Der Gesetzentwurf ist nicht bürgerfreundlich. Im Widerspruchsverfahren konnten sich Bürger und Behörde zuweilen noch einigen; zumindest konnte man eine gewisse Akzeptanz erreichen. Jetzt muss man direkt zum Gericht gehen, und das stellt gerade für Menschen mit kleinem Geldbeutel mehr und mehr eine Hürde dar. Das ist nicht nur bürgerunfreundlich, sondern das ist auch noch unsozial.
Es ist im Übrigen ein Märchen, dass die Abschaffung der Widerspruchsverfahren nicht zu einer zusätzlichen Belastung der Gerichte geführt haben soll. Ich verweise nur auf Ihre eigenen Zahlen: Von 2004 bis 2008 ist die Anzahl der Verfahren von 8 000 auf über 12 000 gestiegen.
Herr Schünemann, man kann Ihnen allerdings nicht vorwerfen, dass Sie die Situation nicht gründlich ausgewertet hätten. Hierzu liegt nämlich ein sehr gründliches und kritisches Gutachten der Leuphana Universität Lüneburg; dieses Gutachten war sehr viel kritischer, als Sie es dargestellt haben. Die Auswertung dieses Gutachtens soll mit dem Gesetzentwurf umgesetzt werden. So haben Sie es jedenfalls geschrieben. Schaut man sich den Gesetzentwurf aber genauer an, stellt man fest, dass Sie genau das nicht tun.
Die Gutachter haben Ihnen empfohlen, eine ganze Reihe von Rechtsgebieten von dieser Regelung wieder auszunehmen und das Widerspruchsrecht bei kommunalen Steuern und Abgaben, im Wohngeldrecht, bei der Studienplatzvergabe, bei der Ausbildungsförderung und im Kinder- und Jugendhilferecht wieder einzuführen. In Ihrem Gesetzentwurf lesen wir davon aber nichts. Mithin stellt sich schon die Frage, warum Sie so viel Geld für ein Gutachten ausgeben, wenn Sie die Ergebnisse anschließend überhaupt nicht ernst nehmen.
Die SPD-Fraktion hat zu diesem Thema bereits im Mai einen Antrag mit sehr konstruktiven Vorschlägen in den Landtag eingebracht. Wir haben das Gutachten sehr gründlich gelesen und uns seine Empfehlungen zu Eigen gemacht. Jetzt müssen wir leider feststellen, dass die Regierung über
haupt nicht bereit ist, einen konstruktiven Dialog zu führen. Stattdessen soll eine mangelhafte vorläufige Regelung in eine mangelhafte Dauerregelung überführt werden. Das ist weder ein Beitrag zur Bürgerfreundlichkeit noch ein Beitrag zur Modernisierung unserer Verwaltung. Das geht einfach nach dem Motto: Augen zu und durch.
Die SPD geht deshalb sehr kritisch in die Ausschussberatungen zu diesem Gesetzentwurf. Wir wollen alle Betroffenen, auch die Gutachter, noch einmal zu diesem Thema hören. Ein Durchpeitschen dieses Gesetzentwurfs zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger wird es mit uns nicht geben.
Frau Präsidentin! Ich freue mich natürlich sehr darüber, dass der Innenminister in seinem Redebeitrag gerade gesagt hat, man will weg vom Obrigkeitsstaat und hin zum Dienstleistungs- oder Verhandlungsstaat. Wir werden ja gleich einen Gesetzentwurf zur Regelung der Informationsfreiheit einbringen. Dem werden Sie dann sicherlich zustimmen, Herr Innenminister; weil Sie ja weg vom Obrigkeitsstaat und hin zum Dienstleistungsstaat wollen.
Nun zum Thema des vorliegenden Gesetzentwurfs, nämlich der flächendeckenden Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nach der Evaluierung.
Der Streit darüber, ob das Widerspruchsverfahren überflüssige Bürokratie war oder ein bürgerfreundliches und kostengünstiges Rechtsinstrument für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ist, ist nicht neu. Wir haben ihn in diesem Parlament mehrfach geführt.
Ich erinnere an die umfangreiche Anhörung, die der Rechtsausschuss zu diesem Thema durchgeführt hat. Damals ist von den verschiedener Seite schon sehr kontrovers beleuchtet worden, ob das Widerspruchsverfahren ein Rechtsmittel ist, das man auf jeden Fall beibehalten sollte, weil es eine wichtige Filterfunktion hat. Diese Auffassung ha
ben in erster Linie die Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter vertreten. Auch ein bayerischer Kommunalbeamter hat gesagt, dass er das als sehr sinnvoll erachten würde. Einige wenige Anzuhörende haben hingegen die Auffassung vertreten, dass das Widerspruchsverfahren abgeschafft werden solle, weil sie sich nicht sicher waren, ob es nicht ein überflüssiges bürokratisches Instrument ist.
Die ehrlichste Antwort hat damals der heutige Präsident des Staatsgerichtshofes, Professor Ipsen, gegeben. Er hat gesagt: Im Prinzip können wir gar nicht so genau sagen, wie das Widerspruchsverfahren wirkt. Wir wissen es schlicht und ergreifend nicht, weil es extrem kompliziert ist, sozialwissenschaftlich zu erheben, ob das Widerspruchsverfahren ein richtiger, wirksamer Filter oder überflüssige Bürokratie ist. Das liegt daran, dass die Gründe für das Anschwellen der Gerichtsverfahren viel zu komplex sind, als dass sie auf eine einzelne Maßnahme zurückgeführt werden könnten. Deswegen wissen wir bis heute nicht genau, ob die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens sinnvoll war oder nicht.
Natürlich, Herr Schünemann, ist es nicht zu einer absoluten Schwemme an den Verwaltungsgerichten gekommen. Das aber liegt daran, dass ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht sehr viel teurer ist als ein bürgerfreundliches und kostengünstiges Rechtsmittel wie das Widerspruchsverfahren. Diese Erklärung ist doch ganz einfach.
Die Verwaltungsgerichtskosten muss man schon im Vorhinein an das Gericht abführen. Herr Kollege Krogmann hat natürlich Recht: Ein sozial schwächerer Bürger wird es sich sehr gut überlegen, ob er vor Gericht geht.
Kurz und gut: Es ist deutlich geworden, dass sich in dieser Debatte eine Menge Fragen stellen, denen wir nachgehen sollten. Ob die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in allen Rechtsgebieten sinnvoll und richtig ist, wie Sie es heute darstellen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Auch dazu ist schon viel Richtiges gesagt worden: Das stimmt schlicht und ergreifend nicht. Das war aber auch nicht das Ergebnis der Evaluation. Die Gutachter haben gesagt, dass Widerspruchsverfahren punktuell sehr wohl Sinn machen.
einführen und in anderen Bereichen, in denen es sich vielleicht tatsächlich komplett überlebt hat, abschaffen. Diese Debatte wünsche ich mir im Innenausschuss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das verwaltungsrechtliche Vorverfahren hat durchaus Sinn. Es ist nämlich eine Chance für die Verwaltung, eigene Entscheidungen noch einmal zu überprüfen, also eine Chance zur Selbstkorrektur der Verwaltung. Der Vorteil ist, dass der jeweilige Vorgang auf einen anderen Schreibtisch kommt und noch einmal von einer anderen Beamtin oder einem anderen Beamten überprüft wird. Dieses Überprüfungsverfahren innerhalb der Verwaltung ist für den jeweiligen Bürger eine durchaus preiswerte Zwischeninstanz, die vor dem eigentlichen Gerichtsverfahren liegt.
Wenn man als Bürger darauf verwiesen wird, gegen einen Bescheid, den man für falsch hält, gleich Klage zu erheben, dann muss man drei Gerichtsgebühren im Voraus einzahlen - und das beim Verwaltungsgericht, wo der Regelstreitwert 5 000 Euro beträgt. Überlegen Sie einmal, was das eigentlich bedeutet. Es bedeutet für viele, dass sie es nicht wagen, den Weg zum Verwaltungsgericht zu gehen. Wenn Sie, Herr Innenminister, sich jetzt darauf berufen, dass die Zahlen nicht ganz so schlimm sind wie ursprünglich befürchtet, dann hängt das natürlich damit zusammen, dass viele sich gar nicht mehr trauen, dieses Prozessrisiko einzugehen, weil ihnen das ganz einfach zu teuer ist.
Sie hätten besser auf die Neue Richtervereinigung oder auf den Verband der niedersächsischen Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter hören sollen, die nämlich durchaus davor gewarnt haben,
Gegen das Votum der wissenschaftlichen Studie - darauf ist schon hingewiesen worden -, die Sie selbst erhoben haben, möchten Sie dieses Gesetz jetzt durchziehen und auch für die Bereiche das Widerspruchsverfahren abschaffen, zu denen die wissenschaftliche Studie gesagt hat, wir sollten es beibehalten.
Das einzige Argument, das Sie dazu vorzubringen haben, ist, dass man den Bürgerinnen und Bürgern in Zweifelsfragen einen sogenannten Zweitbescheid in Aussicht stellen kann, der dann noch einmal überprüft werden mag.
Nur: Diese Zweitbescheidüberprüfung steht lediglich als Kannregelung in Ihrer Vorlage bzw. in der Begründung. Im Übrigen wird derselbe Beamte oder dieselbe Beamtin die Überprüfung vornehmen.
Der Vorteil, den gerade das Widerspruchsverfahren ausmacht, dass die Angelegenheit noch einmal auf einen anderen Schreibtisch kommt, dass noch einmal jemand anders das überprüft, fällt weg.
Deshalb ist es kein Ersatz, was Sie dort vorbringen. Wir brauchen die preiswerte, die erschwingliche Möglichkeit, eine verwaltungsrechtliche Entscheidung überprüfen zu lassen. Dafür ist das Widerspruchsverfahren durchaus geeignet.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte nimmt wahrlich keinen überraschenden Verlauf. Manchmal fühle ich mich an die Diskussionen in den Jahren 2004, 2005, 2006 und 2007 erinnert. Ich stelle durchaus eine gewisse Aufweichung der Positionen fest, wenn ich das beobachte, wenn ich beispielsweise den sehr differenzierten Beitrag des Kollegen Briese nehme. Dieser weist in die richtige Richtung.
Wir haben damals nicht umsonst beschlossen: Wir wollen eine Evaluation, wir wollen sie in einer vernünftigen Zeitschiene, um es vernünftig bewerten zu können. Jetzt liegen die Ergebnisse vor. Ich
habe es mir zur Sicherheit noch einmal aufgeschrieben: Es sind 282 Seiten, 29 Abbildungen und 9 Tabellen.
Ich will das deshalb dem Kollegen Krogmann sagen, weil er offensichtlich eine ganz andere Ausgabe hat. Wenn ich diese Evaluation neben das lege, was uns die SPD-Landtagsfraktion im Jahr 2004 über die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens, über die Modernisierung der Verwaltung und über die Abschaffung der Bezirksregierungen erzählt hat, dann ist dieses Gutachten der Beleg für eine Bauchlandung erster Klasse Ihrer Position und eine Bestätigung der Richtung, die wir dort eingeschlagen haben.
Da Sie, Kollege Krogmann, das Gutachten ja gelesen haben, wissen Sie, dass 174 Rechtsgebiete betrachtet worden sind. In nur 30 von 174 Rechtsgebieten gibt es überhaupt einen nennenswerten Anstieg. Für 5 von 174 Rechtsgebieten sagt die Evaluation: Denkt darüber nach, wie ihr das weiter verbessern könnt.
Das werden wir tun. Wir werden in der Anhörung darüber reden. Wir werden auch darüber reden, welche Wege bisher beschritten worden sind. Ich glaube, in der Argumentation ist manches verrutscht. Man muss nicht gleich zum Gericht. Das, was hier als hehrer Grundsatz früherer Rechtsstaatlichkeit in Niedersachsen dargestellt wird, nämlich dass sich im Widerspruchsverfahren Behörde, Widerspruchsbehörde und Antragsteller geeinigt haben, war im Einzelfall so.