Protokoll der Sitzung vom 15.01.2009

(Wolfgang Jüttner [SPD]: „Berücksich- tigen“ haben Sie gesagt! Abwägen ist etwas anderes!)

Die Frage ist damit beantwortet. Bei mir sind keine weiteren Fragen eingegangen. Damit ist die Behandlung der Dringlichen Anfragen für heute beendet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Gesundheit und Verbesserung des Schutzes von Kindern in Niedersachsen - Gesetzentwurf der Landesregierung - Drs. 16/755

Zur Einbringung hat Frau Ministerin RossLuttmann das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kein Kind darf uns verloren gehen. Jedes Kind ist auf unser aller Aufmerksamkeit angewiesen. Ich stehe für eine Kultur des Hinschauens. Wir, Gesellschaft und Politik, müssen alles dafür tun, um die Entwicklung unserer Kinder von Anfang an zu fördern und sie von Anfang an umfassend vor Gefährdungen zu schützen und vor allem auch ihre Position in der Gesellschaft zu stärken.

(Zustimmung von Norbert Böhlke [CDU])

Deshalb ist es richtig, dass wir heute den Gesetzentwurf zur Förderung der Gesundheit und Verbesserung des Schutzes von Kindern in Niedersachsen beraten. Der Gesetzentwurf stellt einen weiteren wichtigen Baustein dar, um den Kinderschutz in Niedersachsen weiter zu verbessern.

Selbstverständlich liegt die Verantwortung für ein gedeihliches gesundes fröhliches Aufwachsen unserer Kinder in erster Linie bei ihren Eltern. Deshalb wollen wir starke und kompetente Eltern; denn sie sind der beste Kinderschutz. Wir wollen auch gleiche Startbedingungen für alle Kinder von Anfang an. In Niedersachsen ist bereits eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen worden, um Kindern den bestmöglichen Schutz zu bieten. Einige möchte ich exemplarisch nennen.

150 Familienhebammen unterstützen überforderte Eltern bereits vor der Geburt ihres Kindes. Das

Projekt „wellcome“ unterstützt an über 25 Standorten Väter und Mütter bei der Alltagsbewältigung nach der Geburt ihres Kindes. 280 vom Land initiierte und geförderte Kinderservicebüros sind zentrale Anlaufstellen für Kinder und Eltern, für Familien. Diese Anlaufstellen haben zu einem enormen Schub an gut ausgebildeten Tagesmüttern und Tagesvätern in Niedersachsen geführt. Durch vier Koordinierungszentren Kinderschutz bauen wir Kinderschutzmaßnahmen in den Städten und Gemeinden aus und stimmen vor allem die so wichtigen Handlungsabläufe besser miteinander und aufeinander ab. Der Einsatz von Erziehungslotsen steht kurz vor der Umsetzung.

Wir fördern Kurse zur Weiterbildung zur Kinderschutzfachkraft.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen diese ganzen Hilfsangebote natürlich weiter abrunden und Eltern in Niedersachsen verbindlich zu Früherkennungsuntersuchungen für Kinder einladen. Ich wünsche mir, dass alle Kinder an diesen Untersuchungen teilnehmen.

In seiner Sitzung am 6. Juni 2008 hat der Landtag die Landesregierung gebeten, einen entsprechenden Gesetzentwurf mit dem Ziel, die Früherkennungsuntersuchungen verbindlicher zu gestalten, vorzulegen. Folgende Vorgaben sollten dabei beachtet werden: Eine Nichtteilnahme an den Untersuchungen nach wiederholter Einladung soll Ansatzpunkt für eine helfende Intervention sein. Eltern sollten weder unter einen Generalverdacht gestellt noch dafür bestraft werden, wenn sie mit ihren Kindern nicht an den Untersuchungen teilgenommen haben. Auch soll es keine Zwangsuntersuchungen geben. Das Verfahren für den Austausch von Daten zwischen den beteiligten Stellen muss die Belange des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht ausreichend wahren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der Landtagsbeschluss konsequent umgesetzt.

(Zustimmung bei der CDU)

Zukünftig sollen alle Eltern zentral vom Landesamt für Soziales, Jugend und Familie zur Teilnahme an den jeweiligen Früherkennungsuntersuchungen eingeladen werden. Das Landesamt gleicht dann kontinuierlich die Meldedaten mit den eingehenden Rückmeldungen der Ärztinnen und Ärzte über durchgeführte Untersuchungen ab. Eltern von nicht

untersuchten Kindern erhalten dann noch eine Erinnerung. Geht trotz Einladung und Erinnerung keine Rückmeldung ein, so teilt das Landesamt die Daten der betreffenden Kinder den örtlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe mit, die damit die Möglichkeit zur helfenden Intervention erhalten.

Um nicht missverstanden zu werden: Eine Nichtteilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen ist natürlich nicht gleichbedeutend mit Vernachlässigung und Misshandlung. Aber die Information über die Nichtteilnahme kann in der Gesamtbetrachtung mit weiteren Informationen und Erkenntnissen ein Anhaltspunkt für die Gefährdung des Kindeswohls sein.

Die Jugendämter haben den gesetzlichen Auftrag, das Wohl der Kinder zu schützen, frühzeitig auf die Eltern zuzugehen und ihnen Hilfe anzubieten. Deshalb unser Hinweis, wenn ein Kind nicht teilnimmt. Durch frühzeitiges Erkennen können Risikofamilien mit Hilfen wirkungsvoll unterstützt und mögliche Fälle von Kindesvernachlässigung oder gar -misshandlung weitestgehend verhindert werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einem außerordentlich umfangreichen Anhörungsverfahren haben sich 18 Verbände und Institutionen zu dem Gesetzentwurf geäußert. Im Grundsatz haben ihn alle begrüßt. Insbesondere die Ärzteschaft hat ihre Sorgen hinsichtlich der ärztlichen Schweigepflicht vorgetragen. Ich darf Ihnen versichern, dass der Ihnen nunmehr vorliegende Gesetzentwurf sowohl die Belange des Datenschutzes als auch die der ärztlichen Schweigepflicht wahrt.

Das Land wird für das Einladungs- und Meldewesen rund 2 Millionen Euro jährlich aufwenden. Angesichts gravierender Fälle von Kindesvernachlässigung in der jüngeren Vergangenheit halte ich dieses Gesetz als weitere flankierende Maßnahme des Landes zur Verbesserung des Schutzes von Kindern für unverzichtbar.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön, Frau Ministerin. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Kollegin Staudte das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wollen mehr Kinderschutz - keine Kinder sollen geschlagen, miss

handelt oder vernachlässigt werden -, und wir alle haben in den vergangenen Debatten das verbindliche Einladewesen herbeigeredet. Doch welche sind letztendlich wirklich die richtigen Maßnahmen, um mehr Kinderschutz zu erreichen?

Nicht alle Projekte sind gleichermaßen Erfolg versprechend. Natürlich soll niemand uns Politikerinnen und Politikern vorwerfen können, wir hätten im Kampf gegen Kindesmisshandlungen irgendetwas unversucht gelassen. Aber ich finde auch, niemand sollte uns vorwerfen können, wir hätten sehenden Auges das Richtige gewollt und das Falsche getan.

Wir können die Reaktionen der an der Anhörung beteiligten Institutionen und Verbände nicht einfach ignorieren. Ich schätze das etwas anders ein, als Sie das eben dargestellt haben, Frau RossLuttmann. Grundtenor war stets: Wir haben Zweifel, dass das verbindliche Einladewesen das richtige Instrument ist.

Niemand hat uneingeschränkt zugestimmt: Die Experten der ersten Kinderschutzkonferenz lehnten den Vorschlag rundweg ab. Der Landkreistag wirft die Frage auf, ob es sich nicht um Alibibürokratie handelt. Der Landesbeirat für Kinder- und Jugendhilfe sieht keine zwingende Notwendigkeit für diese Maßnahme. Der Berufsverband der Kinderärzte sieht im Einladewesen ohne weitere unterstützende Maßnahmen keine Effekte. Auch die Wohlfahrtsverbände äußern Unverständnis, warum gerade diese Maßnahme so unterstützt werden soll.

Natürlich ist es gut, wenn jedes Kind auch vor der Einschulung regelmäßig einem Arzt zu Gesicht kommt. Dagegen kann man wirklich nichts haben. Aber ob wir die Kinder erreichen, die wir wirklich erreichen wollen, das bleibt ungewiss.

In den Ländern, die mit dem verbindlichen Einladewesen bereits erste Erfahrungen gemacht haben, kommt es zu jeder Menge Erfassungsfehlern. Viele Kinder sind nicht ordnungsgemäß gemeldet. Es gibt sehr viele weitere technische Umsetzungsprobleme, die schon in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes angesprochen worden sind.

Wir sind der Überzeugung, dass wir die in der Anhörung zur Sprache gekommenen Kritikpunkte ernst nehmen müssen und zunächst mit einem Modellversuch starten sollten. Für alles und jedes gibt es hier in Niedersachsen Modellversuche - warum nicht auch für das verbindliche Einladewesen, das mit so vielen Fragezeichen versehen ist?

Sie schreiben selbst:

„… belastbare Daten, mit denen verlässlich beurteilt werden könnte, ob der verhältnismäßig große Aufwand den gewünschten Erfolg haben wird, liegen jedoch noch nicht vor.“

Bevor wir 13,5 Stellen beim Landessozialamt schaffen und 2 Millionen Euro Kosten beim Land sowie über 2 Millionen Euro Kosten bei den Kommunen verursachen, müssen wir sicher wissen, ob diese Millionen nicht bei anderen Kinderschutzprojekten wie z. B. bei dem Dormagener Modell oder bei den Familienhebammen für mehr Hilfe und Sicherheit für die Kinder sorgen würden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich möchte noch auf einen zweiten Punkt eingehen. Die kommunalen Spitzenverbände haben sehr wohl recht, wenn sie davon sprechen, dass hier die Konnexität greifen müsste. Mindestens 16 000 zusätzliche Hausbesuche durch die Sozialarbeiter der kommunalen Jugendämter sind sehr wohl eine konnexitätsrelevante Standarderhöhung. Die Vermutung liegt nahe, dass die Landesregierung vor Gericht mit diesem Gesetzentwurf Schiffbruch erleiden wird.

Unser Plädoyer ist daher: Es gibt große Zweifel an der Wirksamkeit des verbindlichen Einladewesens. Daher wollen wir erst einen Modellversuch starten. Wenn das verbindliche Einladewesen dann hält, was wir uns davon versprechen, dann muss das Land auch mit den Kommunen in Verhandlungen über Ausgleichzahlungen treten.

Im Übrigen möchte ich wiederholen, was ich im Rahmen der Haushaltsberatungen 2009 gesagt habe: Steigen Sie endlich in die Mitfinanzierung der Personalkosten für die Familienhebammen ein, und drücken Sie sich nicht weiter um die Mitverantwortung für das Gelingen dieser wichtigen, erwiesenermaßen effektiven präventiven Arbeit!

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Danke schön, Frau Staudte. - Für die Fraktion DIE LINKE hat Herr Kollege Humke-Focks das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier heute einen jedenfalls aus unserer Sicht bedeutenden Gesetzentwurf der Landesregierung zu diskutieren. Das sollten wir in aller Ernsthaftigkeit tun. Ich denke, das wird sich in der folgenden Debatte auch erweisen. Denn die sich aus dem Gesetzentwurf ergebenden Fragen im Spannungsverhältnis zwischen verpflichtenden Untersuchungen und einer möglichen Verletzung des Datenschutzes sind unbedingt mit zu bedenken und zu berücksichtigen.

Wenn wir über das Wohl des Kindes reden und Vernachlässigung durch die Erziehungsberechtigten anprangern, dürfen wir allerdings nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausklammern: Hartz IV und Armut in Niedersachsen. Wir haben ja jüngst den Armutsbericht präsentiert bekommen. Im Bundesgebiet leben etwa 2,5 Millionen Kinder in Armut. Diese Zahl spricht eine deutliche Sprache.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Kinderschutzbund sagt, dass Misshandlungen zumeist in Überforderungssituationen geschehen. Genau die gilt es rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Das sehen auch wir so, um es mit aller Deutlichkeit zu sagen, damit es nicht zu Missverständnissen kommt.

Das Leitbild des Kinderschutzes der Linken ist und bleibt allerdings ein vorsorgender und dienstleistender Sozialstaat. Das Aufwachsen muss in Sicherheit erfolgen, unabhängig vom Geldbeutel, um alle Möglichkeiten für Betreuung, Bildung und Erziehung gewährleisten zu können.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich zitiere aus der „Arbeitsgemeinschaft Familie“ unserer Partei:

„Wir sprechen uns für einen Sozialstaat aus, der gegenüber Kindern und Familien mit möglichst wenig Sanktionsdrohungen und Pflichten auskommt und der stattdessen durch bedarfsdeckende Sozialleistungen sowie durch zuverlässige und beitragsfreie Infrastrukturprogramme das Kindeswohl sichert. Die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung würde eine Sozialpolitik einschließen, die die millionenfache Kinderarmut in die Geschichtsbücher verbannt.“