Protokoll der Sitzung vom 15.01.2009

Die internationale Finanzmarktkrise ist ein mahnendes Beispiel für den Schaden, der für das Gemeinwohl entsteht, wenn Märkte unreguliert sich selbst überlassen bleiben. Die Marktideologie von Konservativen und Liberalen ist endgültig gescheitert. Trotzdem erzählt uns Herr Rösler hin und wieder noch das Märchen von der belebenden Steuersenkung, obwohl eine solche Maßnahme, wie in vielen Fällen nachzuvollziehen ist, eher zum Ruin von Staatsfinanzen führt.

(Beifall bei der SPD - David McAllister [CDU]: Sie senken in Berlin jetzt doch die Steuern!)

Wir wollen eine neue europäische und internationale Finanzmarktarchitektur mit klaren politischen Verkehrsregeln.

(Zuruf von der CDU: Sie haben die al- te ja erst einmal zerstört!)

Die Selbstbehauptung Europas im ersten wirklich globalen Jahrhundert setzt politische Handlungsfähigkeit voraus, getragen von demokratischen Bürgerrechten und der Legitimität der demokratischen Institutionen.

(Zuruf von der CDU: Nur Schlagworte!)

Deshalb wollen wir - das sage ich, um entsprechender Polemik gleich vorzubeugen -, dass der Vertrag von Lissabon bald in Kraft tritt. Hier unterscheiden wir uns von der Linkspartei ganz deutlich. Ich will Ihnen zugestehen, dass wir uns natürlich nicht über jeden einzelnen Punkt des LissabonVertrages freuen. Durch ihn wird die Europäische Union aber demokratischer, weil das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente stärkere Rechte erhalten. Europa wird durch effizientere Entscheidungsstrukturen handlungsfähiger. Es wird bürgernäher, und durch die im Vergleich zu allen anderen vorherigen Verträgen stärkere Verankerung von sozialen Rechten wird es auch sozialer.

Herr Tanke, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Dr. Sohn?

Herr Dr. Sohn!

Herr Kollege Tanke, wir sind uns ja sicherlich darüber einig, dass man nicht jedem Aspekt zustimmen muss. Stimmen Sie mir aber darin zu, dass die Frage von Frieden und Krieg kein Nebenaspekt ist?

Herr Tanke!

Frieden ist nie ein Nebenaspekt. Bei der Abwägung aller Punkte, Herr Dr. Sohn, habe ich eben aber aufgezeigt, warum ein Europa, das regierungsfähiger werden muss, durch den LissabonVertrag dafür die Grundlagen bekommt. Das ist der überragende Aspekt des Vertrages. Deshalb stimmen wir ihm zu.

(Beifall bei der SPD)

Mit Ihrer Zwischenfrage haben Sie mir insofern ein gutes Stichwort gegeben, als wir im Gegensatz zu Ihnen durch unsere Forderungen die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages nicht behindern wollen. Sie stellen ja nachträgliche Änderungsforderungen. Ich will Ihnen auch ein schönes Beispiel dafür nennen, was alles möglich ist. Der Europäische Rat hat im Dezember beschlossen, dass, sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren ein Beschluss gefasst wird, wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Europäischen Kommission angehören wird. Dies ist ja das Zugeständnis an Irland. Wir denken, wenn die geschilderte Besetzung der Europäischen Kommission möglich ist, muss auch die von uns geforderte Einführung der Fortschrittsklausel möglich sein, die den sozialen Schutz der Menschen gewährleisten soll. Deswegen bitten wir um Ihre Zustimmung.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Tanke. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Frau Kollegin Polat das Wort. Bitte!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute in der ersten Beratung über den Antrag der Fraktion der SPD „Europas Zukunft sozial gestalten - Für eine solidarische Erneuerung Europas“. Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass wir seit Beginn dieser Legislaturperiode viel öfter als in den Perioden davor Europa auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt haben. Das begrüße ich ausdrücklich. Wir überlassen dieses Feld nicht nur der Landesregierung. Dafür erst einmal herzlichen Dank.

Grundsätzlich ist zum Antrag der SPD zu sagen, dass wir als Fraktion die Stoßrichtung und die Kritik in dem Antrag richtig finden. Herr Tanke hat bereits angesprochen, dass die Sozialstaatlichkeit - so ist es auch im Antrag dargestellt - in Europa Tradition hat. Europa und insbesondere das Europäische Parlament versuchen ja, das europäische Sozialmodell zu entwickeln. Auf europäischer Ebene wird genauso wie in den nationalen Parlamenten diskutiert, ob man soziale Standards verankern soll und, wenn ja, in welcher Form. Ich denke, das ist immer noch der strittige Punkt. Die jeweiligen Fraktionen wissen von ihren auf europäischer Ebene in Brüssel und in Straßburg politisch tätigen Kollegen, dass die Fraktionen dort hinsichtlich dieses strittigen Punktes eine sehr uneinheitliche Linie vertreten. Die Schweden z. B. würden auf jeden Fall sagen, Sozialpolitik sollte nicht in Europa stattfinden. Deutsche Politiker und auch Politiker aus anderen Ländern würden dagegen beispielsweise sagen, dass wir ausdrücklich die Verankerung von Sozialpolitik auf europäischer Ebene brauchen.

Ich finde, dass die Unterschiedlichkeit der sozialen Systeme auf jeden Fall die Qualität des europäischen Sozialmodells ausmacht. Sowohl das angelsächsische als auch das skandinavische System haben ihre Berechtigung. Nichtsdestotrotz brauchen wir verbindliche Standards. Ich möchte hier darauf hinweisen, dass wir im Lissabon-Vertrag natürlich eine Sozialklausel haben. Dort sind soziale Standards verankert. Allerdings beschreiben Sie richtig - auch das muss ich hier natürlich festhalten -, dass die Urteile des EuGH in der Rechtssache Viking und Laval sowie insbesondere in der Rechtssache Rüffert, über die wir hier im Parlament schon diskutiert haben, ein Übergewicht von wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes gegenüber verbindlichen sozialen Standards und Rechten aufgezeigt haben. Diese Gerichtsentscheide haben ein so negatives Bild von Europa

gezeichnet, dass sich viele Menschen gerade aufgrund dieser Sozialpolitik gegenüber Europa skeptisch zeigen. Von daher ist dies natürlich auch ein Ansatzpunkt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Deswegen halten wir es ausdrücklich für richtig, dass diese Landesregierung nicht nur Lobbypolitik für bestimmte Interessen macht, sondern auch für die Sozialpolitik in Europa.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Reinhold Coenen [CDU]: Na, da müssen Sie aber vorsichtig sein!)

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle aber auch festhalten: Das Europäische Parlament hat - das geschah fraktionsübergreifend - die Rechtsprechung gerade in Sachen Rüffert kritisiert und auch einen konkreten Vorschlag unterbreitet, indem gesagt wird: Die Entsenderichtlinie hat Interpretationsspielraum gegeben und damit dieses Urteil zur Konsequenz gehabt. Die Entsenderichtlinie muss dementsprechend sicherstellen, dass - wie Herr Tanke gesagt hat - das Prinzip gilt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. - Eine entsprechende Revision ist gerade vom Europäischen Parlament und vom Ausschuss für Soziales und Beschäftigung gefordert worden.

Es gab auch einen gelungenen Bericht des Berichterstatters Andersson, dem in großen Teilen alle Fraktionen bis auf die Linke im Europäischen Parlament abgeschwächt zugestimmt haben. Ich meine, wir als Parlament sollten diesen Prozess unterstützen und dies mit einem entsprechenden Auftrag an die Landesregierung verbinden.

Über die Verankerung einer sozialen Fortschrittsklausel im EU-Primärrecht würde ich gerne im Ausschuss diskutieren; denn es ist die Frage, was genau verankert werden muss bzw. wie das im laufenden Prozess der Ratifizierung, der ja in Deutschland schon abgeschlossen ist, nachgeholt werden soll. Das wäre für mich an dieser Stelle die entscheidende Frage. Ich freue mich auf die Beratungen, auch was den Antrag der Linken zur Erhöhung der Wahlbeteiligung angeht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN sowie Zustimmung bei der SPD)

Danke schön, Frau Polat. - Für die CDU-Fraktion hat Frau Kollegin Pieper das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass die beiden Anträge vorliegen, ist bestimmt eine gute Sache. Aber meiner Meinung nach kommen sie zu spät; denn wir sind, was die Erhöhung der Wahlbeteiligung angeht, schon auf einem sehr guten Wege.

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Das se- hen wir dann im Juni!)

Mit diesem Part werde ich mich jetzt befassen. Den anderen Part wird mein Kollege Herr Matthiesen übernehmen.

In dem uns vorliegenden Entschließungsantrag der Linken geht es darum, die Wahlbeteiligung bei der Europawahl zu erhöhen. Natürlich können wir das alles unterstreichen. 40 % und mehr sind für uns nicht das Ziel, sondern 50 oder 60 %. Aber das wäre wahrscheinlich utopisch. Wir sollten alles daransetzen, um dieses Ziel zu erreichen.

Aber liest man in Ihrem Entschließungsantrag weiter, dann fragt man sich: Moment mal, haben wir etwas falsch verstanden, oder wie ist das? - Sie fordern z. B. ein Konzept zur Erhöhung der Wahlbeteiligung. Prima, sagen wir, wunderbar. Aber warum fordern Sie das Konzept jetzt?

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Weil jetzt Wahlen sind!)

Denn durch die zwischen Bund, Europa und Ländern getroffenen Absprachen unter dem Vorsitz von Niedersachsen ist diese Forderung bereits erfüllt. Deswegen brauchen wir das nicht mehr zu fordern.

(Beifall bei der CDU)

Des Weiteren fordern Sie ein Konzept des Europäischen Informations-Zentrums über geplante Maßnahmen. Dazu bedarf es jedoch keiner Aufforderung mehr. Das Konzept liegt bereits mit vielen Beispielen vor.

(Beifall bei der CDU - Kreszentia Flauger [LINKE]: Haben Sie den An- trag gelesen, Frau Pieper?)

- Ja, ich habe das gelesen. - In dem Konzept steht z. B. Folgendes:

Erstens. Eine Infokampagne „Meine Stimme für Europa“ ist bereits für das erste Halbjahr, also von Januar bis Juni, durchterminiert und geplant.

Zweitens. Bürgerforen, die Sie ansprechen, zu unterschiedlichen Themen wie z. B. „Was erwartet

das Handwerk von der Europa-Union?“ oder „Europa im Klimawandel“ oder „Asyl- oder Migrationspolitik in Europa“ oder „Wie sozial ist die EU?“ sind schon geplant, und entsprechende Partner stehen vor Ort bereit.

(Beifall bei der CDU)

Ein drittes Beispiel: Veranstaltungen „EU-Bürger zu den EU-Wahlen 2009“ sind ebenfalls für Mai terminiert, und es ließe sich fortsetzen.

Ich kann hier nur feststellen: Das Europäische Informations-Zentrum unter der Leitung von Frau Raddatz hat hier nicht nur gute, sondern sehr gute Arbeit geleistet.

(Beifall bei der CDU)

Ich gehe in Ihrem Entschließungsantrag noch ein Stückchen weiter. Da fordern Sie, das Thema EU verstärkt in den Lehrplänen zu verankern. Auch dies ist bereits geschehen. Zusätzlich haben wir jedes Jahr unseren Europatag, unseren Projekttag in den Schulen. Ich finde, den sollten wir alle begleiten. Wir sollten dort aktiv mitmachen. Wir sollten natürlich auch immer wieder auf die ausgezeichnete Arbeit des Europäischen InformationsZentrums hinweisen.

Dann fordern Sie auch noch, diese Wahl durch Postwurfsendungen, Fernsehspots usw. zu unterstützen. Das, liebe Frau Flauger, ist nun einmal nicht unsere Sache und Aufgabe, sondern das ist die Aufgabe der EU-Institutionen. Hier vermischen Sie leider die Zuständigkeiten zwischen Europa, Bund und Ländern. Wir sollten die Kosten nicht unbedingt dem Land auferlegen.

Kurzum: Wir werden uns im Fachausschuss bestimmt ausgiebig darüber unterhalten. Ich bin schon jetzt auf die Debatte gespannt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)