kennt und über die Finanzierungsmöglichkeiten Bescheid weiß, wer die Verwertbarkeit einer Bildungsmaßnahme auf dem Arbeitsmarkt einschätzen kann und seine Fähigkeiten und Kompetenzen richtig einschätzen kann, der wird auch in die Lage versetzt, eine kluge Bildungsplanung zu machen. Zu diesem Thema haben wir einen eigenen Antrag eingebracht, den wir demnächst im Ausschuss beraten können.

Ansonsten gilt auch bei der offenen Hochschule, meine Damen und Herren von CDU und FDP, liebe Frau Prüssner, dass zusätzliche Hürden jedes noch so gut gemeinte Anwerbeprogramm für ein Hochschulstudium konterkarieren. Bei lebenslangem Lernen jenseits des 30. Lebensjahres kann das Studium an einer niedersächsischen Hochschule ein teurer Spaß werden, weil nämlich das Hochschulgesetz keine Möglichkeit sieht, ein Studienbeitragsdarlehen an über 30-Jährige zu vergeben. Übrigens gibt es auch keine Möglichkeit mehr, BAföG zu beziehen. Es gibt zwar ein Aufsteigerstipendium des BMBF. Dies sieht aber nur 1 000 Stipendien vor - ein Tropfen auf dem heißen Stein. Darüber hinaus gibt es - dies hat Frau Prüssner schon erwähnt - schlicht nicht genügend Studiengänge, die berufsbegleitend studiert werden können.

Damit komme ich ganz kurz auf Ihren eigentlichen Antrag zu sprechen. Ich kann verstehen, dass man in mageren Zeiten nach jedem Strohhalm greift, mit dem man die Arbeit des eigenen Ministeriums ins positive Licht rücken kann. An dieser Stelle ist es ja eine „saubere“ Bilanz. Sie aber haben einen Antrag eingebracht, der überhaupt keine eigenen Vorschläge der Fraktionen enthält. Er lässt sich in den Nrn. 1 und 3 auf die Parole „Weiter so!“ reduzieren und formuliert in der Nr. 2 eine Selbstver

ständlichkeit, wenn die Landesregierung aufgefordert werden soll, zu prüfen, inwiefern Hochschulgesetz und Hochschulzulassungsgesetz an das besagte Konzept Offene Hochschule angepasst werden müssen.

Bedauerlicherweise enthält Ihr Antrag nicht einen einzigen konkreten Vorschlag vonseiten der Fraktionen, wie das Konzept Offene Hochschule wirklich vorangebracht werden kann, obwohl die Herausforderungen - ich habe dies nur an einigen wenigen beispielhaften Punkten aufzeigen können - tatsächlich noch sehr groß sind.

Aber vielleicht können wir ja die Beratungen im Ausschuss dazu nutzen, uns mit den bisherigen Ergebnissen der vier ANKOM-Projekte, also Oldenburg, Lüneburg, Hannover und Braunschweig, zu beschäftigen, uns einmal berichten zu lassen und dies dann zu bewerten. In der Hoffnung, dass Sie sich diesem Ansinnen anschließen können - dies entnehme ich Ihrem Nicken -,

(Jens Nacke [CDU]: Das ist eine sehr gute Idee!)

sind wir auf die Ausschussberatungen gespannt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die Fraktion DIE LINKE hat Herr Perli das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier ist in der Tat ein sehr wichtiges Thema aufgegriffen worden; denn der Hochschulzugang ist eine entscheidende Stellschraube im deutschen Bildungswesen. Jedoch - dies ist nicht weiter überraschend - kommt der Antrag viel zu weich und ungenau daher. CDU und FDP scheinen keine eigenen Ideen zu haben. Deshalb beauftragen sie die Landesregierung.

Ich möchte an dieser Stelle kurz die Überlegungen unserer Fraktion zur Verbesserung des Hochschulzugangs darlegen. Zuerst gilt es festzuhalten, dass die formalen Voraussetzungen Niedersachsens eine sehr gute Ausgangslage bieten, die sich auch erheblich besser darstellt als in anderen Bundesländern. Daran hat übrigens auch der Sozialist Peter von Oertzen einen kleinen Anteil.

(Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE] - Karl-Heinz Klare [CDU]: Nehmt ihr den jetzt auch schon für euch ein? Das wird ja immer schlim- mer!)

Etwa 2,5 % aller Studienanfänger in Niedersachsen kommen über den dritten Bildungsweg zum Studium. Diese Quote liegt zwar über dem Bundesdurchschnitt. Aber wie heißt es so schön schaurig? - Der Einäugige ist König unter den Blinden.